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Anthropologie: Kaspar Hausers Geschwister - Auf der Suche nach dem wilden Menschen

Deuticke, Wien 2003. 330 Seiten, € 24,90


Kaspar Hauser ist nur der prominenteste Mensch, der ohne Sozialisation durch Familie und Gesellschaft aufwuchs. Immer wieder einmal wird auch von anderen solchen Schicksalen berichtet; doch geraten sie schnell wieder in Vergessenheit. Wer hat sie je gezählt? Wie viele "Geschwister" hat Kaspar Hauser?

P. J. Blumenthal, Wissenschaftsjournalist und langjähriger Autor unter anderem bei "P.M.", stellt in seinem Buch an die hundert Fälle von Menschenkindern vor, die allem Anschein nach ohne normalen Kontakt zu anderen Menschen aufwuchsen oder zumindest über längere Zeit lebten. In akri­bischer Recherche durchforstete er die alten Mythen und Fabeln; Berichte aus heutiger Zeit fanden ebenfalls Eingang in die Fall­beschreibungen. Heraus kam die bis jetzt wahrscheinlich vollständigste Sammlung von Geschichten über "wilde Menschen" – oder solche, die dafür gehalten wurden.

Lassen Sie sich von dem Vorwort nicht abschrecken! Das hohle Wortgeklingel von Elfriede Jelinek ist nicht repräsentativ für das Buch. Vielmehr zeigt Blumenthal, wie spannend und fesselnd die Darstellung menschlicher Schicksale auch in sachlicher Berichtsform sein kann. Umfangreiche Zitate aus den Originalquellen vermitteln so viel vom jeweiligen Zeitgeist, dass manche Urteile und Ereignisse aus der Vergangenheit dadurch plötzlich verständlich werden; die Anmerkungen Blumenthals geben weitere Hilfestellung und Erläuterung. An der sauberen, überaus fleißigen Quellenarbeit zeigt sich der gelernte Altphilologe. Vielleicht waren viele dieser vorgeblich wilden Menschen gar nicht ohne Kontakt mit anderen Menschen aufgewachsen, sondern schlicht ausgesetzt worden oder verloren gegangen, weil sie unter Autismus, Schwachsinn oder einer anderen psychischen Erkrankung litten. Wer diese Menschen fand und sich um sie kümmerte, konnte sich dann ihr befremdliches Verhalten nicht anders als durch eine "wilde" Vergangenheit erklären.

Es gibt auch "moderne" wilde Menschen, bei denen es gelang, die Vergangenheit zumindest in groben Zügen aufzuklären. Auch hier stellt sich die Frage, inwieweit ihr Zustand durch eine geistige Schwäche zumindest mitbegründet war. So wurde 1970 in Los Angeles ein 13-jähriges Mädchen entdeckt, das noch nie sein verdunkeltes Zimmer verlassen hatte. Die Tage verbrachte "Genie", wie sie später genannt wurde, fast bewegungslos gefesselt an ein Kindertöpfchen, die Nächte fest verschnürt in einem Schlafsack in einem vergitterten Kinderbett. Nach ihrer Befreiung wurde sie zu einem begehrten Forschungsobjekt; als sich jedoch keine neuen Erkenntnisse und Entwicklungsfortschritte mehr zeigten, verloren die meisten das Interesse an ihr. Sie geriet in Vergessenheit und wanderte zeitweise von Pflegestelle zu Pflegestelle. Nach vielen Auf und Abs lautete der letzte Kommentar über sie, "ein gestörter Mensch sei sie geblieben, doch immerhin munter ...". Bei Genie war im Alter von einem Jahr ein Kernikterus (Gehirnschädigung durch Bilirubin) diagnostiziert worden, wohl verursacht durch eine Rhesusfaktor-Unverträglichkeit zwischen Mutter und Kind. Auf diese Art geschädigte Kinder weisen im späteren Leben unterschiedlich schwere motorische und psychische Schäden auf. Wie sich Genie entwickelt hätte, wenn sich ihr normale Lebenschancen geboten hätten, wird man niemals wissen.

Welchem Zweck dient nun diese Sammlung von tragischen Geschichten? Ist es einfach nur ein Kaleidoskop seltsamer und emotional bewegender Biografien? Nicht nur, aber doch in hohem Maße. Blumenthal referiert am Anfang des Buches die Gedanken und Theorien, die berühmte und weniger berühmte Persönlichkeiten zu dem Phänomen "wilde Menschen" geäußert haben. Schlussfolgerungen überlässt er aber dem Leser, der sich dank der Materialfülle immerhin fundierte eigene Gedanken machen kann.

Die romantische Vorstellung eines Jean-Jacques Rousseau, frei vom Einfluss der menschlichen Gesellschaft komme die wahre (gute?) Natur des Menschen zum Vorschein und der "wilde Mensch" könne dafür als Beispiel dienen, wird allein durch die Fallbeschreibungen als irrig entlarvt: Zur Natur des Menschen gehört die menschliche Gesellschaft, und wer sie längere Zeit entbehren musste, ist in erster Linie ein schwer geschädigter Mensch.

Den Autor selbst bewegt die Frage, was den Menschen vom Tier unterscheidet und wo Parallelen zu finden sind. Von der Idee, die seine Untersuchung leitete, nämlich dass das Studium der wilden Menschen helfen könne, die Grenzen zwischen Mensch und Tier zu überbrücken oder wenigstens zu ergründen, nimmt Blumenthal am Schluss des Buches Abschied. "Man kann also getrost davon ausgehen, dass der Homo ferus in der Tat existiert, auch wenn er nur selten die strengen Kriterien der Wissenschaft auf Wiederholbarkeit ganz erfüllen wird. Ob er uns Auskunft geben kann über die Parallelen zwischen Mensch und Tier, ist aber zweifelhaft, auch wenn dies der tiefere Sinn unserer Studie sein soll."

Was aber ganz zweifelsfrei für Blumenthal ist: Er hat ihn im Laufe seiner Untersuchungen zumindest dann und wann gefunden, den wahrhaft wilden Menschen.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 2003, Seite 104
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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