Neuroanatomie: Kleines Hirn ganz groß
Das Schwein begann "zu torkeln wie ein Betrunkener, die Füße bewegten sich schwerfällig und plump, die Bewegungen insgesamt waren beeinträchtigt, und wenn es hinfiel, waren seine Versuche, wieder aufzustehen, sehr unbeholfen", notierte der französische Physiologe Jean Pierre Flourens im Jahr 1823. Flourens, einer der Begründer der modernen Neurowissenschaft, hatte dem Tier einen Teil des Kleinhirns entfernt. Nach vollständiger Entfernung des Zerebellums, so der Naturforscher weiter, konnte das Schwein nur noch auf der Seite liegen, aber nicht mehr stehen oder laufen. Auch an Tauben und Hunden erprobte Flourens diese nach heutigen Maßstäben brutale Prozedur – damals die einzige Möglichkeit, um eine Ahnung von der Funktion verschiedener Hirnbereiche zu erhalten. Das Kleinhirn, konstatierte er, sei offenbar für die Steuerung von Bewegungen zuständig.
Das Zerebellum, jenes handtellergroße Anhängsel der Großhirnrinde, hatte Wissenschaftlern schon seit der Antike Rätsel aufgegeben. In der Renaissance galt es als Sitz des Gedächtnisses. 1664 hielt es der englische Arzt und Anatom Thomas Willis für den Sitz von Vitalfunktionen wie Herzschlag und Atmung. Im 18. und im frühen 19. Jahrhundert überschlugen sich dann die Spekulationen, wofür die seltsam anmutende Struktur im Hinterkopf gut sei: für den Verstand, die Wahrnehmung oder die Willenskraft, für Instinkte oder auch sexuelle Erregung. Flourens ging erstmals streng experimentell dieser Frage nach – und brachte die Diskussion so vermeintlich zu einem Abschluss ...
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