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Karussellspiele

Eigentlich fliegen Bälle nicht um die Ecke - für einen karussellfahrenden Spieler aber doch. Die Zentrifugalkraft lässt auch Kerzenflammen schräg stehen.


Fangball im Karussell: Zwar war ich erst zum Abendvortrag ins Kolloquium geladen, aber die Kollegen in K. hatten mich schon früh am Morgen zu Gesprächen in die Universität bestellt. Nun saß ich im Keller der Mathematischen Fakultät in einem schlichten Karussell, das angeblich wissenschaftlichen Zwecken diente. Der Innenraum von etwa fünf Metern Durchmesser war mit undurchdringlichen Vorhängen gegen die Sicht nach außen abgeschirmt. Eine schmale Sitzbank rund herum sparte nur die Eingänge aus und gab den übrigen Raum zum Experimentieren frei. Mit einem Ball in der Hand nahm mein Kollege M. mir gegenüber Platz, brachte das Karussell durch Knopfdruck in Fahrt und warf mir den Ball zu. Allerdings zielte er nicht auf mich, sondern weit voraus in Umlaufrichtung des Karussells. Der Ball flog auch nicht geradeaus und damit an mir vorbei, wie ich einen Augenblick lang befürchtet hatte, sondern machte einen eleganten Bogen, sodass ich ihn leicht einfangen konnte. Beim Rückwurf machte ich den Fehler, direkt auf Herrn M. zuzuspielen. Mein Ball driftete aus der Zielrichtung ins unerreichbare Abseits.

Auf einem Karussell Fangball zu spielen, ist leichter gesagt als getan; es lässt sich aber lernen. Ein Beobachter, der senkrecht von oben blickt und die Drehung nicht mitmacht, sieht das Karussell mit gleich bleibender Winkelgeschwindigkeit sich um seine Achse drehen und den Ball mit konstanter Horizontalgeschwindigkeit auf einer Sehne durch den Karussellkreis laufen. Mit etwas Trigonometrie aus der Schule (siehe Kasten) lässt sich ausrechnen, mit welcher Geschwindigkeit und unter welchem Winkel der Werfer den Ball abwerfen muss, um den Fänger zu treffen.

Damit der Ball nicht zu Boden geht, ehe er am Ziel ist, muss er mit hinreichend großer Geschwindigkeit fliegen. Sein Flug durchs Karussell darf deshalb nur den Bruchteil einer Sekunde dauern. Unser Auge ist zu träge, in dieser kurzen Zeit Einzelheiten der Bewegung wahrzunehmen, sie lassen sich nur fotografisch in der Zeitlupe verfolgen. In einem Raumlabor, das die Erde als Satellit umkreist, könnte der Ball mit beliebig kleiner Geschwindigkeit fliegen, ohne zu fallen. Unbehelligt von der Erdschwere könnte er auf Schleifenbahnen zum Fänger laufen, oder der Werfer könnte seinen Ball an einem anderen Ort selbst wieder einfangen.

Für den auf dem Karussell mitfahrenden Beobachter fliegen Bälle auf krummen Wegen und bei kleiner Ball- (oder großer Karussell-) Geschwindigkeit sogar Ehrenrunden um die Karussellachse. Solche Schleifenbahnen sind genauso "wirklich" wie die links und rechts herum drehenden Luftwirbel, als die Hoch- und Tiefdruckgebiete auf der Wetterkarte erscheinen. Auch in Bezug auf die Erde fliegt kein Ball genau geradeaus, selbst wenn er ideale Kugelform hat und kein Hauch ihn aus der geraden Bahn weht. Die Erde ist selbst ein Karussell, ihre Drehung nur zu langsam, um beim Ballspielen einen messbaren Effekt zu haben. Als Léon Foucault 1851 die Drehung der Erde in seinem berühmten Pendelversuch im Pariser Panthéon sichtbar machte, war dies eine große Sensation.

Das Kerzenkarussell: Wie brennt eine Kerze, die Karussell fährt? Bleibt ihre Flamme aufrecht, oder neigt sie sich unter dem Einfluss der Zentrifugalkraft zur Seite wie die Ketten eines fahrenden Kettenkarussells? Beim Spiel mit runden schweren Bällen kann die Luft außer Betracht bleiben, weil sie die Bälle auf dem kurzen Weg durchs Karussell weder merklich bremsen noch ablenken kann. Aber eine Kerze kann zur Ernährung ihrer Flamme nicht auf den Sauerstoff verzichten, der ihr von unten durch den Zustrom frischer Luft nachgeliefert wird, wenn die heißen Verbrennungsgase nach oben wegströmen. Wie weit wirkt die Umgebungsluft in das Karussell hinein? Verursacht sie einen Fahrtwind, vor dem das mitreisende Licht geschützt werden muss wie Lichter, die im Freien stehen?

Solche Bedenken veranlassten mich, für ein Experiment ein besonderes Kerzenkarussell zu bauen. Es besitzt nur einen einzigen drehbaren Arm, auf dem etwa vierzig Zentimeter von der Drehachse die Kerze steht, umgeben von einem offenen Plexiglaszylinder, in den durch Öffnungen am Boden von unten Luft einströmen und aus dem oben die Verbrennungsgase ausströmen können, ohne dass das zarte Flämmchen vom Fahrtwind gezaust oder gar ausgeblasen wird. Dieses "minimale" Karussell wird aus der Entfernung über eine lange Kette mit einer Handkurbel angetrieben. So kann man beim Spielen die Drehzahl nach Belieben regeln. Wagen Sie eine Prognose: Neigt sich die Flamme? Wenn ja ? nach innen oder nach außen?

Meine Erklärung stützt sich auf die Annahme, dass die Gasströmung um die Kerze in einem fahrenden Karussell bei konstanter Drehzahl im Wesentlichen die gleiche ist wie in einem stehenden ? mit dem Unterschied, dass außer der nach unten gerichteten Schwerkraft die nach außen gerichtete Zentrifugalkraft wirkt. Ihre resultierende Kraft wirkt schräg nach unten und außen in die Richtung, in der die Ketten im fahrenden Kettenkarussell hängen (Bild links oben). Die Kerzenflamme stellt sich in die Gegenrichtung der scheinbaren Schwerkraft ? nach innen.

Dreht sich das Mini-Karussell mit einer Drehzahl von einem Umlauf pro Sekunde, ist die Schieflage der Kerzenflamme von fast sechzig Grad deutlich zu sehen. Da die Abgase der Kerze in Bewegung sind, sollte die Flamme theoretisch auch durch die Corioliskraft abgelenkt werden, und zwar in Fahrtrichtung. Der Effekt ist aber bei der geringen Konvektionsgeschwindigkeit zu klein, um beobachtbar zu sein.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 2001, Seite 106
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
  • Infos
Ein Java-Applet zum Kettenkarussell findet sich unter ->http://home.a-city.de/walter.fendt/phys/karussell.htm.

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