Expedition: Killer-Seen
Zwei Seen in Kamerun setzten in den achtziger Jahren tödliche Gaswolken frei, denen mehr als 1700 Menschen und ungezählte Tiere zum Opfer fielen. Da sie jederzeit wieder ausbrechen könnten, versuchen Wissenschaftler nun im Wettlauf mit der Zeit eine weitere Tragödie zu verhindern.
Als Mohammed Musa Abdulahi am Samstagmorgen aufwachte, konnte er seinen rechten Arm weder spüren noch bewegen. Er hatte sich nicht wohl gefühlt, erinnerte er sich, und war ins Schulgebäude gegangen, um sich hinzulegen, anstatt sich um die jüngeren Schüler zu kümmern, wie er das sonst manchmal tat. Wie lange das her war, wusste er nicht. Mit seinem schlaff herabhängenden Arm erhob er sich mühsam und stieß mit der Fußspitze einen Freund an, der ebenfalls hereingekommen war, um sich etwas auszuruhen. Dieser fuhr hoch, schrie aus nicht erkennba-rem Grund auf und rannte davon.
Beunruhigt eilte Abdulahi aus dem Schulgebäude. Draußen umfing ihn eine unheimliche Stille. Noch schrecklicher war der Anblick, der sich ihm nach wenigen Schritten bot: Die Straßen und Plätze seines Heimatdorfes Subum im Nordwesten Kameruns waren mit Leichen übersät. Menschen lagen reglos auf dem Boden, als ob sie beim Spaziergang oder mitten im Gespräch urplötzlich umgekippt wären. Die Hunde waren tot. Das Vieh war tot. Vögel und Insekten waren von den Bäumen gefallen.
Abdulahi hastete zu seinem Elternhaus – nur um festzustellen, dass seine gesamte Familie ausgelöscht war: Seine Brüder und Schwestern, sein Vater und dessen zwei Frauen waren allesamt tot. Für einen kurzen Moment schöpfte er ein wenig Hoffnung. Als er einen der Säuglinge berührte, begann der zu weinen. Abdulahi versuchte das Kind hochzunehmen, doch wegen seines leblosen Armes gelang ihm das nicht. So drehte er sich eine Schlinge aus Stoff. Aber als er das Baby wieder berührte, lebte es ebenfalls nicht mehr.
"Es ist furchtbar, ohne Familie zu sein", sagt er heute. "Was du auch tust, du fühlst dich nicht ganz richtig." Abdulahi erzählt mir seine Geschichte, während wir am Südufer des Nyos-Sees sitzen. Es ist derselbe See, der am Donnerstag, dem 21. August 1986, gegen Abend eine erstickende Gaswolke ausspie, die alle elf Mitglieder von Abdulahis Familie sowie mindestens 1700 weitere Menschen tötete. Und er könnte jederzeit wieder explodieren. Abdulahi ist zum ersten Mal nach dem schrecklichen Geschehen zurückgekehrt, bei dem er zwei Tage im Koma gelegen hatte, was ihn aus irgendeinem Grund rettete. Heute ist er ein hoch gewachsener junger Mann von 29 Jahren. "Es ist nicht so, dass ich beschlossen hatte, nicht zurückzukehren", sagt er in seiner ruhigen Art. "Doch jetzt ist es einfach Schicksal."
In der Tat sind es seltsame Umstände, die Abdulahi mit jenem internationalen Forscherteam zusammengebracht haben, das nach Kamerun gekommen ist, um die tickende Zeitbombe zu entschärfen, die der See noch immer darstellt. An diesem Nachmittag ist Abdulahi zu Fuß von der Stadt Eseh zum See hinunter gegangen. Mit seinem gelbbraunen Mantel, der schwarzen Hose und dem schwarz-weiß karierten Hemd ist er eine adrette Erscheinung in dem Chaos, das am Ufer herrscht: Messgeräte, Zubehör für den Bau von Flößen, Schlauchboote, Zelte, Kühlgeräte, räudige Hunde, Hühner, die bald im Kochtopf landen werden, und hektische, ungewaschene Wissenschaftler sowie eine ungepflegte Journalistin – umringt von einigen Dutzend Neugierigen aus der Umgebung. Einen Tag zuvor hatte ein Fahrer, der unterwegs war, um das Team am Nyos-See zu treffen, in der Stadt Bamenda nach dem Weg gefragt und Abdulahi als Führer aufgegabelt. Und so fand sich der Überlebende der einstigen Katastrophe nur eine Woche, nachdem er einen Fernsehbericht über die Ankunft des Teams in der Hauptstadt Yaoundé gesehen und sich gefragt hatte, wie er dazustoßen könnte, als Projektteilnehmer zeltend am Ufer des Nyos-Sees wieder.
Für die Mitglieder des Teams markierte die Ankunft in Yaoundé im Oktober 1999 einen neuen Anlauf in dem seit 1986 andauernden Bemühen, den Nyos-See von dem gefährlichen Gas zu befreien, das sich an seinem Grund ansammelt, bevor er vielleicht wieder explodiert und weitere zigtausend Menschen tötet. An sich ist eine solche Entgasung technisch unkompliziert und als vorbeugende Maßnahme gegen eine Naturkatastrophe relativ simpel und preiswert. Doch sie tatsächlich durchzuführen hat sich als erstaunlich schwierig erwiesen. Trotz der offensichtlichen Dringlichkeit des Problems und der einzigartigen Gelegenheit, eine Naturkatastrophe zu verhindern, wurde in all den Jahren so gut wie nichts getan, um die Menschen am Nyos-See zu schützen.
Schuld daran trugen unter anderem die Politik, mangelnde finanzielle Unterstützung (wegen der eher reaktiven als präventiven Ausrichtung einiger Hilfsorganisationen) sowie Kommunikationsprobleme. Obwohl einige dieser Schwierigkeiten immer noch nicht ausgeräumt waren und beunruhigend im Hintergrund dräuten, schien es in Yaoundé doch so, als wenn endlich etwas passieren würde.
Der Nyos-See liegt idyllisch inmitten von Ackerland, grünen Hügeln und steil aufragenden Felsformationen. An dem Nachmittag, als Abdulahi eintrifft, wirkt er grau und ist spiegelglatt, als könne er kein Wässerchen trüben; doch in der Tiefe herrscht geisterhafte Aktivität. Vor etwa 500 Jahren schuf ein Vulkanausbruch hier einen Krater, an dessen Boden ein Magmapfropfen zurückblieb. Der Pfropfen kühlte ab, und die Senke darüber füllte sich 210 Meter hoch mit Wasser. Weltweit sind in Vulkangebieten zahlreiche Kraterseen zu finden – doch gibt es anscheinend nur zwei, die jemals explodiert sind und Menschenleben gefordert haben. Bei dem anderen handelt es sich um den nur 95 Kilometer südöstlich gelegenen Monoun-See.
Kohlendioxid (CO2), das vulkanischer Aktivität in großen Tiefen entstammt, steigt hoch, bis es auf Grundwasser unter dem Krater trifft. Es löst sich darin und gelangt mit ihm und den enthaltenen Mineralen in den Nyos-See, wo es sich in den bodennahen Wasserschichten anreichert. Die meisten Kraterseen werden von Zeit zu Zeit umgewälzt, wobei die tieferen Schichten an die Oberfläche gelangen. Dort kann das enthaltene Gas in die Atmosphäre entweichen, ohne Schaden anzurichten. Doch der Nyos- und der Monoun-See wälzen sich nicht um. Die Grenze zwischen mineralreichem Tiefenwasser hoher Dichte und frischem Oberflächenwasser geringer Dichte, Chemokline genannt, ist bedenklich stabil.
Eine tickende Zeitbombe
In den beiden Seen in Kamerun bleibt das Kohlendioxid also in der Tiefe gefangen. Es reichert sich dort so lange an, bis irgendein Faktor – kräftige Winde oder Sturmböen, die interne Wellen in der Schichtung anregen, kühlere Witterung, die Teile des Oberflächenwassers absinken lässt, oder ein Erdrutsch oder Erdbeben – einen Teil des Tiefenwassers dazu bringt aufzusteigen. Das Kohlendioxid, das nun nicht mehr durch den hydrostatischen Druck in Lösung gehalten wird, perlt wie beim Öffnen einer Mineralwasserflasche aus; es steigt in Blasen auf und reißt dabei noch mehr Tiefenwasser mit. Man nimmt an, dass dieser Prozess sich durch resonanzartige Schwingungen aufschaukelt. Aus einigen Gasbläschen entsteht ein gewaltiges Schäumen und Brausen. Schließlich explodiert das stark gashaltige Wasser wie Sekt, der nach kräftigem Schütteln entkorkt wird. Eine gewaltige Wasserfontäne erhebt sich, die am Nyos-See 80 Meter Höhe erreichte. Das Kohlendioxid entweicht als unsichtbare Gaswolke. Da es anderthalbmal so viel wiegt wie Luft, sammelt es sich am Boden, "fließt" zu tiefer gelegenen Stellen und erstickt alles Leben unter sich.
Dieses hier vereinfacht dargestellte Modell des Gasausbruchs stammt von dem Physiker Klaus Tietze aus Celle. Er stellte es – ebenso wie einen ersten Entgasungsplan – 1987 auf der Unesco-Konferenz vor, die nach der Nyos-Katastrophe in Yaoundé stattfand, und nannte es "Limnisches Fontänen-Eruptionsmodell". Tietze bestimmte auch als Erster die Gassättigung des Nyos-Sees in Abhängigkeit von der Tiefe. Wie er herausfand, verläuft die Sättigungskurve nicht gleichmäßig, sondern weist im Bereich der Chemokline deutliche Spitzen auf. Wenn nun die Gassättigung im Bereich der Spitzen schon nahe an 100 Prozent heranreicht, genügt bereits eine interne Welle oder eine andere geringe Störung, um die Spitzen so weit anzuheben, dass das Wasser in diesem Bereich kurzzeitig übersättigt wird. Das erklärt, wie es in einem größtenteils untersättigten See dennoch zu einem Gasausbruch kommen kann.
Bei der Explosion des Monoun-Sees am 15. August 1984 wurden 37 Menschen getötet. Der Ausbruch des größeren und tieferen Nyos-Sees hatte noch verheerendere Folgen. Die Gaswolke wälzte sich mit geschätzten 72 Kilometern pro Stunde die Hügel hinab und überrollte Täler und Dörfer bis in 20 Kilometer Entfernung. Nach Ansicht des Biologen George W. Kling von der Universität von Michigan in Ann Arbor, der beide Seen eingehend untersucht hat und das Team leitet, zu dem Abdulahi gestoßen ist, war das letzte Opfer ein Mädchen, das am Morgen nach der Explosion in eine Schlucht hinabstieg, in der sich das schwere Gas in Bodennähe gesammelt hatte. Abdulahi glaubt, er und sein Freund seien verschont geblieben, weil sie in dem Raum trotz der offenen Tür vor der vollen Wirkung des Gases geschützt waren. Während der zwei Tage im Koma lag er die ganze Zeit auf seinem rechten Arm. Der wurde dadurch so lange mangelhaft durchblutet, dass er mehrere Monate nicht benutzbar war. Abdulahi glaubt, das Gas hätte den Verstand seines Freundes getrübt; das passt zu Berichten über Orientierungsschwierigkeiten bei vielen Überlebenden.
Der Nyos-See ist offensichtlich eine Zeitbombe. Nach neuesten Berechnungen von Kling und dem Chemiker William C. Evans vom Geologischen Dienst der USA enthält er mit 0,4 Kubikkilometern Kohlendioxid bereits wieder mehr als doppelt so viel von dem gefährlichen Gas wie die 0,17 Kubikkilometer, die während der Explosion 1986 freigesetzt wurden. Bei einem erneuten Ausbruch könnte auch der brüchige Damm oder die Überlaufrinne am Nordrand des Sees zerstört werden. Die Flutwelle würde sich vermutlich bis nach Nigeria ergießen und 10000 Menschen ertränken oder obdachlos machen.
Obwohl nach der Katastrophe etwa 3500 Bewohner aus der Umgebung des Sees an relativ sichere Stellen umgesiedelt wurden, hat die Fruchtbarkeit der evakuierten Region inzwischen wieder viele Menschen angezogen. Maisfelder grenzen im Süden an das Ufer. In den Hügeln rund um den See weidet Vieh, beaufsichtigt von Hirten des Fulani-Volkes. Und Anfang der neunziger Jahre setzte das Institut für Zoologische und Tiermedizinische Forschung Kameruns in einem unkontrollierten Experiment Süßwasserbarsche der Gattung Tilapia in dem bis dahin fischlosen See aus. Die Barsche gediehen – mit unbekannten Folgen für das Ökosystem – und boten den Menschen einen weiteren Anreiz, an das Gewässer zu ziehen. Angesichts von Landnot und spärlichen Erwerbsmöglichkeiten haben die verarmten Bewohner des Gebiets kaum eine andere Wahl, als sich den trügerisch harmlos wirkenden Fluten des Nyos-Sees wieder zu nähern.
Zum Glück dürften die enormen Schwierigkeiten, diese reizvolle Gegend zu erreichen, zumindest Außenstehende von der Gefahrenzone fern halten. Andererseits erschwert die abgeschiedene Lage auch alle Bemühungen, das Gewässer zu untersuchen und zu entgasen. Fünf Tage nach unserer Ankunft in Yaoundé setzen wir uns mit vier Fahrzeugen Richtung Nyos-See in Bewegung. Zehn von uns nehmen in zwei mit Fahrern gemieteten Geländewagen Platz: Evans; Kling und seine Assistentin Karen J. Riseng; Minoru Kusakabe von der Universität Okayama und vier seiner Kollegen von verschiedenen Institutionen in Japan; Gregory Tanyileke vom Institut für geologische und Bergbauforschung (IRGM) in Kamerun und ich. Die anderen Team-Mitglieder – Tanyilekes IRGM-Kollegen Hubert Mvogo, Jacob Nwalal, Paul Nia und Justin Nlozoa – steuern zwei mit Ausrüstung beladene Lastwagen.
Unterwegs zum Ende der Welt
Auf der Fahrt nach Bamenda passieren wir Laster, auf deren Ladeflächen Hölzer aus den letzten verbliebenen Urwäldern Kameruns gestapelt sind. Wir kommen vorbei an dem faserigen, weißen Fleisch der Maniokwurzeln und an roten, wie Essig riechenden Kakaobohnen, die am Straßenrand zum Trocknen ausgebreitet liegen. Die erste Nacht verbringen wir in einem Hotel und bunkern Vorräte – einschließlich 36 Rollen rosa Toilettenpapier für 14 Personen –, bevor wir am nächsten Tag auf das Ende der geteerten Piste in Fundong zusteuern. (Später ging uns das Mineralwasser aus, Toilettenpapier haben wir immer noch...)
Die einzige Straße, die von dort nach Norden führt, ist grässlich und sorgt so dafür, dass die Gegend um den Nyos-See weitgehend unzugänglich bleibt. Genau betrachtet, handelt es sich um eine Aneinanderreihung von breiten Schlammlöchern, die an trockenen Tagen eine holprige, staubige Fahrspur miteinander verbindet. Auf 13 Kilometern Strecke holpern, schlittern und schlingern wir und bleiben immer wieder stecken. Bei einem Geländewagen bricht eine der Achsschwingen, die für die Bodenhaftung der Räder beim Durchqueren von Schlaglöchern sorgt.
Am späten Nachmittag wird klar, dass wir es – zu Klings maßloser Enttäuschung – nur bis zum Dorf Bafumen schaffen. Die Mitglieder des japanischen Teams sind geistesgegenwärtig genug, ein Haus aufzutreiben, in dem sie für die Nacht unterkommen. Alle anderen schlagen ihre Zelte auf dem Friedhof auf, gleich unterhalb des Denkmals für die Opfer der Nyos-Katastrophe. Der Nyos-See ist nur noch etwa 17 Kilometer entfernt, doch er scheint genauso unerreichbar wie Yaoundé. Und im Dorf kursiert das Gerücht, dass die Brücke auf der Straße nach Eseh weggespült wurde.
Am nächsten Morgen brechen wir mit frischer Zuversicht auf. Die Achsschwinge ist wieder zusammengeschweißt, und die abendliche Kühle hatten wir durch warmes Bier aus dem Ort gemildert. Nachdem wir den ersten Platten des Tages repariert haben, erreichen wir die Brücke. Sie wurde nicht weggespült – jedenfalls nicht ganz: Die linke Seite steht noch, nur die rechte Fahrspur ist abgebrochen und in den Fluss gestürzt. Alle steigen aus den Fahrzeugen, und bald entbrennt eine hochtechnische Diskussion, in der Worte wie Statik, Masse, Geschwindigkeit, Belastung und Gewichtsverteilung hin und her schwirren. Mittendrin springt Mvogo plötzlich in den Versorgungs-Laster namens "Großmutter", über den er gebietet, und braust einfach über die Brücke hinweg.
Später verbringen wir noch etliche Stunden damit, das Ende eines Wolkenbruchs abzuwarten. Doch am Abend haben wir Eseh erreicht und unser Camp errichtet. Dazu mussten wir allerdings die gesamte Bevölkerung des Städtchens anheuern, um unsere Sachen auf dem Kopf über einen steilen und bei Nässe rutschigen Weg sechs Kilometer hinab zum See zu tragen – darunter auch die harten, schweren Koffer, die einige Mitglieder des Teams unpassenderweise gepackt hatten, weil sie dachten, wir würden bis direkt ans Ufer fahren.
In der Mitte des Zeltlagers deponieren wir eine blaue, mit Sauerstoffkanistern gefüllte Kiste: zehn Minuten rettendes Atmungsgas pro Person für nur zehn von uns. Einige versuchen zunächst, ihre Zelte auf einem Hügel aufzuschlagen, damit sie sicherer sind, falls sich der See gerade jetzt zu seiner nächsten Explosion entschließt. Doch das erweist sich als zu schwierig, und mit einer leichten, aber nagenden Beklommenheit in der Magengegend errichten wir unser Lager unten im Hauptcamp.
Die erste Aufgabe am nächsten Tag besteht darin, ein Floß zu bauen. Kling und seine Kollegen hatten nach der Explosion von 1986 mitten im See eine Klimastation auf einer schwimmenden Plattform installiert, um Daten über Temperatur, Wind, Sonnenscheindauer und Regenmenge zu sammeln. Diese Station ist ein Opfer der Witterungseinflüsse geworden und funktioniert nicht mehr. Auch das alte Floß muss ersetzt werden. Zusätzlich will das Team Thermistoren (elektrische Thermo-Widerstände) installieren, die in neun verschiedene Tiefen herabhängen sollen, um den Temperaturverlauf zu überwachen – Temperaturänderungen spiegeln Strömungen und Mischungsvorgänge im See wider. Außerdem gilt es, Sonden hinunterzulassen, die den Druck des Kohlendioxids messen. Erst wenn sich diese Instrumente an Ort und Stelle befinden, wird man gefahrlos über eine größere Entgasung nachdenken können. Jeder Schritt dieses Unternehmens ist zu überwachen, um festzustellen, ob er die Bedingungen im See in gefährlicher Weise verändert.
Das zu bauende Floß muss stabil genug sein, um die neue Klimastation zu tragen und als Verankerung für die verschiedenen Sonden zu dienen. Außerdem soll es, wenn möglich, genügend Platz bieten, dass die Wissenschaftler von ihm aus Probenehmer hinablassen können, um Wasser für die Messung von Kohlendioxidkonzentrationen heraufzuholen. Die Japaner unter Leitung des Ingenieurs Yutaka Yoshida vom Yoshida-Ingenieurberatungsbüro in Iwate nehmen sich der Aufgabe an.
Als Abdulahi zwei Tage später im Camp eintrifft, ist das Floß fertig. Auch die Klimastation haben wir schon zusammengebaut und darauf befestigt. Wir bringen Abdulahi in einem der Zelte unter und leihen ihm ein paar Kleidungsstücke für die Dauer seines Aufenthalts. Am nächsten Tag hilft er Evans und Riseng bei ihrer Arbeit. Die Thermistoren müssen abgewickelt, für bestimmte Tiefen markiert und mit einem Klebeband fest zusammengebunden werden. Zu diesem Zweck schickt Riseng ihre Assistenten mit den langen Kabeln, die fast zum Grund des Sees reichen werden, auf gegenüberliegende Seiten der Maisfelder. Siebzehn Männer verteilen sich zwischen den hellgrünen Pflanzen mit Kabeln über ihren Schultern – der letzte ist am Rand eines Feldes in über 200 Meter Entfernung kaum noch auszumachen.
Abdulahi hilft Riseng beim Abwickeln der Thermistoren. Danach entschließt er sich, eine Fahrt auf den See hinaus zu wagen, wo er zusammen mit Evans und Tanyileke die Anker für das neue Floß überprüft. Die Sonne brennt und blendet. Einige von uns sitzen benommen im Lager herum. Ein Fulani-Mann bringt Avocados als Geschenk. Der Tag zieht sich in die Länge.
Abdulahi kehrt vom See zurück. Er hat jetzt einen der Walkie-Talkies und ist zum Feldkoordinator avanciert, der jedem zu finden hilft, was oder wen er gerade benötigt. Wir sitzen auf einer Ausrüstungskiste und sprechen – zwischen atmosphärisch gestörten Anfragen über den Sender – über seinen Wunsch nach einer Familie. Er hat eine Frau getroffen, die er heiraten möchte und die ihn heiraten will, erzählt er, doch ihre Familie erlaubt das nicht. Sie hoffen auf einen reichen Freier statt eines Elektroingenieurs. (Das ist der Beruf, für den sich Abdulahi vor Jahren entschieden hat.)
Mit der Installation des Floßes, dem Herunterlassen der Instrumente und der Entnahme von Wasserproben haben Kling und seine Kollegen den Anfang für die Entgasungsaktion gemacht, die mit etwas Glück im Januar oder Februar 2001 beginnen wird. In den vergangenen Jahren haben Kusakabe und Yoshida einen Plan zur Entgasung der Seen entwickelt, den die Regierung Kameruns der japanischen Behörde für internationale Zusammenarbeit vorgelegt hat. Danach sollen im Nyos-See zwölf Rohrleitungen in drei verschiedene Tiefen führen; durch sie kann das stark CO2-haltige Wasser aufsteigen – anfangs vielleicht mit der enormen Geschwindigkeit von 320 Kilometern pro Stunde –, um sein Gas freizusetzen. Für den Monoun-See sind drei Rohrleitungen vorgesehen.
Die Machbarkeit des Verfahrens wurde an beiden Seen bereits getestet. Michel Halbwachs von der Universität von Savoyen beschaffte 1992 von der französischen Regierung und der Europäischen Union die Mittel für einen ersten Entgasungstest am Monoun-See. Zusammen mit einigen Kollegen, darunter Tanyileke, ließ er zwei Rohre, eines mit 5 und eines mit 14 Zentimetern Durchmesser, hinunter und saugte per Motorpumpe Wasser vom Grund des Sees an. Wegen des Druckunterschieds stieg nach kurzer Zeit eine sich selbst erhaltende Fontaine gasreichen Wassers in beiden Leitungen auf, und Kohlendioxid entwich. Durch Schließen von Ventilen in den Rohren gelang es, den Vorgang nach Belieben zu unterbrechen.
Nach dem Erfolg des Monoun-Versuchs gab es 1995 einen ähnlichen Test am Nyos-See. Mit finanziellen Mitteln von Gaz de France ließen Halbwachs und Kollegen ein 14 Zentimeter breites und 205 Meter langes Rohr hinab. Diesmal lief jedoch nicht alles so glatt wie am Monoun-See. Als die Fontaine anfing emporzuschießen, hob sich zum Entsetzen der Wissenschaftler die Rohrleitung vom Grund. Zum Glück wurde keine Explosion ausgelöst.
Streit um Entgasungspläne
Halbwachs entwickelte einen anderen Entgasungsplan als Yoshida und Kusakabe. Danach waren lediglich fünf Rohr-leitungen für den Nyos-See sowie ein ferngesteuerter Ein-Aus-Schalter vorgesehen, der via Satellit von Frankreich aus bedient werden konnte. Im Oktober 1999 trafen sich die beiden Wissenschaftler-Gruppen in Yaoundé, um sich auf ein gemeinsames Vorgehen zu einigen. Dies schien gelungen zu sein, doch am darauf folgenden Tag brach der Konflikt bei einem öffentlichen Treffen mit Mitgliedern eines neu gegründeten interministeriellen Entgasungskomitees von Kamerun wieder auf. Halbwachs stellte seinen Plan mit den fünf Rohren vor und Kusakabe seinen mit den zwölf Leitungen. Die Minister waren irritiert von diesem Streit, und für eine kurze Zeit, die sich qualvoll in die Länge zu ziehen schien, sah es so aus, als ob das gesamte Projekt scheitern würde.
Doch schließlich erklärte Henri Hogbe Nlend, Minister für wissenschaftliche Forschung und Technologie sowie Leiter des Komitees, die Meinungsverschiedenheiten für unbedeutend. "Jede Zahl, die jetzt genannt wird, ist falsch, es handelt sich lediglich um Schätzungen", sagte er mit Nachdruck. "Die Technologie, die uns hier erklärt wurde, wird sich weiterentwickeln." Niemand, fügte er hinzu, könne von den Architekten einer Kathedrale verlangen, im Vorfeld eines derartig großen Unternehmens schon Auskunft über letzte Details zu geben.
Immerhin war es eine gewaltige Leistung gewesen, die verschiedenen an dem Projekt beteiligten Ministerien unter einen Hut zu bringen. Ohne ihre gemeinsame Unterstützung würden die Straßen zu den Seen nicht ausgebaut und die angrenzenden Gebiete nicht evakuiert; auch das Militär von Kamerun stünde bei den Entgasungsaktionen nicht mit Sauerstofftanks für den Fall einer Explosion bereit. Da wollte Minister Nlend das Vorhaben nicht in letzter Minute an einem kleinlichen Expertenstreit scheitern lassen. Inzwischen ziehen alle Wissenschaftler wieder an einem Strang.
Diese Auseinandersetzung war ungewöhnlich für eine Gemeinschaft von Forschern, die mehr als ein Jahrzehnt lang im Wesentlichen gut zusammengearbeitet hatten. Anscheinend standen hinter dem Streit nicht so sehr wissenschaftliche Differenzen; denn letztlich sind die Unterschiede zwischen den beiden Entwürfen vernachlässigbar. Die Hauptursache war offenbar mangelnde Kommunikation zwischen den Forschern bei ihren Bemühungen, Geldmittel aufzutreiben. Halbwachs fühlte sich von einem Werk ausgeschlossen, für das er die Fundamente gelegt hatte. Die anderen sagen, sie hätten alle Finanzierungsmöglichkeiten ausschöpfen wollen, dabei aber die ganze Zeit geglaubt, Halbwachs würde mit ihnen gemeinsame Sache machen. "Wir haben immer gedacht, dass alle, die sich um diese Seen Sorgen machen, zusammenarbeiten", sagt Kling.
Die Finanzierung des Projekts zu sichern war in der Tat ein verzweifeltes Unternehmen. Zwei Seen könnten explodieren, Tausende von Menschen sind in Gefahr, und es gibt eine einfache Lösung, die nur etwa eine Million Dollar kostet. Und dennoch. Verschiedene Forscher erhielten zwar Beihilfen von ihren Regierungen oder Institutionen für die Untersuchung der Seen; doch für die Entgasung war kein Geld zu bekommen. So wurde 1992 mit Unterstützung der Unesco und des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen ein Treffen zum Thema Entgasung organisiert. Doch keine der beiden Institutionen bewilligte Geld für das derzeitige Projekt, sagt Kling.
Die Wissenschaftler probierten es mit wenig Erfolg auch über andere Kanäle. Kling und ein Kollege versuchten beispielsweise Ölgesellschaften zu interessieren – die in Kamerun einflussreich sind und lukrative Geschäfte machen. Sie hatten kein Glück. Und noch im Jahr der Uno-Konferenz appellierte Kling an die US-Behörde für internationale Entwicklung (AID). Er erhielt jedoch eine Abfuhr, weil man dort damals nicht geneigt war, Projekte in Kamerun zu unterstützen. Nach der Hilfe für die Opfer gleich nach den Katastrophen "hat AID sich etwas zurückgezogen", erklärt Christina Neal, Geologin der Behörde im Büro für Katastrophenhilfe im Ausland. "Kamerun hat Probleme mit der Demokratie und einer ordentlichen Regierung."
Kusakabes Bemühungen, Geld von der japanischen Behörde für internationale Zusammenarbeit zu bekommen, verliefen gleichfalls im Sande. Einige glauben, die japanische Regierung sei an der Entgasung nicht so interessiert gewesen wie an anderen Projekten in Kamerun. Es gibt allerdings auch die Meinung, dass die Regierung Kameruns, die das Projekt als Hilfsmaßnahme mit höchster Priorität hätte einstufen müssen, um Mittel zu erhalten, sich nicht darauf einigen konnte, weil ein Minister stattdessen einen Brunnen in seinem Dorf favorisiert habe.
Die Politik mag eine Rolle gespielt haben, aber das größere Problem besteht darin, dass viele Hilfsorganisationen dazu tendieren, eher auf Katastrophen zu reagieren als ihnen vorzubeugen. Viele Kenner der Szene haben immer wieder auf die Kurzsichtigkeit dieser Einstellung hingewiesen. Doch sie wurden nicht gehört. Erst kürzlich hätte, sagt Neal, ein Umdenken bei den zuständigen Stellen eingesetzt. Sie verweist auf jüngste Bemühungen um Vorbeugung bei AID und der US-Bundesbehörde für Notfallmanagement.
Neals Interesse für Kamerun und seine Seen sowie ihrer Präferenz für Prävention war es großenteils zu verdanken, dass im Herbst 1999 schließlich 433000 Dollar für Kling und das Team bewilligt wurden. Direkter Anlass war der Ausbruch des Kamerunberges im Frühjahr 1999. Nach diesem Zeichen verstärkter vulkanischer Aktivität in der Region schickte das Büro für Katastrophenhilfe im Ausland John P. Lockwood, der früher beim Geologischen Dienst der USA war und den Nyos-See untersucht hatte, nach Kamerun. Er sollte feststellen, welche Gefahr von dem Gewässer ausging. Unter anderem traf er sich mit Vertretern der US-Botschaft in Yaoundé sowie mit Wissenschaftlern und Ministern aus Kamerun. Als Ergebnis seiner Visite äußerte er die Überzeugung, dass das Büro, wenn es Kamerun wirklich helfen wolle, Geld für die Entgasung der Seen geben sollte.
Obwohl das Projekt jetzt endlich voranzukommen scheint, fühlen sich viele Forscher irgendwie schuldig – als ob sie mehr hätten tun sollen, um die zuständigen Stellen zum Handeln zu bewegen. "Wir Wissenschaftler fragen uns immer noch, ob es ausgereicht hat, einfach Berichte an Gott und die Welt zu schicken", sagt Tanyileke eines späten Nachmittags am Nyos-See. Wir sitzen auf einem Kühlgerät in der Sonne, und die brütende Hitze lastet selbst spät am Tag noch bleiern und betäubend auf uns. "Sie waren nicht alarmierend genug, die Empfänger hochschrecken zu lassen."
Während wir uns unterhalten, trifft eine neunköpfige Delegation aus dem Dorf Nyos ein. Die Männer sind fein herausgeputzt – Hüte, Sonnenschirme, helle Gewänder – und überbringen einen Brief von ihrem Häuptling Fon Tang-Nembong: "Unsere liebe Besucher wir sind sehr sehr glücklich Euch Leute hier in unserem See zu sehen. Wir hier zu sagen willkommen zu Euch allen." Tanyileke beschreibt, was das Team macht und warum. "Jeden Tag kann sich die nächste Eruption ereignen", warnt er und fügt hinzu: "Falls wir irgendetwas tun, was gegen Eure Tradition verstößt, müsst Ihr uns das sagen."
Eine solche Kommunikation ist aus vielen Gründen sehr wichtig – nicht nur für gute Beziehungen. Sie erinnert die Menschen daran, wachsam gegenüber dem scheinbar sicheren See zu sein. Zugleich fördert sie eine positive Einstellung gegenüber der Wissenschaft, von der sich Tanyileke auch eine günstige Wirkung auf seine Pläne erhofft, aus Nyos ein Forschungszentrum zu machen, wenn der See entgast ist.
Ein fatales Gerücht
Und schließlich hilft das Gespräch, ein fatales Gerücht zu bekämpfen. Nach Aussage der Anthropologin Eugenia Shanklin vom College von New Jersey kam es auf, als ein Geistlicher beim Besuch der verwüsteten Orte äußerte, sie sähen aus wie nach der Detonation einer Neutronenbombe. Damit war die Geschichte von der Bombe geboren.
Eine Version besagt, Amerikaner und Israelis hätten sie gezündet, um an Diamanten unter dem See zu gelangen. Nach einer anderen Version legte dagegen ein blonder Friedenskorps-Arbeiter die Bombe, damit anschließend Amerikaner in der Region leben könnten.
Die Gerüchte schaden dem Team – sowie dem Friedenskorps, der US-Botschaft in Yaoundé und vielleicht auch den israelischen Ärzten, die 1986 Katastrophenhilfe leisteten. Außerdem könnten sie die geplante Evakuierung für die Dauer der Entgasungsaktion erschweren, falls einige der genannten Gruppen daran mitwirken. Doch Shanklin findet es verblüffend, wie da ein moderner Mythos aufgekommen ist. In gewisser Weise gleicht er den alten Legenden aus der Region. Eine davon legt den Schluss nahe, dass es schon früher Katastrophen wie die vom Nyos- und Monoun-See in den achtziger Jahren gegeben hat: Ein Mythos des Kom-Volkes spricht von einem See, der plötzlich explodierte und einen Stamm auslöschte.
Die Delegation aus Nyos scheint für ihren Teil nicht misstrauisch gegenüber der Arbeit des Teams zu sein. "Wir sind sehr glücklich, dass Sie hergekommen sind", sagt Tamaki Cheteh. "Jeder in Nyos ist krank wegen dem Gas." Und dann äußert ein Mitglied der Delegation einen Wunsch, der so bemerkenswert ist wie Abdulahis Ausflug auf den See: Der Mann bittet darum, das Wasser probieren zu dürfen, das viele seiner Verwandten getötet hat. Tanyileke bietet ihm etwas von der kohlendioxidhaltigen Probe an, die dicht über dem Grund des Sees entnommen wurde. Abdulahi sieht aus der Nähe zu. Schließlich kommen alle heran und kosten der Reihe nach von dem Nass aus den Tiefen ihres Sees.
Wer das Entgasungsprojekt unterstützen möchte, kann Spenden an das Cameroon Degassing Project, Department of Biology, University of Michigan, 830 N. University, Ann Arbor, MI 48109-1048 schicken.
Literaturhinweise
Rollover in Volcanic Crater Lakes; a Possible Cause for Lake Nyos Type Desasters. Von A. Rice in: Journal of Volcanology and Geothermal Research, Bd. 97, S. 233, 4/2000.
The Deadly Cloud Hanging over Cameroon. Von Sam Freeth in: New Scientist, 15. 8. 92, S. 23.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 2001, Seite 70
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