Die neuen Kriege (Teil I): Kleinwaffen eine mörderische Weltplage
Schon mit einigen hundert Maschinengewehren und Granatwerfern kann eine kleine Armee ein ganzes Land übernehmen und dabei Hunderttausende von Menschen vertreiben, verwunden oder töten.
Ruanda, einer der kleinsten Staaten in Afrika und von jahrelangem Bürgerkrieg gezeichnet, erlebte im Frühjahr 1994 eine unfassbare Welle der Gewalt. Extremistische Hutus gingen auf Angehörige der Tutsi und auf gemäßigte Stammesgenossen los. Mit Knüppeln, Messern und Macheten ermordeten sie fast eine Million Menschen – etwa ein Zehntel der Bevölkerung.
Die meisten Medienberichte über diesen Genozid stellten den Einsatz solch primitiver Waffen heraus. In der Öffentlichkeit entstand deshalb der Eindruck, die Bevölkerung des ostafrikanischen Entwicklungslandes habe in einem Rausch der Gewalt einfach ihr Arbeitsgerät ergriffen und es als Tötungsinstrument eingesetzt.
Das ist aber nicht die ganze Geschichte. Vor Beginn des Massenmordens hatte die von den Hutus dominierte Regierung reguläre Milizen und paramilitärische Trupps mit automatischen Gewehren und Handgranaten ausgerüstet. Erst diese Feuerkraft ermöglichte jene Terrorangriffe, bei denen wahllos Zivilisten – Männer, Frauen, Kinder – zusammengetrieben und in Schach gehalten wurden, um sie dann systematisch mit Knüppeln und Buschmessern abzuschlachten. Der grausige Gebrauch von landwirtschaftlichem Gerät mag wie eine mittelalterlich rohe Verirrung erscheinen; doch die Kampfverbände und ihre Waffen, die das Gemetzel erleichterten, waren durchaus auf der Höhe der Zeit.
Die entsetzliche Episode ist alles andere als einzigartig. Auch andernorts in Afrika, in Ost-Timor, auf dem Balkan und in anderen Ländern schlugen seit Ende des Kalten Krieges immer wieder ethnische und religiöse Spannungen oder sezessionistische Bestrebungen in brutale Auseinandersetzungen um, die häufig in Massakern unter der Zivilbevölkerung gipfelten. Mehr als hundert solcher Konflikte sind seit 1990 ausgebrochen, doppelt so viele wie in den Jahrzehnten davor. Sie haben mehr als fünf Millionen Menschen das Leben gekostet, Dutzende von Millionen zu Flüchtlingen gemacht, Scharen von Waisen hinterlassen und weite Regionen verwüstet.
Die Opfer und Zerstörungen gehen nur zu einem geringen Teil auf das Konto von Panzern und Artillerie, Hubschraubern und Jets, die gewöhnlich mit moderner Kriegführung assoziiert werden. Erobert und getötet wird nach wie vor hauptsächlich mit Handfeuerwaffen und Granaten. Wie gedeihlich es auch immer ist, dass sich zwei Großmachtblöcke nicht mehr feindlich gegenüberstehen – seit dem Fall des Eisernen Vorhangs ergoss sich aus den obsolet gewordenen Arsenalen eine verderbliche Schwemme von Kleinwaffen über die Welt, in der offenbar die Bereitschaft, lokale Streitigkeiten gewaltsam auszutragen, erheblich zugenommen hat.
Jahrzehntelang konzentrierten sich die Bemühungen der Rüstungskontrolle auf die nuklearen und komplexen konventionellen Waffensysteme, mit denen Ost und West ein gewaltiges Abschreckungs- und Zerstörungspotenzial aufbauten. Über den weltweiten Handel mit Kleinwaffen (Pistolen, Revolver, Gewehre, Maschinenpistolen und -gewehre sowie kleinkalibrige Granatwerfer und andere Feuerwaffen, die ein bis zwei Mann zu tragen vermögen) war hingegen kaum etwas bekannt. Erst seit wenigen Jahren untersuchen wir und auch andere Friedens- und Konfliktforscher, warum diese Waffen so leicht verfügbar sind und welche Auswirkungen sie auf die Gesellschaften haben, die mit ihnen überschüttet werden. Die ersten Ergebnisse waren so bestürzend, dass sich die Vereinten Nationen, einige Regierungen sowie Nichtregierungsorganisationen an einer neuen Abrüstungsinitiative beteiligen.
Schwunghafter Handel
Kleinwaffen sind die Mittel der Wahl in den meisten internen Konflikten: Sie sind allgemein zugänglich, relativ billig sowie einfach zu bedienen und zu transportieren; und gerade mit ihnen lässt sich gezielt töten. Große und aufwendige Rüstungsgüter wie Geschütze, Panzer, Raketen und Kampfflugzeuge werden fast ausschließlich von regulären Armeen angeschafft. Hingegen sind Handfeuerwaffen sowohl bei Streit- und Ordnungskräften, insbesondere der Polizei, als auch in der Zivilbevölkerung weit verbreitet. Denn je nach Waffengesetz (falls es derartige Bestimmungen im jeweiligen Land überhaupt gibt und sie auch durchgesetzt werden) dürfen Bürger Pistolen und Jagdwaffen oder sogar militärische Sturmgewehre besitzen. Schon das erleichtert illegale Zugriffe.
Der Handel mit Großwaffen ist seit Ende des Kalten Krieges rückläufig; Kleinwaffen – auch gebrauchte – verkaufen sich aber weiterhin gut. Nur hat keine Organisation, ob öffentlich oder privat, genaue Kenntnis von den Transaktionen, zumal das Problem erst neuerdings mehr Aufmerksamkeit erregt. Für den legalen Erwerb von derartigem "Schießzeug" werden pro Jahr wohl zwischen sieben und zehn Milliarden Dollar ausgegeben. Über den Schwarzmarkt kommen sicherlich weitere zwei bis drei Milliarden Dollar hinzu. Weil es kaum verlässliche aktuelle Zahlen gibt, ist ein Vergleich mit Statistiken aus der Zeit des Kalten Krieges erschwert. Immerhin weisen Studien aus dem südlichen Afrika und vom indischen Subkontinent darauf hin, dass zum Beispiel das Angebot an modernen Sturmgewehren während der neunziger Jahre erheblich zugenommen hat.
Regierungen regeln den Transfer großer Mengen von Kleinwaffen durch offizielle Militärhilfe für verbündete oder befreundete Länder, aber auch durch verdeckte Operationen. Westliche und ehemals kommunistische Länder haben, weil ihre Armeen mittlerweile geschrumpft sind, überschüssige Rüstungsgüter dieser Art an nahezu jeden Interessenten geliefert. Die meisten werden jedoch von privaten Firmen völlig legal im Rahmen normaler Handelsbeziehungen verkauft. Obwohl dieser Markt eigentlich reguliert und kontingentiert ist, achten nur wenige Staaten auf striktes Einhalten der Bestimmungen. So haben die USA auf dem Papier eines der schärfsten Kontrollsysteme; aber die amerikanische Rüstungsindustrie exportierte 1998 (dem letzten Jahr, aus dem Statistiken vorliegen) Kleinwaffen und zugehörige Munition im Wert von 478 Millionen Dollar in 124 Länder. Davon waren allein 30 in einen Krieg oder Bürgerkrieg verwickelt, und in mindestens fünf dieser Länder wurden US- oder UN-Soldaten bei friedenserhaltenden Einsätzen mit eben solchen Waffen amerikanischer Produzenten bedroht oder gar beschossen.
Wir fanden nur wenige amtliche Angaben über Menge oder Wert der von anderen Staaten vertriebenen kleinen und leichten Waffen. Anhand der Inventare von Militär- und Polizeikräften in der ganzen Welt waren aber die Hauptlieferanten ausfindig zu machen: Russland mit dem AK-47-Sturmgewehr und dem Folgemodell AK-74, China mit einer Nachahmung des AK-47, bekannt als Typ 56, Belgien mit dem FAL-Sturmgewehr, Deutschland mit dem Gewehr G3 und die USA mit dem Gewehr M16 sowie Israel mit der Uzi-Maschinenpistole.
Handfeuerwaffen wie das AK-47 sind billig und einfach herzustellen und extrem lange haltbar. Sie werden in großem Umfang in mehr als 40 Ländern produziert und in vielen Weltgegenden zu Spottpreisen offeriert. In Angola beispielsweise kann man ein gebrauchtes AK-47 schon für 15 Dollar bekommen – oder für einen großen Sack Mais. Kosten sind ein entscheidender Faktor: Viele Parteien in gewaltsamen internen Konflikten sind arm und haben keinen Zugang zum legalen Waffenmarkt; also nutzen sie Sonderangebote unter der Hand.
Die inflationäre Verbreitung von Maschinenpistolen und automatischen Gewehren hat paramilitärischen Gruppen eine Feuerkraft verliehen, die in vielen Fällen jener der jeweiligen nationalen Polizeikräfte entspricht oder sie gar übersteigt. Moderne Sturmgewehre geben Salven von mehreren hundert Schuss pro Minute ab. Ein einzelner Kämpfer kann damit Dutzende oder gar Hunderte von Menschen innerhalb kürzester Zeit töten. Der Hagel von Geschossen macht sie auch in der Hand von untrainierten Zivilisten und selbst Kindern äußerst gefährlich. Der effektive Einsatz etwa früherer Heereskarabiner erforderte Körperkraft und präzises Zielen; eine leichte automatische Waffe kann schon ein neun- oder zehnjähriger Junge tragen und bedienen. Tatsächlich werden Kinder und Halbwüchsige als Kombattanten bei vielen Scharmützeln in der Dritten Welt an vorderste Front geschickt (Teil 3 dieses Reports in Spektrum der Wissenschaft 10/2000).
Leichte Verfügbarkeit begünstigt die Eskalation der Gewalt
Die jährlichen militärischen Aufwendungen in aller Welt betragen rund 850 Milliarden Dollar. Gemessen daran scheint der Umsatz von Kleinwaffen, selbst wenn dafür zehn Milliarden Dollar veranschlagt werden, geringfügig. Doch sie haben unverhältnismäßig desaströse Auswirkungen auf die globale Sicherheit. Ihr blindwütiger Einsatz ruiniert die Lebensgrundlagen in weiten Landstrichen und erhöht die Anforderungen an die internationale Solidargemeinschaft, an humanitäre Hilfsorganisationen und an UN-Friedenstruppen drastisch. So nahmen die Hilfsleistungen für Konfliktregionen in der letzten Dekade um rund 400 Prozent zu; ihr Wert beträgt nun jährlich rund fünf Milliarden Dollar. Programme für nachhaltige Entwicklung mussten aber akuter Notmaßnahmen wegen eingeschränkt werden. Leichte Bewaffnung genügt, dass Banden und Milizen die mit Steuermitteln und Spenden aus anderen Ländern finanzierten Anstrengungen zur Behebung von Armut, Seuchen und Unwissenheit zunichte machen können. Der Zusammenhang zwischen der Verfügbarkeit von Kleinwaffen und dem Ausbruch beziehungsweise der Intensität von Konflikten wurde auf besonders dramatische Weise in Westafrika offenkundig.
Der erste paradigmatische Fall war Liberia. Am Heiligen Abend 1989 fielen, geführt von Charles Taylor, etwa hundert Rebellen in das Land ein, die meisten bewaffnet mit AK-47-Sturmgewehren. Innerhalb von Monaten hatten sie Gewinn trächtige Mineralvorkommen und Edelholzbestände erobert. Taylor dachte indes gar nicht daran, die erwirtschafteten Devisen in Artillerie und gepanzerte Fahrzeuge zu investieren, denn die logistischen Schwierigkeiten einer wohlgerüsteten Armee hätte sein schlecht ausgebildetes und undiszipliniertes Gefolge niemals bewältigt. Vielmehr warb er weitere Insurgenten an und orderte für sie einige Schiffsladungen automatischer Handfeuerwaffen und raketengetriebener Granaten sowie Maschinengewehre. Auf diese Weise hielt er die irregulären Trupps beweglich und vermochte 1990 die Regierung von Präsident Samuel Doe zu stürzen (der zehn Jahre zuvor in einem herkömmlichen, wenngleich ebenfalls blutigen Staatsstreich an die Macht gekommen war). Die Kämpfe dauerten allerdings noch sieben Jahre an.
Wie moderne Kleinwaffen eine rasche Eskalation der Gewalt begünstigen, zeigte sich in der entscheidenden Phase dieses Bürgerkrieges. Eine westafrikanische Friedenstruppe suchte vergeblich, die Kämpfe in Liberia zu beenden; aber weil Ghana dafür Soldaten gestellt hatte, ermordeten Taylors Rebellen im August 1990 an einem einzigen Tag in dem Dorf Marshall etwa 1000 ghanaische Immigranten. Regierungstreue Truppen massakrierten wiederum 600 Angehörige der mit Taylor sympathisierenden Gio- und Mano-Volksgruppen, die in einer Kirche der Hauptstadt Monrovia Zuflucht gesucht hatten.
Nach dem Putsch griff der Terror auch auf das benachbarte Sierra Leone über. Dort ging der enttäuschte Armeeoffizier Foday Sankoh 1991 eine informelle Allianz mit Taylor ein. Schon bald fand ein reger Austausch von Waffen und Kämpfern über die Grenze statt. In den Folgejahren verloren in Sierra Leone mehr als 50000 Menschen das Leben, weitere 100000 wurden verletzt und verstümmelt. Erst im Sommer 1999 gelang es den Vereinten Nationen gemeinsam mit westafrikanischen Friedenstruppen, den Bürgerkrieg offiziell zu beenden und für beide Länder Abrüstungsabkommen zu vereinbaren.
In Liberia konnten daraufhin bis Oktober 1999 ungefähr 20000 Kleinwaffen sowie mehr als drei Millionen Schuss Munition eingesammelt und zerstört werden. Aus Sierra Leone berichteten indes Angehörige der Vereinten Nationen, ehemalige Rebellen ergäben sich zwar den Friedenstruppen, händigten ihre Waffen aber trotz eines Anreizes von 300 Dollar pro Stück nicht aus. Neuerdings sind denn auch wieder Kämpfe aufgeflammt.
In Ruanda verlief die Eskalation nach fast gleichem Muster, nur steigerte sie sich bis zum Genozid. Die Hutus, seit je in der Mehrheit, hatten die Tutsi-Oberschicht zwar schon zwischen 1959 und 1961 entmachtet. Doch der Hass blieb und stürzte das kleine Land, eines der ärmsten der Welt, auch nach der Unabhängigkeit und der Trennung von Burundi immer wieder in Wirren. Gleichwohl statteten Frankreich, Ägypten und Südafrika die Regierungsseite reichlich mit Kleinwaffen aus; die von den Tutsi dominierte oppositionelle Rwandan Patriotic Front (RPF) wurde von Uganda und China beliefert. So konnten Regierungstruppen, als sich die Spannungen 1994 neuerlich entluden, die RPF mit Granatwerfern und Maschinengewehren aufhalten, während Hutu-Milizen mit Buschmessern das eigentliche Mordwerk verrichteten. Es endete erst, als die meisten Tutsi getötet waren, die nicht rechtzeitig in RPF-kontrollierte Gebiete zu fliehen vermochten.
Alarmierende Trends
Brutale Gewalt ist für ethnisch und religiös motivierte Auseinandersetzungen geradezu typisch geworden. Sind die rivalisierenden Gruppen erst einmal gerüstet, genügt der geringste Anlass, um ein furchtbares Blutbad auszulösen. Die Verfügbarkeit automatischer Waffen selbst in entlegenen und schwer zugänglichen Gebieten wie dem südlichen Sudan oder dem östlichen Kongo erschwert es der internationalen Gemeinschaft, die Streitparteien an den Verhandlungstisch zu bringen und zu verhüten, dass nach einem Waffenstillstand wieder Scharmützel aufflackern. Frieden zu stiften hat sich als besonders schwierig in Ländern wie Angola und Sierra Leone erwiesen, wo auf dem Schwarzmarkt Diamanten und andere überall leicht absetzbare Güter für Schusswaffen und Munition geboten werden können.
Ethnische und religiöse Konflikte der Gegenwart, so komplex und unterschiedlich sie sein mögen, wurzeln meist in historischen Gegensätzen. Zu ihrer Zuspitzung tragen außer ökonomischer Rückständigkeit und dem Fehlen demokratischer Regeln insbesondere demagogische Führer bei. Zugang zu Waffen ermutigt dann die Kontrahenten, eher eine gewaltsame als eine friedliche Lösung anzustreben. Das erhöht die Unsicherheit, was wiederum die Nachfrage nach mehr Waffen anheizt und ihren Einsatz nahe legt. Billige Kleinwaffen sind nicht die Ursache, dass offene Feindseligkeiten ausbrechen. Aber Rote-Kreuz-Mitarbeiter schätzen, dass damit mehr als 60 Prozent aller Verletzungen und Tötungen bei internen Konflikten oder Kriegen verursacht werden – also weit mehr als durch Handgranaten, Landminen, tragbare Granatwerfer, Artillerie und Großwaffensysteme zusammen; und sie verlängern oft die Kämpfe. Ein weiterer Effekt ist, dass häufig die gesamte Bevölkerung in Mitleidenschaft gezogen wird.
In einer umfangreichen Studie über die Proliferation dieser Rüstungsgüter machte das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) 1998 höchst beunruhigt auf drei Trends aufmerksam.
- Zum einen werden bei regionalen gewaltsamen Konflikten zunehmend Zivilisten verletzt und getötet, darunter Frauen und Kinder. Vielfach sind schon 60 bis 80 Prozent aller Opfer solche wehrlosen Unbeteiligten. Schlecht ausgebildete und undisziplinierte Kampftrupps wissen kaum etwas von den international gültigen Regeln der Genfer Konventionen oder schießen gar absichtlich auf flüchtende oder in Panik zusammenlaufende Menschenmengen.
- Zum zweiten macht die Guerillataktik Schule, bestehendes Elend noch zu verschärfen. So müssen internationale Hilfsprogramme immer häufiger ausgesetzt werden, weil Kombattanten das Personal vor Ort angreifen. In den neunziger Jahren wurden allein in Tschetschenien und Ruanda mehr als 40 Rote-Kreuz-Helfer getötet, hingegen nur 15 in allen kriegerischen Konflikten zwischen 1945 und 1990.
- Drittens bleiben viele in sich zerstrittene Gesellschaften in einer Kultur der Gewalt gefangen, auch wenn der offene Konflikt formal beendet wurde. Für junge Männer, die außer Kampf und Plünderung nichts gelernt und wenig erlebt haben, sind dann Waffen sowohl Statussymbole als auch die Mittel zur Beschaffung des Lebensunterhalts. Manche gehen auf eigene Faust auf Raub aus, andere schließen sich kriminellen Banden an.
Die IKRK-Studie beruht unter anderem auf Interviews mit Einsatzkräften des Roten Kreuzes und auf der Analyse medizinischer Daten aus Feldlazaretten. In Afghanistan beispielsweise nahmen Verletzungen durch Kleinwaffen nach dem Bürgerkrieg nur um ein Drittel ab, die Todesfälle sogar zu. In vielen von blutigen Auseinandersetzungen heimgesuchten Ländern haben nach Einstellung der Kämpfe auch bis zu 70 Prozent der Zivilisten militärische Feuerwaffen, hauptsächlich Sturmgewehre der Typen M-16 und AK-47. Von El Salvador bis Südafrika ähneln sich die Umstände fatal: Im mühsam ausgehandelten Frieden ist die kriminelle Gewalt noch lange Zeit extrem hoch.
Die Verluste an Leben und Gesundheit von Menschen, die materiellen Einbußen und die chaotischen sozialen Verhältnisse, die mit Kleinwaffen verursacht werden, haben mittlerweile auch füh-rende Politiker alarmiert. Im Juli 1998 kamen in Oslo 21 Staaten – darunter Brasilien, Deutschland, Großbritannien, Japan, Mexiko, Südafrika und die USA – überein, gemeinsam die Weiterverbreitung einzudämmen. Auch die Vereinten Nationen riefen ihre Mitgliedsstaaten dazu auf, die gesetzlichen Regelungen von Rüstungsexporten zu verschärfen und bei der Bekämpfung des illegalen Handels mit Kleinwaffen zu kooperieren. Trotz weitgehender Übereinstimmung, dass etwas getan werden müsse, herrscht aber beträchtliche Unsicherheit darüber, was genau im Einzelnen. Des ungeachtet beginnen Experten, praktische und am ehesten durchzusetzende Methoden zur Drosselung der Proliferation zu entwickeln.
Die meisten Befürworter von Kontrollmaßnahmen streben dabei nicht mehr ein allumfassendes internationales Abkommen an. Zwar schien der Vertrag zur Ächtung von Anti-Personen-Minen, als er 1997 unterzeichnet wurde, als Muster dienen zu können. Jedoch würde ein totales Verbot zwischenstaatlicher Transfers von Kleinwaffen keinesfalls von den Ländern unterstützt, die zur Ausrüstung von Militär und Polizei auf Importe angewiesen sind; zudem erachten viele Staaten mit entwickelter Rüstungsindustrie, so China und Russland, Waffen als legitime Wirtschaftsgüter und wollen ihre Exporte nicht beschränken lassen. Favorisiert wird deshalb der Ansatz, erst einmal die vordringlichen Ziele zu verfolgen, nämlich den illegalen Waffenhandel zu verhindern und den legalen strenger zu kontrollieren. Begleitend sollen in armen, tief gespaltenen Gesellschaften demokratische Reformen und die ökonomische Entwicklung gefördert werden.
Herausforderung für die Rüstungskontrolle
Schon dies sind anspruchsvolle Vorhaben. Noch gibt es keinen weithin anerkannten Katalog von Maßnahmen, sie umzusetzen. Experten für Probleme der Rüstungskontrolle stimmen aber in fünf Grundprinzipien überein.
- Erstens müssen Informationen über den globalen Handel mit Kleinwaffen rasch allseits zugänglich gemacht werden. So ließen sich gefährliche Trends wie der Aufbau von Arsenalen in Spannungsgebieten erkennen sowie lokale und regionale Importbeschränkungen vereinfachen und vereinheitlichen. Einzelne Anbieterstaaten veröffentlichen bereits manche Angaben über ihre Lieferungen; begonnen hatten damit die USA und Kanada. Ein internationales Berichtssystem gibt es aber zur Zeit noch nicht. Die einzige Einrichtung dieser Art, das Register der Vereinten Nationen, verzeichnet lediglich Großwaffen.
- Zweitens sollen die Hauptlieferländer strenge Standards für den legalen Export schaffen. Zwar stellen viele Staaten Kleinwaffen her, doch dominiert nur ungefähr ein Dutzend auf dem internationalen Markt. Dazu gehören die fünf ständigen Mitglieder des Weltsicherheitsrates – die USA, Russland, China, Großbritannien und Frankreich – sowie einige andere europäische, asiatische und lateinamerikanische Länder. Würden sich diese auf ein gemeinsames System von Exportkontrollen einigen, nähmen die Verkäufe in instabile Regionen erheblich ab. Zwar könnten so nicht auch alle geheimen Kanäle verstopft werden, aber der größte Teil der Transaktionen stünde unter internationaler Aufsicht.
- Drittens kann keinerlei Regelung des Angebots ohne Verringerung der Nachfrage voll wirksam werden. Beispielhaft gelang das schon in einer Region, in der einige der schlimmsten Konflikte der neunziger Jahre ausgetragen wurden: Auf Initiative von Alpha Oumar Konaré, dem visionären Präsidenten von Mali, beschloss die Wirtschaftsgemeinschaft westafrikanischer Staaten 1998 ein dreijähriges Moratorium für Import, Export und Herstellung von Kleinwaffen. Damit hat erstmals eine Gruppe von Abnehmerländern eine derartige Maßnahme beschlossen. Die Mitgliedsstaaten der Southern African Development Community haben das ebenfalls schon erwogen; und Vertreter etlicher ostafrikanischer Staaten trafen sich im März dieses Jahres in Kenia, um einen solchen Schritt immerhin zu diskutieren.
- Viertens muss die Kontrolle des legalen Waffenhandels um Aktionen gegen den schwarzen Markt ergänzt werden. Die Organisation Amerikanischer Staaten verabschiedete 1997 wegen des offenkundigen Zusammenhangs von illegalem Vertrieb und Erwerb von Waffen, Drogenhandel und Gewaltverbrechen eine entsprechende Konvention: Alle Mitgliedsländer sind damit verpflichtet, die unautorisierte Produktion und den verdeckten Transfer von Kleinwaffen unter Strafe zu stellen sowie bei der Austrocknung der dunklen Kanäle zusammenzuarbeiten. Die Vereinigten Staaten haben den Vertrag unterzeichnet, aber der US-Senat hat ihn noch nicht ratifiziert. Trotzdem forderte die Regierung von Präsident Bill Clinton bereits, ähnliche Maßnahmen in der Konvention über transnationale organisierte Kriminalität vorzusehen, die gerade in Wien ausgehandelt wird, damit sie in jeder Region der Welt angewendet werden können. Die Vereinten Nationen wollen die Kooperation auf diesem Gebiet gleichfalls fördern und eine Konferenz über den illegalen Waffenhandel einberufen.
- Fünftens schließlich müssen Friedensabkommen dazu beitragen, die ehemaligen Kombattanten in die zivile Gesellschaft und Wirtschaft zu integrieren. Sonst sind sie versucht, wie sich in Angola, Ruanda, Somalia und anderwärts gezeigt hat, Karriere als Söldner, gedungene Rebellen oder Banditen zu machen. Die Europäische Union und die Weltbank sagten Hilfe bei der Entwicklung entsprechender Ausbildungsprogramme für Konfliktregionen Afrikas und Lateinamerikas zu. Das außerdem nötige Sammeln und Vernichten gebrauchter oder überschüssiger Waffen ist sicherlich besonders schwer durchzusetzen; einzelne Staaten und Nichtregierungsorganisationen haben dafür allerdings Aktionen mit finanziellem Anreiz entworfen oder schon erprobt.
Keine dieser Maßnahmen kann für sich allein die Gefahren durch unkontrollierte Verbreitung von Kleinwaffen abwenden. Das Problem ist viel zu komplex. Es war indes keineswegs leichter, Kontrollmechanismen gegen die Proliferation nuklearer, chemischer oder biologischer Waffen zu ersinnen, zu vereinbaren und durchzusetzen. Die Weltgemeinschaft muss der Plage mörderischer Feuerkraft in unzähligen Händen entgegen steuern. Kommt sie über die ersten Ansätze dazu nicht hinaus, sind noch schlimmeres Blutvergießen und größeres Chaos in vielen Regionen zu erwarten als bisher.
Literaturhinweise
Kleinwaffen – ein neues Thema auf der Rüstungskontrollagenda. Von Torge Kübler und Patricia Schneider in: Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden, Bd. 17, S. 112–118 (1999).
Der EU-Verhaltenskodex für Rüstungsexporte: (K)eine Antwort auf die Kleinwaffenproblematik? Von Sybille Bauer in: Wissenschaft & Frieden, 3/98, S. 60–63.
Light Weapons and Civil Conflict. Von Jeffrey Boutwell und Michael T. Klare (Hg.). Carnegie Commission on Preventing Deadly Conflict series. Rowman and Littlefield Publishers, 1999.
Nations at War: A Scientific Study of International Conflict. Von J. David Singer und Daniel S. Geller. Cambridge University Press, 1998.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 2000, Seite 62
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