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Killerwale dezimieren Seeotter

Innerhalb weniger Jahre sind die Bestände des Seeotters im Nordpazifik drastisch geschrumpft – mit verheerenden Folgen für die küstennahen Tangwälder. Schuld tragen vordergründig Killerwale, letztlich aber die immer stärkeren Eingriffe des Menschem in die marinen Ökosysteme.


Seeotter sind ebenso schöne als in ihrem Wesen lustige und spaßhafte, äußerst verträgliche und gesellige Tiere, die in Gruppen auf den Felsen liegen oder sich im Wasser bald spielerisch balgen, bald sich auf dem Rücken liegend schaukelnd treiben lassen." Sympathie klingt aus diesen Worten des deutschen Naturforschers Georg Wilhelm Steller (1709 bis 1746), von dem die erste eingehende wissenschaftliche Beschreibung des Seeotters (Enhydra lutris) überliefert ist. Steller nahm an der Forschungsreise des dänischen Entdeckers Vitus Jonassen Bering (1680 bis 1741) nach Nordostasien teil, mußte mit anderen Expeditionsmitgliedern von 1741 bis 1742 als Schiffsbrüchiger auf den Kommandeurinseln in der Beringsee überwintern und hatte dabei reichlich Gelegenheit, die Tiere eingehend zu studieren.

In neuerer Zeit sind die Seeotter, eine an das Meer angepaßte Marderart, vor allem durch ihren instinktgesteuerten Werkzeuggebrauch berühmt geworden: Sie zertrümmern die Schalen von Muscheln an Steinen, um an den als Delikatesse geschätzten Inhalt heranzukommen; meist legen sie sich dabei den Stein auf die Brust und schlagen die Muscheln mit den Vorderpfoten dagegen. Ihre Hauptnahrung sind allerdings Stachelhäuter, vor allem Seeigel. Der Otter holt die Beutetiere – manchmal zehn oder mehr zugleich – aus fünf bis fünfzehn Metern Meerestiefe herauf und packt sie sich, auf dem Rücken im Wasser schwimmend, auf die Brust. Dann dreht er einen Seeigel nach dem anderen zwischen den Vorderpfoten, wobei die Stacheln abbrechen und der Panzer eingedrückt wird. Die Schale durchbeißt er und leckt den Inhalt auf oder holt ihn mit den Vorderpfoten heraus.

Noch zu Zeiten Stellers lebten die Seeotter in großer Zahl in den ausgedehnten Küstengebieten vom Polarkreis bis Hokkaido und längs der nordamerikanischen Pazifikküste bis hinunter nach Niederkalifornien. Später wurden sie wegen ihres wertvollen und begehrten Pelzes jedoch rigoros gejagt und so bis 1910 fast ausgerottet. Zur Rettung der Tiere schlossen Rußland, England, die USA und Japan 1911 den Beringsee-Vertrag, der den Seeotterfang in einigen Regionen völlig untersagte. So konnten sich die Bestände teilweise erholen.

Obwohl der Seeotter nicht in seinen gesamten früheren Siedlungsraum zurückkehrte, erreichte er in manchen Gebieten um das Jahr 1970 fast wieder die einstige Populationsdichte. Das gilt insbesondere für die Küstengewässer um die Insel Amchitka im Archipel der Aleuten. Damals lebten hier 20 bis 30 Seeotter je Quadratkilometer und konsumierten jährlich etwa 35 Tonnen Nahrung, hauptsächlich Seeigel, Weichtiere, Krebse und Fisch.

Nun wird über einen erneuten, unerwarteten Rückgang dieser Meeressäuger berichtet ("Science", Band 282, Seite 473). James A. Estes und sein Team an der Universität von Kalifornien in Santa Cruz registrierten den Schwund zuerst bei der Aleuteninsel Adak westlich von Alaska. Dort hat die Zahl der Seeotter seit 1990 jährlich um etwa 25 Prozent abgenommen – bis auf ein Zehntel im Jahre 1997. Durch diese Beobachtung alarmiert, zählte die Gruppe von Estes in Zusammenarbeit mit Ökologen vom U.S. Fish and Wildlife Service in Anchorage (Alaska) und mit Wissenschaftlern des amerikanischen Geologischen Dienstes auch die Seeotter von Amchitka und einigen anderen kleinen Inseln; schließlich wurde der ganze ausgedehnte Archipel aus der Luft inspiziert. Wie sich zeigte, sind die Populationen fast überall dezimiert.


Bewahrer der Tangwälder


Dies ist um so bedenklicher, als der Seeotter offenbar eine zentrale Rolle für die Entstehung und Erhaltung eines marinen Lebenraums spielt, der nicht weniger beeindruckend ist als die für ihren Artenreichtumg berühmten Korallenriffe: der küstennahen Tangwälder. Tange sind große Braunalgen, zumeist Laminarien, die viele Meter lang werden können. Sie krallen sich mit wurzelähnlichen Bildungen am felsigen Meeresboden fest. Ein längerer Stiel trägt die blattartig gestaltete Spitze. In kaltem, klarem Wasser gedeihen sie bis in Tiefen von 20 bis 40 Metern. Dabei können sie dichte, waldartige Ansammlungen bilden, die sich fünf bis zehn Kilometer weit vor der Küste erstrecken.

Mit Photosyntheseleistungen zwischen 1500 und 3000 Gramm Kohlenstoff pro Quadratmeter und Jahr erreichen Tangwälder die Produktivität der ertragreichsten terrestrischen Ökosysteme oder übertreffen sie sogar. Von dieser üppigen Vegetation ernährte sich einst auch einer der größten Pflanzenfresser dieser Erde: die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ausgerottete Stellersche Seekuh. Tangwälder bieten ähnlich ihren Gegenstücken an Land Lebensräume und Nischen für zahllose weitere Pflanzen- und Tierarten. Vielerlei kleine Algen, vor allem fädige oder blattartige Rotalgen, können das schwache Licht unter den Blattspitzen noch gut nutzen und siedeln am Boden und vor allem auf den Stielen der großen Braunalgen. Zahlreiche Fische und wirbellose Tiere haben ihre Kinderstube ausschließlich in den Tangwäldern.

Von den Braunalgen ernähren sich auch die Seeigel. Dabei können sie, wenn sie nicht von einem Beutegreifer in Schach gehalten werden, Tangwälder völlig zerstören. So kommen sie in Wassertiefen von mehr als 18 bis 20 Metern, die von Seeottern nicht mehr erreicht werden, sehr häufig vor und fressen die Blatt-Tange dort fast völlig weg. In seichteren Meeresregionen wird ihre Zahl dagegen normalerweise von Freßfeinden klein gehalten. Den wenigen verbliebenen Tieren reichen dann Algenteile als Nahrung, die vom Wellengang abgerissen werden und auf den Meeresboden herunterfallen. Wächst die Seeigel-Population jedoch an, klettern einzelne Tiere an den Tangen hinauf, ziehen sie durch ihr Gewicht herunter und bringen sie damit in die Reichweite ihrer Artgenossen am Boden. Der Meeresgrund ist dann bald nur noch von roten Krusten- und einigen niedrig wachsenden Grünalgen überzogen.

Ein dichter Tangwald kann also nur hochkommen, wenn die Beweidung durch die Seeigel und die Raumkonkurrenz durch Muscheln und Seepocken sich in Grenzen halten. In Küstenregionen wie denen des Nordatlantik, wo der Seeotter nie heimisch war, schützt der Hummer die Braunalgen vor den Seeigeln, die er mit seinen gewaltigen Scheren mühelos knackt. Hummer oder Seeotter gelten als Schlüsselarten, deren Vorhandensein oder Fehlen darüber entscheidet, welche Tier- und Pflanzengemeinschaften in flachen Meeresregionen vorkommen.

Dies zeigt sich deutlich an nordpazifischen Küsten, wo die Seeotter sich seit dem Beringsee-Vertrag nicht wieder angesiedelt haben – beispielsweise um die Insel Attu im Archipel der Aleuten. Tangwälder sucht man hier vergeblich; statt dessen findet sich nur eine kärgliche Algenflora.

Auch der Rückgang der Seeotter in den letzten sieben Jahren hat sich bereits verheerend auf die Tangwälder ausgewirkt. Größe und Bestandsdichte der Seeigel haben derart zugenommen, daß ihre Biomasse auf das Achtfache gestiegen, die der Tange dagegen auf ein Zwölftel abgesunken ist. Während die marinen Stachelhäuter 1991 täglich nur 1,1 Prozent des Tangbestandes abfraßen, waren es sechs Jahre später 47,5 Prozent. Diesen Verlust können die Braunalgen trotz ihrer hohen Wuchsleistung nicht mehr ausgleichen.


Ersatznahrung für Killerwale


Was ist die Ursache des Seeotterschwunds? In Frage kommen erhöhte Sterblichkeit, verringerte Fruchtbarkeit oder Wanderbewegungen. Für letzteres gibt es keinerlei Hinweise: Nirgends war in den letzten sieben Jahren eine Neubesiedlung oder ein Zuwachs als Ausgleich für die anderswo zurückgehenden Populationen festzustellen; und auch mit Radiosendern bestückte Otter ließen keine Tendenz erkennen, sich eine neue Heimat zu suchen. Ebensowenig war eine Abnahme der Fertilität zu beobachten. Die Geburtenraten bei den Seeottern auf Adak und Amchitka und die Überlebensrate der Jungen bis zur Entwöhnung vom Stillen unterschieden sich nicht von denen in stabilen Populationen. Damit muß der Rückgang auf einer Zunahme der Sterblichkeit beruhen.

Krankheiten, Gifte oder Nahrungsmangel konnten als Ursachen dafür ausgeschlossen werden. Ein dringender Tatverdacht fiel dagegen auf einen anderen Meeressäuger: den Schwert- oder Killerwal (Orcinus orca). Jahrzehntelang zeigte er keinerlei Appetit auf Seeotter. Beide Tierarten wurden bei den Aleuten immer wieder nahe beieinander gesichtet, ohne daß es Hinweise auf ein Räuber-Beute-Verhältnis gegeben hätte. Doch dann wurde 1991 erstmals ein Angriff der Wale auf Seeotter beobachtet. Und kürzlich haben Brian B. Hatfield vom Geologischen Dienst der USA und seine Kollegen über neun weitere tödliche Attacken berichtet ("Marine Mammal Science", Band 14, Heft 4, Seite 888, Oktober 1998).

Die Wissenschaftler betonen, daß etwaige frühere Beutezüge der Orcas gegen die Otter nicht etwa einfach übersehen wurden, denn die Beobachtungen waren vor 1990 genau so intensiv wie danach. Außerdem läßt sich das Ausmaß des Schwunds seit 1991 voll und ganz erklären, wenn man die Zahl der Walangriffe, die während der wenigen Beobachtungsstunden registriert wurden, auf die gesamte Zeit hochrechnet und dabei die aus früheren Feldstudien bekannten Geburten- und Sterberaten der Seeotter zugrundelegt. Auf Killerwale als Verursacher des Ottersterbens weist auch die Feststellung hin, daß von 1993 bis 1997 aus einer für Orcas leicht zugänglichen Meeresbucht 65 Prozent der mit Marken und Sendern versehenen Otter verschwanden, aus einer schwer zugänglichen Bucht in der Nähe dagegen nur 12 Prozent.

Killerwale und Seeotter haben in den Gewässern um die Aleuten wahrscheinlich über Tausende von Jahren friedlich nebeneinander gelebt. Warum ist dies nun plötzlich anders geworden? Die wahrscheinlichste Erklärung ist, daß die Wale ihre bisherige Nahrungsgrundlage verloren haben. Normalerweise jagen sie vor allem Seelöwen und Robben, die bedeutend größer sind als die Otter. Die Populationen dieser Arten im westlichen Nordpazifik sind in jüngster Zeit jedoch kollabiert. Ziemlich genau in dem Jahr, als die Robbenbestände ihr Minimum erreichten, begann der Schwund der Seeotter.

Worauf der dramatische Rückgang in der Zahl der Robbenartigen beruht, ist nicht sicher bekannt. Höchstwahrscheinlich hängt er jedoch mit einem zunehmenden Mangel an geeigneten Nahrungsfischen zusammen, der durch Überfischung und die allmähliche Erwärmung des Meerwassers aufgrund des Treibhauseffektes hervorgerufen wird. Damit dürften letztlich Eingriffe des Menschen in den marinen Lebensraum die Ursache des Seeottersterbens und der Schädigung der Tangwälder sein. Dies demonstriert in exemplarischer Weise, daß Störungen im fein austarierten Gleichgewicht eines Ökosystem keineswegs auf die unmittelbar betroffenen Organismen beschränkt bleiben. Vielmehr pflanzen sie sich über die vielfältigen Beziehungsgeflechte fort und können auch dort unübersehbare Schäden nach sich ziehen, wo man es auf den ersten Blick nicht erwarten würde.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1999, Seite 12
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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