Kindliche Selbstgespräche und mentale Entwicklung
Beim Spielen oder Erledigen von Aufgaben laut vor sich hin zu reden ist nicht etwa eine Unart, und es ist auch nicht belanglos. Vielmehr unterstützen, kontrollieren und lenken Kinder bis in das Schulalter damit Verhaltens- und Verstehensprozesse, die sie sich gerade erst zu eigen machen.
Jeder, der mit Kindern umgeht, weiß, daß sie gern vor sich hin reden – oft so viel wie mit anderen Menschen, manchmal sogar mehr. Im Alter unter zehn Jahren können solche Selbstgespräche je nach Situation zwischen 20 und 60 Prozent aller sprachlichen Äußerungen betragen.
Immer noch halten Eltern und auch ausgebildete Erzieher wie Kindergärtnerinnen und Grundschullehrer solche gemurmelten Monologe vielfach für eine Unart, die von Eigensinn, Unaufmerksamkeit oder gar psychischer Labilität zeuge. In Wirklichkeit ist das eine normale und für die kognitive Entwicklung wesentliche Verhaltensweise. Dies sollte bei jeder Anleitung sowie im Unterricht berücksichtigt werden, insbesondere bei Kindern mit Lernschwierigkeiten.
Denken und Sprechen
Selbstgespräche führen Menschen sicherlich, seit es Sprache gibt. Doch in Psychologie und Pädagogik beginnt man erst jetzt die Bedeutung solchen privaten Sprechens für die mentale Reifung einzusehen. Dies ist ein eklatantes Beispiel dafür, daß gesellschaftliche Verhältnisse den Gang der Wissenschaft beeinflussen können: Frühe erhellende Befunde zu dem Phänomen waren in der Sowjetunion der dreißiger Jahre unterdrückt worden, und in den westlichen Ländern verhinderte die fast unumstrittene Autorität des Schweizer Kognitionsforschers Jean Piaget (1896 bis 1980) die eingehendere Beschäftigung damit.
Sein weißrussischer Kollege und Kontrahent Lew Semjonowitsch Wygotski (1896 bis 1934; Bild 2) hatte schon um 1930 die Zusammenhänge von Sprechen, Denken und Ausbildung der Persönlichkeit untersucht und wohl als erster die Wichtigkeit von Selbstgesprächen für die kindliche Entwicklung dokumentiert. Aber obwohl er als Professor in Moskau, Leningrad und Charkow maßgeblich an der marxistisch-leninistischen Prägung der sowjetischen Psychologie beteiligt war, wurde auch er ein Opfer des politischen Klimas mit systematischen Repressalien gegen Intellektuelle und wiederholten Säuberungsaktionen an Universitäten und wissenschaftlichen Instituten unter dem stalinistischen Regime.
Schon daß Wygotski sich mit Piagets Schriften und denen anderer westlicher Psychologen auseinandersetzte, bot eine Handhabe gegen ihn. Verschiedene Kollegen erklärten ihn für abtrünnig, und einige von ihnen wie auch etliche Studenten verließen seinen Kreis; immerhin beeinflußte seine kulturhistorische Theorie wesentlich die wichtigste Schule der sowjetischen Psychologie um Alexej Nikolajewitsch Leontjew (1903 bis 1979) und Alexander Romanowitsch Lurija (1902 bis 1977). Einer seiner Schüler berichtete später, daß die sowjetische Kommunistische Partei eine kritische Diskussion – gleichbedeutend einem inquisitorischen Verfahren – über Wygotskis Ideen anberaumt hatte. Doch bevor er seine noch vorläufigen Studien absichern und ausbauen konnte oder auch nur Gelegenheit erhielt, sich zu rechtfertigen, starb er an Tuberkulose. Zwei Jahre später, 1936, verbot die Partei seine bereits veröffentlichten Schriften.
Nicht nur, daß man diese Arbeiten im Westen nicht kannte; europäische und amerikanische Psychologen und Pädagogen hielten sich bis vor kurzem fast blind an Piagets Auffassung, daß Selbstgespräche in der normalen geistigen Entwicklung von Kindern keine irgendwie wichtige oder gar förderliche Rolle spielten. Schon kurz nach seiner Promotion 1918 an der Universität Neuchâtel, noch bevor Wygotski seine Untersuchungen aufnahm, hatte Piaget bei einem Forschungsaufenthalt an der Sorbonne in Paris zu untersuchen begonnen, warum Kinder in Tests falsche Schlüsse ziehen; aufgrund dieser Arbeit wurde er zum Direktor des Jean-Jacques-Rousseau-Instituts in Genf berufen, wo er grundlegende Versuche über sprachliche Äußerungen drei- bis siebenjähriger Kinder anstellte (die französische Originalausgabe seines Werkes "Sprechen und Denken des Kindes" erschien 1923). Er bestimmte – außer den Äußerungen, mit denen Kinder sich an andere Personen wenden und an Unterhaltungen beteiligen – drei weitere Typen des kindlichen Sprechens, die ein Zuhörer vielfach nicht recht versteht und die auch nicht erkennbar an jemanden anders gerichtet sind: spielerisch wiederholte Silben und Laute, ein Reden wie zu sich selbst und ein Plappern, das Piaget "kollektiven Monolog" nannte.
Alle drei anscheinend nicht kommunikativ gemeinten Weisen des Sprachgebrauchs deutete Piaget als Ausdruck von Egozentrik und damit als Zeichen für geistige – hier insbesondere soziale – Unreife, wie es seinem Konzept der kindlichen Entwicklung entsprach. Denn seiner Ansicht nach reden Kinder so vor sich hin, weil sie sich erst schlecht in andere Personen hineinversetzen und die Dinge nicht von einer anderen Warte aus sehen könnten. Ein Großteil ihrer Äußerungen sei selbstbezüglich und habe noch kaum eine wirkliche kommunikative Funktion. Sie begleiteten, unterstützten oder bestärkten mit diesem Geplapper einfach ihre Handlungen oder Bewegungen. Es sei nicht angelegt zum Austausch mit anderen, auch wenn man gelegentlich meine, zuhören und antworten zu sollen und dies auch tue – erwartet werde dies nicht. Die Selbstgespräche würden später aufhören, wenn die Kinder zu sozialer Kompetenz heranreiften.
Schon gleich hatten verschiedentlich Vorschulerzieher und auch Experten in Kultusbehörden Piagets Vorstellungen kritisiert, konnten gegen die Lehrmeinung aber nichts ausrichten. Das änderte sich erst in den sechziger Jahren, als Wygotskis Abhandlungen endlich international bekannt wurden: Im Zuge der Entstalinisierung, die Nikita S. Chruschtschow 1956, drei Jahre nach Stalins Tod, auf dem 20. Parteitag der KPdSU einleitete und mit der eine Phase größerer intellektueller Freiheiten begann, war die Ächtung seiner Werke in der Sowjetunion nach mehr als 20 Jahren aufgehoben worden; 1962 erschien – erstmals im Westen – in den USA eine Sammlung von Essays in englischer Übersetzung, -und in einer unabhängigen deutschen Übertragung 1964 unter dem Titel "Denken und Sprechen" bei S. Fischer in Frankfurt am Main.
In Amerika befaßte sich alsbald der Sozialpsychologe und Pädagoge Lawrence Kohlberg (1927 bis 1987), der seit 1968 an der Harvard-Universität in Cambridge (Massachusetts) wirkte, mit Wygotskis Ideen. Binnen zehn Jahren trug er mit seinem Team viele empirische Befunde zusammen, die dessen Thesen stützten.
In den späten siebziger Jahren wandten sich weitere amerikanische Psychologen von Piagets Theorie ab. Damals erschienen auch immer mehr Arbeiten Wygotskis auf englisch. Die sich wandelnde wissenschaftliche Atmosphäre, mit hervorgerufen durch Kohlbergs Forschungen, regte schließlich zu einer Flut neuer Untersuchungen an. So ist seit Mitte der achtziger Jahre in den westlichen Ländern die Zahl von Studien zum Selbstgespräch auf das Dreifache angewachsen, und die meisten – darunter meine eigenen – bestätigen Wygotskis Ansichten.
Wie er dargelegt hatte, besteht ein starker Zusammenhang zwischen sozialer Erfahrung, Sprechen und Lernen. Welche Aspekte der Realität ein Kind demnächst zu meistern bereit ist, hängt jeweils davon ab, was Wygotski die "Zone der nächsten (nächstmöglichen) Entwicklung" nannte. Das sind Kompetenzen, die das Kind zur Zeit zwar noch nicht ohne Anleitung einer erfahreneren Person anzuwenden vermag, für die aber die entwicklungsbedingten Voraussetzungen an sich bereits herangereift sind. Wenn es nun über einen Sachverhalt oder bei einer Herausforderung mit jemandem kommuniziert, und sei es nur mit einem etwas erfahreneren Spielgefährten, erhält es wahrscheinlich Hinweise auf mögliche Vorgehensweisen und Strategien, deren sprachliche Darstellung es sich zu eigen macht. Solche fremden Dialog-Beiträge bindet es dann in seine Selbstgespräche ein und benutzt sie, um schließlich auch selbständig schwierige Aufgaben anzugehen.
"Der bedeutsamste Moment im Verlauf der intellektuellen Entwicklung", schrieb Wygotski, "tritt ein, wenn Rede und praktische Aktivität, zwei bisher völlig unabhängige Linien der Entwicklung, zusammenlaufen." Es verhalte sich nicht so, daß egozentrische Äußerungen schließlich von sozialer Kommunikation abgelöst würden, wie Piaget glaubte; vielmehr sei der sprachliche Austausch kleiner Kinder mit anderen Personen geradezu die Voraussetzung, daß sie dann Selbstgespräche entwickelten. Alle genuin menschlichen, höheren geistigen Prozesse entsprängen letztlich der sozialen Kommunikation, und indem Kinder sich mit Vertretern ihres Kulturkreises unterhielten, würden sie lernen, wie man in ihrem Umfeld denkt und handelt.
In dem Maße, wie das Kind sein Tun zunehmend beherrscht, kann es freilich immer mehr darauf verzichten, alle Gedanken vollständig laut auszusprechen; das Selbst, als sehr einfühlsamer Zuhörer, versteht auch Andeutungen. Wörter und Wendungen, die bekannte Dinge und Prozesse beschreiben, läßt das Kind fortan weg. Nur das, was ihm anscheinend noch Kopfzerbrechen macht, konstatiert es weiterhin deutlich. Später, wenn es die nötigen mentalen Operationen gut beherrscht, geht es dazu über, sie nur noch stumm zu denken. So wird aus dem artikulierten Selbstgespräch, dem privaten Sprechen, allmählich ein lautloses, inneres Sprechen: der bewußte innere Dialog, mit dem wir unser Denken und Handeln begleiten.
Aber auch Erwachsene kommen nicht ohne Selbstgespräche aus. Immer wenn wir mit ungewohnten und schwierigen Situationen konfrontiert sind, drängen sie sich wieder auf – gewissermaßen als Werkzeug, das dabei hilft, Hindernisse auszuräumen oder sich mit neuen Fertigkeiten vertraut zu machen.
Hilfe aus eigener Kraft
Derzeit laufen in den Vereinigten Staaten zwei Forschungsprogramme mit dem Ziel, Wygotskis Befunde nachzuvollziehen und auszubauen. Eines führt Rafael M. Diaz von der Stanford-Universität in Kalifornien durch, das andere ich. Wir begannen beide mit ähnlichen Fragen, nämlich ob alle Kinder Selbstgespräche führen, ob diese ihnen helfen, ihr Handeln zu steuern, und ob Selbstgespräche ihren Ursprung in der Kommunikation mit anderen haben. Ich beobachtete mit meinen Mitarbeitern Kinder in der Schule in ungestellten Situationen; Diaz machte seine Untersuchungen unter vorbestimmten Laborbedingungen.
Zusammen mit Ruth A. Garvin belauschte ich zunächst in einer Missionsschule im östlichen Kentucky, einer ärmlichen Bergregion, 36 Kinder aus einkommensschwachen Familien im Alter zwischen fünf und zehn Jahren (in den USA werden Kinder meist mit fünf Jahren eingeschult). Wir machten den ganzen Tag über Aufzeichnungen im Klassenraum, auf dem Schulhof und dem Spielplatz, in den Aufenthaltsräumen und Pausenhallen sowie beim Mittagessen; dabei achteten wir besonders auf Äußerungen, die nicht speziell an einen Zuhörer gerichtet waren.
Egozentrische Selbstgespräche im Sinne Piagets kamen nur selten vor. Die Kinder kommentierten vielmehr meistens, was sie taten, oder gaben sich Handlungsanweisungen – was zu der Vermutung passen würde, daß die zentrale Funktion des Selbstgesprächs eine Eigensteuerung ist. Sie murmelten auch besonders dann vor sich hin, wenn sie eine schwierige Aufgabe allein lösen sollten oder wenn gerade kein Lehrer parat war, um ihnen zu helfen.
Nach unseren Protokollen scheint sich das Selbstgespräch bei allen Kindern ähnlich – und zwar aus sozialer Erfahrung heraus – zu entwickeln. Die Art, wie es sich mit dem Alter veränderte, glich stark jenen Mustern, die Kohlberg bereits eineinhalb Jahrzehnte früher beschrieben hatte.
Bei Kindern aus der Mittelschicht, die Kohlberg beobachtet hatte, nehmen laute Selbstgespräche im Alter zwischen vier und sechs Jahren zu. In der Grundschulzeit gehen diese Kinder aber allmählich dazu über, nur noch fast unhörbar vor sich hin zu murmeln oder zu flüstern. Die Abfolge war in unserer Erhebung gleich, nur durchliefen die Kinder in Kentucky die Stadien langsamer; noch bei Zehnjährigen waren mehr als 40 Prozent der Monologe deutlich vernehmbar, während Kohlberg für dieses Alter weniger als 7 Prozent laut geführter Selbstgespräche registriert hatte.
Woran mag das liegen? Als wir im sozialen und kulturellen Umfeld Hinweise suchten, stießen wir auf einen frappierenden Unterschied in den familiären kommunikativen Gepflogenheiten: Eltern der Mittelschicht pflegen im allgemeinen recht viel mit ihren Kindern zu sprechen, während dies in dem strukturschwachen ehemaligen Bergbaugebiet auffallend weniger üblich ist. Dort verständigt man sich in den Familien vielfach mehr mit Gesten. Falls Wygotski damit recht hat, daß die mit Selbstgesprächen einhergehende Entwicklung von der sprachlichen Kommunikation mit erfahrenen Partnern angeregt wird, könnte es durchaus mit der weniger beredten häuslichen Atmosphäre zusammenhängen, daß der Prozeß bei den Kindern in Kentucky langsamer verlief.
Diaz hat damals zusammen mit Marnie H. Frauenglass 32 drei- bis sechsjährige Kinder gefilmt, wie sie Puzzles legten oder Bildtäfelchen zuordneten. Auch sie stellten fest, daß Selbstgespräche mit zunehmendem Alter immer verhaltener werden. Generell schienen ihre Befunde – wie auch einige andere Untersuchungen – Wygotskis Theorie allerdings ernstlich in Frage zu stellen: Viele der kleinen Probanden ließen sich überhaupt nur wenig vernehmen, und einige waren vollkommen still. Sollten kindliche Selbstgespräche doch nicht ein universelles Phänomen sein?
In den Experimenten tauchte noch eine weitere Unstimmigkeit mit Wygotskis Theorie auf. Falls, wie Wygotski geglaubt hatte, artikulierte Monologe die Selbstkontrolle erleichterten, sollte ein Zusammenhang mit dem Verhalten beim Umgang mit einem Problem und mit dem Ergebnis zu erkennen sein. Nun schnitten aber gerade jene Kinder bei den Puzzles schlechter ab, die relativ häufig mit sich selbst redeten. Auch andere Forscher hatten festgestellt, daß Selbstgespräche keine Gewähr für gutes Gelingen sind.
Diaz beließ es aber nicht dabei, sondern zog Folgerungen, wobei er sich an Wygotskis Idee der Zone nächster Entwicklung orientierte: Vielleicht hatten, so überlegte er, die gestellten Aufgaben für viele der Kinder nicht den richtigen Schwierigkeitsgrad, bei dem Selbstgespräche auftreten. Für einige von ihnen, die schon viele Puzzles gelöst hatten, könnten die im Labor präsentierten Spiele zu einfach gewesen sein – sie fanden die richtigen Teile, ohne sich sonderlich anstrengen zu müssen. Für andere wiederum war die Aufgabe womöglich so schwer, daß sie damit allein noch nicht einmal ansatzweise zurechtkamen – auch dann wäre nach Wygotski ein von Reden begleitetes Denken nicht zu erwarten. Und wenn Selbstgespräche gerade in Situationen auftreten, die dem Kind Schwierigkeiten machen, so schloß Diaz, dann könnten sie auch häufig mit Mißerfolgen einhergehen; günstige, förderliche Auswirkungen würden sich eventuell erst später zeigen.
Reifungshilfe
Dies wollte ich im Klassenzimmer prüfen. Diesmal zeichneten meine Mitarbeiter an der Versuchsschule der Staatsuniversität von Illinois in Normal die Entwicklung während der ersten drei Schuljahre auf. Und zwar beobachteten wir 75 Schüler beim Brüten über Rechenaufgaben, deren Schwierigkeitsgrad nach Einschätzung der Lehrer auf die Fähigkeiten jedes einzelnen Kindes abgestimmt war, ihm aber einige Anstrengung abverlangte.
Alle beobachteten Kinder redeten in der ersten Klasse bei den Aufgaben mit sich selbst – im Durchschnitt 60 Prozent der Zeit. Wie sich schon in früheren Untersuchungen gezeigt hatte, erzielten auch hier viele derjenigen mit ausgeprägter Neigung, ihr Tun zu kommentieren, in dem Schuljahr in Leistungstests und bei Hausaufgaben eher weniger gute Bewertungen. Allerdings ließ sich aus einer für das jeweilige Alter typischen Form des Selbstgesprächs mit bestimmter Wahrscheinlichkeit vorhersagen, daß sich die Rechenleistungen nach einiger Zeit verbessern würden. Besonders erhielten solche Kinder, die als Erstkläßler bei den Aufgaben viel (laut oder verhalten) nachgedacht und sich Anweisungen gegeben hatten, im nächsten Jahr günstigere Beurteilungen. Entsprechend verbesserten sich Zweitkläßler, die noch in sich hineinzumurmeln pflegten, im dritten Schuljahr.
Im Sinne von Wygotskis These, daß sich selbst gegebene anleitende Kommentare dem Kind sein Tun zu steuern und zu lenken helfen, verhielten sich die Schüler auch allgemein während der Arbeit. Brabbelten sie alles mögliche, das sich nicht auf die Rechenaufgabe bezog, oder gaben sie vielerlei Stimmungsäußerungen von sich, dann zappelten sie außerdem oft herum, kauten auf ihrem Stift oder hämmerten damit auf den Tisch. Kinder dagegen, die vornehmlich die Aufgabe und ihr Vorgehen kommentierten, halfen sich eher mit kleinen manuellen Tricks über die Schwierigkeiten hinweg; sie zählten beispielsweise an den Fingern ab oder folgten einer Textzeile mit dem Stift.
Die Kinder schließlich, die am meisten unhörbar mit sich selbst sprachen, gehörten zu den aufmerksamsten und am wenigsten zappeligen. Überhaupt waren diejenigen, die am schnellsten von lauten Selbstgesprächen zum inneren Monolog übergingen, in der Kontrolle von Bewegungen und in ihrer Konzentrationsfähigkeit weiter. Offenbar verlaufen beide Entwicklungen verzahnt.
Wie die dynamische Wechselwirkung zwischen kindlichem Selbstgespräch und Lernen aussieht, die Wygotski besonders herausgestellt hatte, eruierten Sarah T. Spuhl und ich dann unter experimentellen Bedingungen; insbesondere prüften wir die Hypothese, daß Selbstgespräche nachlassen, wenn die intellektuellen Fähigkeiten wachsen. Dabei untersuchten wir auch den bisher nicht berücksichtigten Aspekt, ob und wie die Interaktion des Kindes mit einer erwachsenen Bezugsperson sich förderlich auf die eigene Lenkung seines Verhaltens durch monologisches Reden auswirkt.
Dazu ließen wir 30 Kinder im Alter von vier und fünf Jahren aus Lego-Steinen nachbauen (Bild 1). Um zu verfolgen, wie ihr Geschick dabei zunahm, beobachteten wir sie in drei Sitzungen von je 15 Minuten Dauer im Abstand von zwei bis höchstens vier Tagen, so daß wir die Fortschritte gut verfolgen konnten. Die ausgesuchten Kinder hatten noch nie mit Lego gespielt, und wir machten eigens mit jedem einen Vortest, um ein ihm angemessen schwieriges Modell vorzugeben – was in den früheren Tests dieser Art nie geschehen war.
Zwei Wochen vor Beginn der eigentlichen Versuche hatten wir die Kinder mit ihren Müttern bei Spielen gefilmt, bei denen sie ebenfalls etwas bauten, zusammensteckten oder farblich sortierten, zum Beispiel aus Bauklötzen. Wir wollten wissen, wie beide in solchen Situationen miteinander kommunizierten und in welcher Weise die Mutter eventuell eingriff und mithalf.
Laut früheren Forschungen werden die Kompetenzen des Kindes gefördert, wenn die Eltern warmherzig auf es eingehen, es dabei aber auch in bestimmtem Maße führen, anleiten und dazu ermutigen, etwas Neues anzupacken. Man nennt diesen Erziehungsstil autoritativ – im Gegensatz zu autoritärem Verhalten mit ausgeprägt steuernder Kontrolle ohne herzliche Zuwendung, bei dem Lern- und Anpassungsschwierigkeiten eher auftreten sollen, ebenso wie bei permissivem Verhalten, wenn Eltern das Kind freundlich gewähren lassen, ohne es zu leiten. Wir erwarteten deshalb, daß eine autoritative Atmosphäre am ehesten Aufschluß über die mütterlichen Hilfen bringen würde, die wir identifizieren wollten.
In unserer Studie führten die Kinder autoritativer Mütter am häufigsten Selbstgespräche, und die Vierjährigen dieser Gruppe erwarben im Umgang mit Lego rascher Geschick als die anderen Altersgenossen. Zudem läßt eine statistische Analyse vermuten, daß die unterstützende mütterliche Zuwendung sich über die Selbstgespräche des Kindes – gleichsam das Medium – auf dessen Fortschritte auswirkte; dies würde zu Wygotskis Annahmen passen.
In unseren Tests sprachen, anders als in denen von Diaz, alle Kinder vor sich hin; aber wie erwartet, wurde daraus von Sitzung zu Sitzung, je besser sie der Aufgabe gewachsen waren, ein immer stilleres Monologisieren. Wiederum ließ sich auch an der Häufigkeit von Selbstgesprächen besser als am aktuellen Erfolg künftige Fertigkeit erkennen. Insbesondere machten solche Kinder rasche Fortschritte, die sich dabei altersgemäß verhielten: Vierjährige, die sich gut hörbar Anweisungen gaben, und Fünfjährige, die in sich hinein murmelten.
Förderung bei Lernschwierigkeiten?
Als nächstes beschäftigte ich mich mit schwer lernbehinderten und verhaltensgestörten Kindern. Nach Ansicht vieler Psychologen führen Grundschüler, die schlecht aufpassen können, sich nicht zu beherrschen vermögen oder sonstwie mit dem Unterricht Schwierigkeiten haben, zu wenige oder ihrem Alter nicht mehr entsprechende Selbstgespräche. Also wurden Förderprogramme entworfen und auch vielerorts eingesetzt, die diese Kinder gerade darin anregen sollten. Zum Beispiel läßt man sie einen Therapeuten nachahmen, der irgend etwas tut und dies vernehmbar kommentiert; im nächsten Lernschritt bewegt er lediglich noch die Lippen, und im dritten soll das Kind versuchen, nur noch innerlich zu sprechen.
Das Training half den meisten Kindern allerdings nicht. Ich hatte den Verdacht, daß das Konzept noch nicht ausgereift sei, denn es gründete nicht auf systematischen Studien darüber, wie Kinder mit Lern- und Verhaltensproblemen Privatsprache einsetzen. Die spontanen Selbstgespräche solcher Kinder waren kaum je untersucht worden.
Gemeinsam mit Michael K. Potts untersuchte ich das Verhalten von 19 sechs- bis zwölfjährigen Jungen, bei denen Hyperaktivität im klinischen Sinne diagnostiziert worden war – ein bislang schwer einzuordnendes Syndrom mit ausgeprägtem Aufmerksamkeitsmangel, stark impulsivem Verhalten, Ruhelosigkeit und kaum beherrschbarem Bewegungsdrang. Sie erhielten Rechenaufgaben, die sie allein lösen sollten. Zum Vergleich beobachteten wir 19 Jungen des gleichen Altersbereichs, deren Verhalten unauffällig war, die den hyperaktiven aber in ihrer sprachlichen Entwicklung glichen.
Entgegen der Annahme, die den Förderprogrammen zugrunde liegt, redeten die verhaltensgestörten Jungen nicht weniger vor sich hin als die anderen, sondern erteilten sich sogar wesentlich mehr hörbare Instruktionen. Als einzigen altersabhängigen Unterschied fanden wir, daß sie erst später zu mehr internalisiertem Monologisieren übergingen.
Möglicherweise ist dieser Entwicklungsrückstand damit zu erklären, daß gerade die Konzentrationsschwäche hyperaktive Kinder daran hindert, ihr Verhalten wirkungsvoll mit Selbstgesprächen zu lenken. Zum einen war nämlich nur bei den verhältnismäßig am wenigsten ablenkbaren Kindern ein Zusammenhang zwischen hörbarem Selbstgespräch und zunehmender Aufmerksamkeit beim Rechnen festzustellen. Zum anderen war der Effekt von Psychopharmaka aufschlußreich.
Vielfach werden in schweren Fällen von Hyperaktivität Stimulantien verabreicht. Sie heilen zwar nicht die Verhaltensstörung, erleichtern aber offenbar den meisten Kindern, sich mehr zu konzentrieren und ihre schulischen Leistungen zu steigern. Auch einige unserer Probanden erhielten phasenweise diese Therapie, und bei ihnen nahm dann der Reifegrad der Selbstgespräche beträchtlich zu. Ein Zusammenhang zwischen stimmlosen Lippenbewegungen und wachsender Selbstkontrolle war nur bei Kindern zu erkennen, die das Medikament eingenommen hatten.
Eine weitere Leistungsschwäche untersuchten mein Kollege Steven Landau und ich an einer Gruppe von 56 Schülern der dritten bis sechsten Klasse: Sie waren nach den Richtlinien des Staates Illinois als lernbehindert eingestuft worden, weil ihre schulischen Leistungen bei weitem nicht ihrem Intelligenzgrad entsprachen. Wie die hyperaktiven Jungen gaben sie sich bei Englisch- und Rechenaufgaben mehr laute Anweisungen und gingen zu Flüstern und unhörbaren Lippenbewegungen später über als die als normal eingestuften Kinder der gleich großen Kontrollgruppe. Bei jenen, die außerdem hyperaktiv waren, war dies noch auffälliger.
Auch diese Studien bestätigten eindrücklich Wygotskis Ansichten zur Bedeutung von kindlichen Selbstgesprächen. An sich verläuft die Entwicklung verhaltensgestörter und lernbehinderter Kinder in der gleichen Richtung wie die von normalen; nur erschweren es ihnen Beeinträchtigungen der geistigen Verarbeitung und des Konzentrationsvermögens, altersgemäße schulische Aufgaben zu lösen. Das wiederum wirkt sich hinderlich auf die sprachliche Selbststeuerung aus.
Nach unseren Ergebnissen scheint es geradezu falsch zu sein, solche Kinder im Selbstgespräch schulen und bald zum inneren Monolog führen zu wollen. Denn eigentlich können sie das Verlangte schon. Sie brauchen aber das laute Sprechen unbedingt, um zumindest einigermaßen Kontrolle über sich zu erlangen – sie versuchen auf diese Art, Mängel ihres Kognitionsvermögens zu kompensieren. Mithin könnten Eingriffe, die ihre Entwicklung beschleunigen sollen, ihnen sogar schaden.
Wie ließe sich Jungen und Mädchen mit Lernschwierigkeiten dann aber helfen? Und wie wären unsere Erkenntnisse generell in die pädagogische Praxis umzusetzen?
Offenbar ist das Gespräch mit sich selbst ein Mittel, Probleme zu lösen. Darüber verfügen alle Kinder, die reichen sozialen Austausch erfahren. Verschiedene untereinander abhängige Faktoren bestimmen jedoch mit, wie leicht und in welchem Grade ein Kind mit einem Selbstgespräch sein Verhalten zu steuern vermag – etwa die Schwere der Aufgabe, die jeweiligen Umstände, das soziale Klima und auch individuelle Persönlichkeitsmerkmale. Am förderlichsten ist deshalb nicht der Versuch, das Selbstgespräch als eigenständige Fertigkeit zu trainieren, sondern das Schaffen von Gelegenheiten, in denen das Kind es effektiv nutzen kann.
Wenn sich ein Kind an etwas Neuem versucht, hilft ihm der Austausch mit einem Erwachsenen, der ihm geduldig Mut macht und nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig eingreift, indem er sich in den Entwicklungsstand des Kindes einzufühlen sucht. Kann es etwa die Folgen einer Handlung noch nicht absehen, sind eindeutige Anweisungen angebracht. Später, wenn es solche Zusammenhänge begriffen hat, genügt es, Lösungswege lediglich anzudeuten. In dem Maße, wie das Kind selbst seine Initiativen überblickt, kann der Erwachsene sich zurücknehmen (Bild 3).
Häufig wird gerade schwierigen Kindern die rechte Unterstützung vorenthalten, die sie trägt, aber ihnen doch den nötigen Freiraum läßt. Eben weil sie oft anstrengend sind, werden sie besonders viel getadelt und zurechtgewiesen; um so weniger lernen sie, sich selbst zu kontrollieren.
Eltern und Lehrer müssen begreifen, wie wichtig Selbstgespräche für Kinder sind. Wir wissen nun, daß die sogenannte Privatsprache zum gesunden Aufwachsen gehört, und auch, daß einige Kinder sie exzessiver und länger für ihre Entwicklung brauchen. Statt sie als unsinniges, störendes oder gar psychisch aberrantes Verhalten zu unterdrücken, sollten Erwachsene dem Kind zuhören und so an seinen Plänen, Zielen und Schwierigkeiten teilzunehmen suchen; und Pädagogen sollten auffällig monologisierende Schüler besonders fördern.
Zu lange hat es gedauert, bis Wygotskis Theorie bestätigt, ihr Wert erkannt und dann die darauf aufbauende Forschung weithin akzeptiert wurde, so daß seine Erkenntnisse sich nun endlich umsetzen lassen.
Literaturhinweise
- Denken und Sprechen. Von Lew S. Wygotski. Fischer Wissenschaft, Frankfurt am Main 1986.
– Theorien der Entwicklungspsychologie. Von Patricia H. Miller. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1993.
– Freud, Piaget, Wygotski und Loewald: Wie wird der Mensch ein Mensch? Von Norman Elrod. Althea, Zürich 1992.
– Development of Private Speech among Low-Income Appalachian Children. Von Laura E. Berk und Ruth A. Garvin in: Developmental Psychology, Band 20, Heft 2, Seiten 271 bis 286, März 1984.
– A Longitudinal Study of the Development of Elementary School Children's Private Speech. Von J.A. Bivens und L.E. Berk in: Merrill-Palmer Quarterly, Band 36, Heft 4, Seiten 443 bis 463, Oktober 1990.
– Vygotsky: The Man and His Cause. Von Guillermo Blanck in: Vygotsky and Education: Instructional Implications and Applications of Sociohistorical Psychology. Herausgegeben von Luis C. Moll. Cambridge University Press, 1990.
– Development and Functional Significance of Private Speech among Attention-Deficit Hyperactivity Disordered and Normal Boys. Von Laura E. Berk und Michael K. Potts in: Journal of Abnormal Child Psychology, Band 19, Heft 3, Seiten 357 bis 377, Juni 1991.
– Private Speech: From Social Interaction to Self-Regulation. Herausgegeben von Rafael M. Diaz und Laura E. Berk. Lawrence Erlbaum Associates, 1992.
– Private Speech of Learning Disabled and Normally Achieving Children in Classroom Academic and Laboratory Contexts. Von L.E. Berk und S. Landau in: Child Development, Band 64, Heft 2, Seiten 556 bis 571, April 1993.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 1995, Seite 72
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