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Keine Gleichberechtigung im Quarksee

Kollisionsexperimente an mehreren Teilchenbeschleunigern haben dem gängigen Modell der Protonenstruktur einen Stoß versetzt. Sie beweisen, daß sich im See der virtuellen Quarks innerhalb des Wasserstoffkerns mehr down- als up-Formen tummeln – eine bislang unerklärliche Asymmetrie.


Vor 35 Jahren postulierten Murray Gell-Mann und George Zweig, daß alle Elementarteilchen, die der starken Kraft unterliegen – also insbesondere die Protonen und Neutronen der Atomkerne –, aus noch fundamentaleren Partikeln bestehen: den Quarks. Sie bestimmen die Quantenzahlen wie Ladung und Spin (Eigendrehimpuls) des zusammengesetzten Teilchens. So besteht das Proton aus zwei up-Quarks mit je einer positiven elektrischen Elementarladung von 2/3 und einem down-Quark mit der Ladung minus 1/3. Analog ist das Neutron aus zwei down-Quarks und einem up-Quark aufgebaut.

Zusammengehalten werden die Quarks durch spezielle "Klebeteilchen" – sogenannte Gluonen (nach englisch glue für Leim). Sie begleiten die Quarks, ähnlich wie ein Magnetfeld jeden Magnetpol umgibt. Ebenso wie keine magnetischen Monopole existieren, kommen Quarks nicht frei in der Natur vor – sie sind vielmehr stets gebunden, meist in Zweier- oder Dreiergruppen.

Inzwischen ist klar, daß es drei Familien von Quarks gibt; die zweite und dritte Familie sind am Aufbau unserer Welt aber praktisch nicht beteiligt und haben nur subtile Rückwirkungen auf das physikalische Verhalten der ersten Familie. Zu dieser gehören die up- und down-Quarks, aus denen die Protonen und Neutronen bestehen.

Zusätzlich zu diesen sogenannten Valenzquarks gibt es in einem Nukleon (Proton oder Neutron) allerdings einen sogenannten Quarksee aus virtuellen Quark-Antiquark-Paaren, die nur sehr kurzzeitig im Gluonfeld erzeugt werden. Die Zusammensetzung dieses Quarksees ermöglicht wichtige Tests theoretischer Modelle für den Aufbau des Nukleons. Entsprechende Experimente werden am Europäischen Teilchenphysik-Forschungszentrum CERN, am Beschleuniger HERA bei DESY in Hamburg und am Fermilab bei Chicago durchgeführt.

Die bisherigen Nukleonenmodelle gehen davon aus, daß im Quarksee gleich viele virtuelle up- und down-Quarks vorliegen. Zwar ist keine Symmetrie bekannt, die eine solche Gleichverteilung erfordern würde; doch gab es bisher auch keine gegenteiligen experimentellen Ergebnisse. Deshalb ist die Gleichverteilung Bestandteil von Anwendungen der sogenannten Quantenchromodynamik, der heute allgemein anerkannten Form der Quantentheorie der starken Wechselwirkung. Neueste Resultate zeigen nun jedoch eindeutig, daß der Quarksee mehr down- als up-Antiquarks enthält.

Eines dieser Resultate kommt von der HERMES-Kollaboration, der fast 200 Physiker von 32 Instituten angehören (Bild). Bei ihren Experimenten wurden Positronen (Antiteilchen der Elektronen), die im Speicherring HERA des Deutschen Elektronensynchrotrons (DESY) in Hamburg zirkulieren, mit 27,5 Milliarden Elektronenvolt Energie auf Deuterium- oder Wasserstoffkerne geschossen. Durch Untersuchung der tief-inelastischen Streuung dieser Positronen läßt sich der Quarksee in den Nukleonen des Targets erforschen. Eine vergleichende Analyse der Streuexperimente an den Wasserstoffkernen, die nur aus einem Proton bestehen, und den Deuteronen, die zusätzlich ein Neutron enthalten, liefert Aussagen über die Struktur dieses Sees.

Mit der tief-inelastischen Streuung von Elektronen war in den frühen siebziger Jahren die Existenz der Valenzquarks bestätigt worden. Damals zeigte sich, daß ungewöhnlich viele Elektronen stark abgelenkt wurden. Dies zwang zu dem Schluß, daß die Kernteilchen eine komplexe innere Struktur aus punktförmigen Partikeln haben, deren Eigenschaften mit den von Gell-Mann und Zweig postulierten Quarks im wesentlichen übereinstimmen.

Zum Verständnis der jüngsten Resultate muß man den Streuvorgang etwas genauer betrachten. Beim Aufprall eines Elektrons (oder Positrons) auf ein Quark erfährt dieses – ähnlich wie ein Billardball – einen Rückstoß. Bevor es jedoch das Kernteilchen verlassen kann, wird es durch die starke Wechselwirkung im Gluonenfeld an ein Antiquark aus dem Quarksee gebunden: Es entsteht ein freies Pi-Meson, das davonschießt und im Detektor ein Signal erzeugt.

Bei hochenergetischen Zu-sammenstößen stieben sehr viele solche Mesonen in einer Vorzugsrichtung davon; man spricht von einem Jet (Strahl). Das "schnellste" Meson mit dem höchsten Impuls enthält das Quark aus dem ursprünglichen Aufprall. Nun besteht ein positiv geladenes Pi-Meson aus einem up-Quark und einem down-Antiquark, ein negativ geladenes Pi-Meson dagegen aus einem down-Quark und einem up-Antiquark. Die Ladung des schnellsten Mesons verrät demnach, welcher Quark-(oder Antiquark-)Typ im Kernteilchen getroffen worden ist.

Gleichzeitig mißt man den Impuls des gestreuten Positrons und bestimmt, welcher Impulsübertrag auf das getroffene Quark stattgefunden hat. Ist dieser Übertrag, bezogen auf den Impuls des Nukleons, größer als ungefähr 0,25, war das Quark mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Valenzquark, das einen quasi-elastischen Stoß erhalten hat; bei kleinerem Anteil kommen dagegen jene inelastischen Streuungen an Seequarks hinzu, denen das Hauptinteresse bei den genannten Untersuchungen galt.

Aus dem Verhältnis zwischen positiven und negativen Pi-Mesonen ließ sich im HERMES-Experiment die Differenz der down- und up-Antiquark-Verteilungen im Quarksee bestimmen. Sie sind für den gesamten Bereich des Impulsübertrags, der in dem Experiment berücksichtigt wurde, größer als null: Stets gibt es im Protonen-Quarksee mehr down- als up-Antiquarks (Physical Review Letters Bd. 81, S. 5519).

Eine ähnliche Ungleichverteilung fand auch die NuSea-Kollaboration am Tevatron-Beschleuniger des Fermilab bei Chicago, die aus 45 Physikern von elf US-amerikanischen Instituten besteht (Physical Review Letters, Bd. 80, S. 3715). Dort hat man einen hochenergetischen Protonenstrahl auf Wasserstoff- und Deuteriumtargets gelenkt und mehr als 140000 resultierende Myonenpaare untersucht. Aus den Ergebnissen läßt sich ebenfalls das Verhältnis der virtuellen down- zu up-Antiquarks im Proton bestimmen. Resultat: Die down-Antiquarks sind deutlich in der Überzahl.

Die Abhängigkeit der Quarkverteilung vom Impulsübertrag stimmt beim NuSea- und beim HERMES-Experiment ausgezeichnet überein. Schon im Jahre 1991 hatte die NA51-Kollaboration am CERN das Verhältnis der Verteilungen bei einem bestimmten Wert des Impulsübertrages gemessen – mit vergleichbarem Resultat. Aus den Ergebnissen der drei völlig unabhängig voneinander experimentierenden Gruppen folgt zweifelsfrei, daß die Antiquarkverteilungen im Quarksee des Protons asymmetrisch in bezug auf den Quark-Typ (Flavour) sind.

Diese Erkenntnis ist aus Sicht der theoretischen Teilchenphysik nicht nur unerwartet, sondern bisher auch nicht zu erklären. Deshalb dürften Bemühungen um eine Theorie der Nukleonenstruktur auf der Basis der Quantenchromodynamik neue Impulse erhalten. Ein möglicher Erklärungsansatz für den Überschuß an down-Antiquarks im Protonen-Quarksee wäre, daß es darin außer Gluonen und virtuellen Quark-Antiquark-Paaren auch virtuelle Pi-Mesonen geben könnte, unter denen die positiv geladenen überwiegen.

In gewissem Sinne wäre dies ein Rückgriff auf frühere Theorien der starken Wechselwirkung. Hideki Yukawa hatte 1935 Mesonen als Trägerteilchen der starken Wechselwirkung postuliert. Zwölf Jahre später wurden sie von Cecil Powell und Mitarbeitern experimentell als Pi-Mesonen identifiziert und blieben für viele Jahre die Grundlage von Theorien der starken Wechselwirkung. Erst mit der Formulierung des Quarkmodells und der Quantenchromodynamik in den sechziger und siebziger Jahren wurden die-se Vorstellungen verworfen. Die jetzigen Messungen im Quarksee könnten es aber notwendig machen, die einstigen Ideen zu den Pi-Mesonen auf neue Weise in die Theorie der starken Wechselwirkung zu integrieren


Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1999, Seite 20
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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