Nachgehakt: Kinder, Kinder
Wir leben in schwierigen Zeiten. Krieg gegen den Terror, Terror gegen den Krieg, undifferenzierte Zellen versus "kleine Menschen" sowie geklonte Mäuse, Ferkel und Menschen – täglich ein neues moralisches Dilemma. Am schlimmsten ist es dort, wo moderne Biotechnologie und menschliche Fortpflanzung zusammentreffen.
Hier in Großbritannien fehlt zwar die Stammzelldebatte (Forschung ist erlaubt), dafür gibt es mindestens einmal in der Woche eine andere Bio-ethik-Krise. Gerade erst hat die Nation den Schock überstanden, dass Diane Blood ihr zweites Kind erwartet. Was, Sie erinnern sich nicht? Die gute Frau hat vor einigen Jahren Sperma ihres sterbenden Gatten einfrieren lassen. Vor Gericht erstritt sie sich das Recht, das kostbare Gefriergut nach Belgien zu exportieren, wo sie sich damit befruchten ließ. Und weil es alles so gut klappte, hat sie jetzt einen zweiten Ausflug nach Brüssel unternommen. Die britischen Behörden rächten sich für den Sperma-Tourismus, indem sie die Mutter zwangen, den Vater als unbekannt anzugeben. Rechtlich werden ihre beiden Kinder nun als Halbgeschwister eingestuft.
Eine Woche später waren es wieder einmal siamesische Zwillinge – ein noch nicht geborenes Pärchen, das gesund zu sein scheint, aber nur ein Herz hat. Die Eltern streiten vor Gericht dafür, dass nach der Geburt die Trennungsoperation stattfinden kann, die dem einen Kind ein normales Leben ermöglichen, seinen eineiigen Zwilling aber töten wird.
Und Ende Februar kam dann die lange erwartete amtliche Entscheidung über das Schicksal des Jungen Zain Hashmi. Dieser kann nur mit Hilfe von Stammzellen aus der Nabelschnur eines noch nicht geborenen Bruders überleben. Die Eltern haben vergeblich versucht, auf natürlichem Wege einen passenden Stammzellspender zu erzeugen (jetzt haben sie zwar jede Menge Kinder, aber immer noch keinen Lebensretter). Da nun die biologischen Uhren sowohl für Zain als auch für seine Mutter langsam ablaufen, wollen sie das rettende Geschwisterchen per Präimplantationsdiagnostik (PID) produzieren. Die für solche Fragen zuständige Fortpflanzungsbehörde HFEA (Human Fertilisation and Embryology Authority, www.hfea.gov.uk) entschied im Dezember 2001, dass in seltenen Ausnahmefällen PID zum Nutzen schwer kranker Geschwister angewandt werden kann, doch muss jeder Einzelfall von der Behörde genehmigt werden.
So genannte Lebensschützer (vertreten durch eine Organisation namens LIFE) haben klar Stellung bezogen: Zain muss sterben, das rettende Baby darf nicht geboren werden. Anzahl der geschützten Leben nach Adam Riese: minus zwei. Ihr Argument, das ich auch mit wochenlangem Drücken und Quetschen nicht in meinen offenbar zu kleinen Kopf hineinkriege: Das Leben des zu erzeugenden Babys darf nicht einem Zweck dienen. Das Leben seines Bruders zu retten, ist offenbar kein guter Grund, geboren zu werden.
Aber überlegen wir doch einmal, was für andere Gründe es gibt. Wer geboren wird und wer nicht, darüber entscheidet bisher fast allein der Zufall. Da von Millionen Spermien jeweils nur einziges Erfolg hat, sind wir alle Lottogewinner. Statt eines jeden von uns hätten Millionen anderer Menschen zur Welt kommen können, die uns nur so ähnlich wären wie Geschwister. Dem Zufall zur Hand gehen andere Begleitumstände und Entscheidungen der potenziellen Eltern. Neben den Wunschkindern (die aber immer noch Lottogewinner sind) laufen Millionen von "Unfällen" durch die Welt. Manch einer wurde geboren, weil an einem bestimmten Abend nichts Interessantes im Fernsehen lief, der Strom ausfiel, die Eltern zu betrunken waren, um an Verhütung zu denken, oder im Eifer des Gefechts ein Kondom abrutschte.
Drei Monate nach der Grundsatzentscheidung hat die HFEA jetzt den Hashmis die offizielle Erlaubnis für das IVF/PID-Wunschkind erteilt. Aber natürlich kann niemand garantieren, dass der ausgewählte Embryo sich auch dauerhaft in der Gebärmutter einnistet und dort bis zur Geburt heranwächst. Wenn es denn klappt, wird das jüngste Hashmi-Kind mit dem Bewusstsein leben können, dass es schon im Moment seiner Geburt seinem Bruder das Leben rettete. Warum es – inmitten all der Unfälle und Lotteriegewinner – darauf nicht stolz sein sollte, will mir nur schwer einleuchten.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 2002, Seite 18
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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