Koexistenz von Neandertaler und modernem Homo sapiens
Der anatomisch moderne Mensch lebte bereits vor den Neandertalern im Nahen Osten und hatte mehr als 60.000 Jahre lang einen ähnlichen Lebensstil wie diese. Darum ist die später einsetzende kulturelle Revolution nicht allein auf biologischer Grundlage zu erklären.
Wie aus den Hinterlassenschaften unserer sehr frühen Vorfahren (ihrer materiellen Kultur im Sprachgebrauch der Archäologen) zu erkennen ist, hat sich im westlichen Eurasien zwischen 45000 und 40000 Jahren vor der Gegenwart an ihrer Lebensweise mehr geändert als während der vorausgehenden Million Jahre. Das Inventar an Steinwerkzeugen, das in seinen Grundzügen über viele Generationen hinweg gleichgeblieben war, zeigt von einem Jahrhundert zum anderen und von einer Region zur anderen plötzlich radikale Unterschiede. In dieser Entfaltung technischer und künstlerischer Kreativität sehen heutige Forscher das Auftreten der ersten Kultur, die unzweifelhaft das Attribut „menschlich“ verdient.
Dieses für paläontologische Zeitmaßstäbe revolutionäre Geschehen dient den Wissenschaftlern zur Abgrenzung von Mittel- und Jungpaläolithikum, den beiden letzten Phasen der Altsteinzeit. Warum es sich überhaupt und gerade damals ereignete, ist eine der großen offenen Fragen der Paläoanthropologie. Eine Antwort könnte zur Lösung weiterer Probleme entscheidenden Aufschluß geben, vor allem über die Entstehung des anatomisch modernen Menschen (Homo sapiens sapiens) und deren Ursachen.
Eine Zeitlang war eine einfache biologische Erklärung für die kulturelle Revolution durchaus denkbar: Es gab zwei wohlunterscheidbare anatomische Typen hochentwickelter Hominiden, den untersetzten Neandertaler (benannt nach der ersten Fundstelle zwischen Düsseldorf und Elberfeld) und den schlanker gebauten Cro-Magnon-Menschen (nach der Fundstelle im französischen Département Dordogne); ersterer galt allgemein als der ältere. So lag es nahe, die urtümlicher wirkenden Typen der mittelpaläolithischen und die grazileren der jungpaläolithischen Kultur zuzuordnen.
In Europa, wo die paläoanthropologische Forschung sich zuerst entwickelte, ergab sich daraus ein stimmiges Bild: Die alte, einförmige Moustérien-Kultur findet sich im allgemeinen im Zusammenhang mit den Knochen robuster Menschen, während die jüngere Aurignacien-Kultur mit ihren häufig und erfindungsreich veränderten Werkzeugen eher mit den großen und schlanken Cro-Magnon-Menschen in Zusammenhang gebracht wurde, deren bislang früheste Fossilien etwa 30000 Jahre alt sind. (Die Begriffe Moustérien und Aurignacien beziehen sich auf Fundstätten charakteristischer Leitformen im südwestlichen Frankreich.)
Im Nahen Osten allerdings ließ sich diese saubere Zuordnung nicht durchhalten. Dort kamen Fossilien sowohl vom Neandertaler- als auch vom Cro-Magnon-Typ zutage, darunter solche, die allem Anschein nach älter waren als entsprechende europäische. Beide Typen schienen jedoch zu derselben primitiven materiellen Kultur zu gehören.
Eine neue Chronologie
Wollte man diese Diskrepanz auflösen, mußte man die nahöstlichen Funde zunächst zeitlich einordnen. Das erwies sich als überaus schwierig. Die Relikte sind zu alt, als daß man sie mit dem üblichen Radiokohlenstoff- Verfahren datieren könnte, das nur für etwa 40000 Jahre tauglich ist. Die Isotopenverhältnisse von Uran und Thorium liefern brauchbare Ergebnisse nur für carbonathaltige Sedimente und Fossilien, die mit diesen assoziiert sind; und das Kalium-Argon-Verfahren eignet sich besser zur Datierung von Lavaströmen und Tuffen, die gewöhnlich nur in älteren Schichten vorhanden sind. In Ermangelung einer gesicherten Chronologie hielten es die Anthropologen für angebracht, dem europäischen Schema folgend die robusten Typen als die älteren und als die Vorfahren der grazilen einzustufen. Um diese Hypothese zu prüfen, versammelten wir eine internationale Arbeitsgruppe, die aus verschiedensten Informationsquellen eine Chronologie herleitete. Die Ergebnisse erschütterten das etablierte Bild von der Evolution des Menschen; sie lieferten mehr Fragen als Antworten. Den ersten Ansatz boten die stratigraphischen Beziehungen zwischen allen bekannten Hominiden-Fossilien der nahöstlichen Höhlenfundplätze: Von zwei Skeletten an der gleichen Stelle ist das tieferliegende in der Regel das ältere. Eitan Tschernow von der Hebräischen Universität Jerusalem half dann, diese Informationen mit paläoklimatischen und anderen Daten in Beziehung zu setzen. Demnach lebten in einer der Höhlen vor schätzungsweise 80000 bis 100000 Jahren bereits anatomisch moderne Menschen; zu einem so frühen Zeitpunkt war deren Existenz bis dahin für keinen Ort der Erde postuliert worden. Unsere Hypothese wurde Anfang der achtziger Jahre zunächst verworfen, bald jedoch durch zwei soeben zur Perfektion gereifte radiometrische Techniken bestätigt: Thermolumineszenz und Elektronenspinresonanz (vergleiche „Lumineszenz-Datierung eiszeitlicher Sedimente“ von Ludwig Zöller und Günther A. Wagner, Spektrum der Wissenschaft, April 1992, Seite 40). Die Befunde widerlegten langgehegte Vorstellungen über die Abstammungsbeziehungen. Man konnte die Menschen mit dem untersetzten Körperbau nun nicht mehr als Vorfahren der schlanken ansehen. Ebensowenig war ein gesetzmäßiger Zusammenhang zwischen dem Auftreten des anatomisch modernen Menschen und der kulturellen Revolution des Jungpaläolithikums aufrechtzuerhalten. Unter den in der Levante nachweisbaren Vertretern des Homo sapiens sapiens hatten die ältesten einen Lebensstil, der von dem archaischer Menschen nicht zu unterscheiden ist: Die Artefakte in den zugehörigen Fundschichten gehören eindeutig zur Moustérien-Kultur. Damit erhebt sich erneut die umfassendere Frage: Wo ist die Spezies Mensch entstanden? Das bemerkenswert hohe Alter etlicher Relikte des grazilen Typus legte eine Verknüpfung mit denen aus den Höhlen Klasies River Mouth und Border Cave in Südafrika nahe; auch diese Fossilien sind wahrscheinlich sehr alt und den Skeletten moderner Menschen ähnlicher als solchen archaischer. Könnten die beiden Gruppen einer einzigen, weitverstreuten Population angehört haben? Einige naturwissenschaftlich geprägte Anthropologen sind davon überzeugt und schließen weiter, der anatomisch moderne Mensch sei in Afrika entstanden und habe dann die archaischen Bevölkerungen in anderen Teilen der Welt verdrängt (siehe „Die Herkunft des anatomisch modernen Menschen“ von Christopher B. Stringer, Spektrum der Wissenschaft, Februar 1991, Seite 112). Kurioserweise kamen ungefähr zur gleichen Zeit, als wir unsere neuen Befunde zur Diskussion stellten, Molekularbiologen zu ähnlichen Schlußfolgerungen. Sie arbeiten nicht mit fossilen Knochen, sondern gleichsam mit einem lebenden Fossil: der Erbsubstanz DNA, aus deren teils rasch wandelbaren, teils kaum veränderlichen Molekülkomponenten sich auf die Evolutionsgeschichte schließen läßt. Aus Vergleichen zahlreicher DNA-Stichproben aus allen Teilen der Welt folgerten einige dieser Forscher, der moderne Mensch sei vor deutlich mehr als 100000 Jahren in Afrika südlich der Sahara entstanden (siehe „Afrikanischer Ursprung des modernen Menschen“ von Allan C. Wilson und Rebecca L. Cann, Spektrum der Wissenschaft, Juni 1992, Seite 72). Andere verwerfen diese unter dem Namen „Eva-Hypothese“ bekanntgewordene Interpretation der genetischen Daten, insbesondere den Stammbaum mit nur einer Wurzel, zugunsten des sogenannten multiregionalen Modells. Demnach wären Vertreter des Homo sapiens sapiens annähernd gleichzeitig an zahlreichen Stellen der Erde aufgetreten, und die Einheit der Art wäre durch Vermischung verschiedener Bevölkerungsgruppen erhalten worden (siehe „Multiregionaler Ursprung des modernen Menschen“ von Alan G. Thorne und Milford H. Wolpoff im gleichen Heft, Seite 80).
Die Höhlenfunde des Nahen Ostens
Die Erforschung der nahöstlichen Hominiden begann 1929 mit einem Fünfjahresprojekt, in dessen Verlauf die Archäologin Dorothy A. E. Garrod von der Universität Cambridge (England) Ausgrabungen in Skhul, Tabun und el-Wad unternahm, drei Höhlen an der Mündung des Wadi el-Mugharah (heutige Bezeichnung Nahal HaMe’arot; Bild 2). Dabei entdeckte sie eine Abfolge prähistorischer Schichten, die für die Chronologie des Oberpleistozäns – des späten Eiszeitalters – in der gesamten Region maßgebend wurde. Die ausgedehnteste Sequenz, die von Tabun, umfaßt volle 23 Meter. Dorothy Garrod klassifizierte die Schichten nach ihren typischen Artefakten; von unten nach oben: oberes Acheuléen (G bis F), Acheulo-Yabrudien (E) und Moustérien (D, C und B sowie die Füllung des Schlotes); somit umfassen sie das ausgehende untere und das mittlere Paläolithikum.
Sie endeckte auch das Skelett einer erwachsenen Frau, die inzwischen als Neandertalerin eingestuft und mit Vorbehalt auf ein Alter von 60000 Jahren datiert wurde. Ob das Skelett der Schicht B oder der Schicht C zuzurechnen sei, war unklar. Der unmittelbar darunter gefundene Unterkiefer eines jungen Erwachsenen gehörte allerdings zweifellos zur Schicht C, scheint jedoch paradoxerweise denen der grazilen Qafzeh-Menschen mehr zu ähneln als solchen von Neandertalern.
In der Höhle von Skhul kam eine höchst erstaunliche Ansammlung mittelpaläolithischer Skelette zutage. Insbesondere das einer Frau muß nach unserer Überzeugung bewußt bestattet worden sein. Dies wäre das älteste Grab, das bisher gefunden wurde. Da solch ein kultiviertes Verhalten ohne begrifflich-symbolisches Denken nicht möglich ist, läßt der Fund indirekt auf Sprachvermögen der Neandertaler schließen. Außerdem sind, wie wir noch zeigen werden, deren Bestattungspraktiken – ebenso wie ihre Steinwerkzeuge – in keiner Weise primitiver als die der grazilen Hominiden, die vor ihnen diese Region besiedelten.
Die erste großangelegte Untersuchung dieser Relikte leiteten Sir Arthur Keith vom Royal College of Surgeons in London und Theodore D. McCown, der später an der Universität von Kalifornien in Berkeley lehrte. Sie betrachteten das gesamte Material aus Skhul und Tabun als Einheit und kamen zu dem Schluß, daß die Skelette als Zwischenform von Neandertaler und modernem Menschen einzuordnen seien. Einige Anthropologen führten das auf Vermischung der Populationen, andere auf eine regionale Sonderentwicklung zurück.
Im selben Jahrzehnt stieß man indes auf überraschende Fossilien in Qafzeh, einer großen Höhle nahe Nazareth, 35 Kilometer Luftlinie vom Karmelgebirge entfernt. Zwischen 1933 und 1935 führten René Neuville, französischer Konsul in Jerusalem und Mitglied des Instituts für Paläontologie des Menschen in Paris, und Moshe Stekelis von der Hebräischen Universität dort gemeinsam Ausgrabungen in mittelpaläolithischen Schichten nahe dem Eingang und auf der Terrasse vor der Höhle durch; aus mehr als vier Meter mächtigem Schuttmaterial bargen sie auch einige menschliche Relikte.
Wenngleich Neuville und Stekelis keine detaillierten Beschreibungen dieser Fossilien veröffentlichten, glaubte Neuvilles Institutskollege Henri Vallois sie doch als frühe (nicht-klassische) Neandertaler einstufen zu können. In den fünfziger Jahren äußerte hingegen F. Clark Howell aus Berkeley die Vermutung, daß die moderner aussehenden Skelette mit ihren gerundeteren Hirnschädeln und flacheren Gesichtern die Vorfahren der europäischen Cro-Magnon-Menschen gewesen sein könnten; aus diesem Grund bezeichnen viele Anthropologen sie als Proto-Cromagnoide.
In den fünfziger und sechziger Jahren kam weiteres mittelpaläolithisches Material im Nahen Osten zutage. Ralph S. Solecki, damals an der Columbia-Universität in New York, grub zwei Gruppen von Skeletten in der Shanidar-Höhle am Rande des Zagros-Gebirges im Irak frei. Beide stammen von Neandertalern und zeigen Indizien für menschliches oder gar im engeren Sinne humanes Verhalten: In einem Fall hatte ein Mann offenbar längere Zeit den Verlust eines Armes überlebt, was ohne unterstützende Fürsorge mit Sicherheit nicht möglich gewesen wäre; im anderen waren es wiederum eindeutige Hinweise auf bewußte Bestattung. Ein ähnliches Grab entdeckte Hisashi Suzuki von der Universität Tokio in der Amud-Höhle nahe dem See Genezareth.
Somit ergab sich in den siebziger Jahren eine relativ klare Einordnung der nahöstlichen oberpleistozänen Fossilien und ihrer Abstammung: Die Neandertaler aus dem westlichen Asien, repräsentiert durch die Skelettreste aus den Höhlen von Tabun, Amud und Shanidar, entwickelten sich – so die Hypothese – zu den lokalen Proto-Cro-Magnon-Menschen von Skhul und Qafzeh.
Zur Erklärung des nächsten Stadiums, ab etwa 40000 Jahre vor der Gegenwart, gab es zwei konkurrierende Theorien: Nach der „Arche-Noah-Theorie“ breitete die im Nahen Osten ansässige Population anatomisch moderner Menschen sich bis nach Europa aus, wo sie die dort lebenden Neandertaler verdrängte oder sich mit ihnen kreuzte. Dagegen postuliert die „Neandertaler-Phasen-Theorie“, daß Neandertaler sowohl in Asien als auch in Europa sich ohne nennenswerte Wanderungsbewegungen zu modernen Formen entwickelten. So benannt wurden die Modelle von William W. Howells von der Harvard-Universität in Cambridge (Massachusetts); beide bestehen mit Modifikationen aufgrund unserer neuen Befunde unter den Namen „Eva-“ beziehungsweise „multiregionale Hypothese“ bis heute fort.
Neuere Forschungen
In den sechziger Jahren wurde den Paläontologen und anderen Forschern immer klarer, daß die Stratigraphien der levantinischen Fundstätten viel komplexer waren als bisher angenommen. Wir nahmen darum in den Höhlen des Karmelgebirges das ganze Arsenal moderner Grabungstechniken zu Hilfe: Sämtliche Fos-silfragmente und menschlichen Artefakte wurden in einem dreidimensionalen Koordinatennetz lokalisiert (Bild 3 links); Geologen und Mikrobiologen untersuchten die Schichten darauf, ob der Boden in späterer Zeit durchwühlt und damit die Abfolge gestört woren war; zur Rekonstruktion der Klimabedingungen wurden Pollen und andere mikroskopische Spuren analysiert.
Systematische Nachuntersuchungen dieser Art fanden zunächst in Tabun statt, wo die mächtige Schichtenfolge eine hervorragende Langzeitaufzeichnung des kulturellen Wandels birgt. Arthur J. Jelinek von der Universität von Arizona in Tucson arbeitete dort zwischen 1967 und 1972, später gefolgt von Avraham Ronen von der Universität Haifa (Israel). Einer von uns (Vandermeersch) grub von 1965 bis 1979 in der Höhle von Qafzeh; der andere schloß sich dem Projekt während der letzten beiden Kampagnen an.
In Tabun wurden aufschlußreiche geologische Befunde erhoben und sehr gut erhaltene Steinwerkzeuge entdeckt, allerdings kaum Nagetier-Fossilien, die bei der Rekonstruktion der Umwelt und zeitlichen Einordnung der Schichten sehr dienlich sind. Sie finden sich in Höhlen jedoch nur als Reste verwester Gewölle von Schleiereulen – und auch nur dann, wenn keine Menschen die scheuen Vögel vergrämt haben.
Bei der eingehenden Untersuchung der Steinwerkzeuge stellte Jelinek fest, daß die Abschlaggeräte (flake tools) um so schlanker und feiner wurden, je jünger die Fundschicht war. Trägt man das Verhältnis von Länge zu Dicke gegen die hypothetische Zeitskala für Tabun auf, ergibt sich in der entstehenden Kurve ein Knick: In der entsprechenden Phase muß der Prozeß sich plötzlich beschleunigt haben. Jelinek deutete dies als Zeichen eines evolutionären Übergangs vom Neandertaler zum modernen Menschen.
Die Zeitskala hatte William R. Farrand von der Universität von Michigan in Ann Arbor aus den Sedimentablagerungen in der Höhle rekonstruiert. Die mächtige Sandschicht, die den größten Teil der Schichten G, F und E umfaßt, führte er auf Dünen zurück. Demnach hätte damals das Meer bis kurz vor den Höhlenausgang gereicht; das müßte also während der letzten Zwischeneiszeit vor rund 100000 Jahren gewesen sein, als durch das Abschmelzen der Polareiskappen der Meeresspiegel höher war als heute. Die Lößerde von Schicht D interpretierte er als Kennzeichen kälteren Klimas vor rund 75000 Jahren während der Moustérien-Periode. Der obere Teil der Sedimente, die Schichten C und B sowie die Füllung des Schlotes, hätten sich erst in dem Zeitraum von 55000 bis 40000 Jahren vor der Gegenwart angesammelt, als nach der Öffnung des Schlotes die charakteristische mediterrane Terra rossa (rote Erde) durch Regen eingewaschen werden konnte.
Die Rekonstruktion geriet jedoch bald in Widerspruch zu den Faunenbefunden von Tabun und Qafzeh. Tschernow, der die Analysen zum größten Teil durchgeführt hat, entdeckte, daß in Qafzeh in den Schichten mit menschlichen Fossilien auch Nagetierknochen einiger archaischer Arten zu finden waren, die es in Tabun C nicht gab. Die beiden Hominiden-Gruppen können also kaum zur selben Zeit gelebt haben. Deshalb mußten wir unsere Annahmen zur Stratigraphie der Höhlen und den dort gefundenen Fossilien neu überdenken.
Es gibt mindestens drei Bestattungen anatomisch moderner Menschen in Qafzeh. Ihre Plazierung in den Sedimenten schien uns der beste Anhaltspunkt für ihr Alter.
Ein Grab ist das eines Erwachsenen. Das Skelett lag mit teilweise angewinkelten Knien auf der rechten Seite in einer kleinen natürlichen Nische in der Kalksteinwand.
Das zweite ist die einzige Doppelbestattung, die aus dem Mittelpaläolithikum bekannt ist (Bild 1): Das Skelett einer achtzehn- bis zwanzigjährigen Frau wurde auf der Seite liegend gefunden, die Hände über dem Unterleib gelegt und die Beine halb angezogen, und zu ihren Füßen lag – rechtwinklig zu ihrem Körper – das eines etwa sechsjährigen Kindes. Da die beiden Skelette horizontal lagen, ihre Anordnung die Schichtgrenzen des Fundplatzes durchbrach und plausibel in eine rechteckige Vertiefung paßte, nimmt man an, daß die beiden Toten tatsächlich in einer eigens ausgehobenen Grube bestattet wurden.
Das dritte Grab, das eines etwa 13jährigen Knaben, ist eine Höhlung, die in das weiche Grundgestein gehauen worden war. Der Körper war auf den Rücken gelegt worden, während der Kopf an der Wand lehnte und die Hände in den Ellenbogen nach oben gewinkelt waren. Eine große Geweihstange eines Damhirsches war über die Hände gelegt worden, quer über den oberen Teil des Brustkorbes – zweifellos absichtlich, bevor der Tote mit Erde bedeckt wurde, sonst hätten wohl die Hyänen die Anordnung zerstört. Man kann nicht behaupten, daß die anatomisch modernen Menschen dieser Zeit sich in ihren Bestattungsbräuchen und Werkzeugen wesentlich von ihren neandertaler-ähnlicheren Nachfolgern unterschieden.
Die Fülle an Nagetierknochen in den unteren Schichten erweist, daß Menschen während dieser Zeit nicht ununterbrochen in der Höhle lebten, sondern vielleicht nur zu gewissen Jahreszeiten. Jedenfalls müssen sie auf der Suche nach Nahrung, wie aus Überresten zu ersehen ist, nach Osten bis ins Jordantal und nach Westen bis zur Mittelmeerküste gelangt sein, etwa 40 Kilometer entfernt. Es fanden sich auch durchbohrte Schalen von Herzmuscheln der Gattung Glycymeris. Wozu hätten die Löcher dienen sollen? Doch wohl nur, um eine Schnur für eine Halskette oder ein Amulett hindurchzuziehen. Dies läßt abermals auf die Fähigkeit zu symbolischem Denken schließen.
Schließlich fanden wir noch einen Klumpen roten Ockers, der eindeutige Kratzspuren aufwies. Mittels mikroskopischer Untersuchung der Steinartefakte wies dann John J. Shea, der damals an der Harvard-Universität tätig war, Spuren dieses Minerals an der Arbeitskante verschiedener Werkzeuge nach. In späteren Zeiten war Ocker unter anderem ein wichtiger Farbstoff der Höhlenmaler in Frankreich und Spanien.
Im Jahre 1979, während der letzten Grabungssaison, versuchten wir die Klimafolge zu rekonstruieren. Zuerst verwendeten wir die Nagetierfossilien enthaltenden Schichten von Qafzeh, um die Daten für die Schichten von Tabun zu kalibrieren; die Ergebnisse wandten wir wiederum auf die Schichten von Qafzeh an, die menschliche Fossilien enthalten hatten. Schließlich korrelierten wir die Sequenz mit Befunden aus Isotopen-Untersuchungen von Tiefseebohrkernen. Mit dieser mehrstufigen Verknüpfung samt Fehlerabgleich kamen wir zu unserem oben angeführten Schluß, daß die Qafzeh-Menschen rund 80000 bis 100000 Jahre vor der Gegenwart lebten.
Die Kebara-Höhle
Die heftige Kritik, mit der wir daraufhin überschüttet wurden, veranlaßte uns, nach stützenden Argumenten zu suchen. Zum einen wollten wir neuentwickelte Datierungsverfahren anwenden und zum anderen eine Fundstätte ausfindig machen, deren Erhaltungszustand eine vollständigere Rekonstruktion von Verhaltensmustern der Bewohner erlauben würde; insbesondere interessierten uns Feuergebrauch, Abfallplätze sowie Reste von Pflanzen, welche die Menschen gesammelt, und von Tieren, die sie gejagt, in Fallen gefangen oder als Aas verzehrt hatten. Ein derart vollständiges, nicht nur auf Steinwerkzeugen beruhendes Bild sollte eine fundierte Aussage darüber erlauben, ob die Proto-Cro-Magnon-Menschen und die Neandertaler des Nahen Ostens wirklich zwei verschiedene Populationen oder gar Arten waren.
Dafür war die Kebara-Höhle am westlichen Steilhang des Karmelgebirges aufgrund ihres reichhaltigen und ungestörten Sedimentaufbaus der Grabungsort der Wahl. Sie liegt ungefähr 60 Meter über dem Meeresspiegel; ihr bogenförmiger, nord-nord-westlich ausgerichteter Eingang hatte sich während der paläolithischen Periode kaum verändert, obwohl durch einen späteren Felsrutsch eine schmale Terrasse am vorderen Ende entstand. Wir nahmen unsere Grabungen 1982 auf.
Die Schichten des Jungpaläolithikums waren zum größten Teil in den dreißiger Jahren von Francis Turville-Petre abgetragen worden, einem unabhängigen Gelehrten, der damals mit dem Britischen Archäologischen Institut in Jerusalem zusammenarbeitete. Im Jahre 1951 hatte Stekelis die Grabungen wieder aufgenommen, und im Laufe von 14 Jahren stieß seine Arbeitsgruppe bis in mittelpaläolithische Schichten vor, in denen sie auch das Skelett eines Neandertaler-Babys entdeckte.
Wir untersuchten diese Schichten genauer, insbesondere diejenigen mit Relikten aufeinanderfolgender Perioden menschlicher Besiedlung. Die Steinwerkzeuge ähnelten stark denen von Tabun B und Amud; aufschlußreich ist weniger die Form – die während des Moustérien ohnehin unverändert blieb – als vielmehr die Herstellungstechnik.
Am erstaunlichsten war die 1983 gefundene Bestattung eines erwachsenen Mannes in einer ausgehobenen Grube, die später auf ein Alter von rund 60000 Jahren datiert wurde. Schädel und rechtes Bein mitsamt Fuß fehlten, und eingesickertes Wasser hatte die Knochen des linken Fußes zerstört. Anscheinend war der Schädel absichtlich entfernt worden, nachdem schon das Fleisch verwest war, vielleicht erst viele Monate nach dem Tod des Mannes; anders ist nicht zu erklären, daß die übrigen Knochen einschließlich des Unterkiefers in ungestörter Position verblieben (Bild 6). Gibt es eine andere Begründung für solche Bestattungspraxis als eine religiöse?
Der Kiefer erwies sich als bedeutsamster Fund. Er ist wie der eines Neandertalers geformt, hat aber im Gegensatz zu allen anderen solchen Unterkiefern noch das Zungenbein, den isoliert zwischen Mundboden und geraden Halsmuskeln eingelassenen, U-förmigen Knochen des Kehlkopfskeletts, der auch bei uns heutigen Menschen vorhanden ist. Aus der Form des Fossils schlossen Baruch Arensburg von der Universität Tel Aviv und seine Mitarbeiter, daß der Stimmapparat des Mannes dem des modernen Menschen glich und wahrscheinlich viele der Laute, die zu einer artikulierten Sprache gehören, hervorbringen konnte. Aus der Gestalt des Hüftbeins jedoch schloß Yoel Rak, der ebenfalls an der Universität Tel Aviv arbeitet, daß das Becken des Mannes mehr demjenigen der Neandertaler glich.
Das Zungenbein ist ein rarer Glücksfall. Um auf spezifisch menschliches Verhalten wie etwa Sprache schließen zu können, braucht es im allgemeinen mehr als nur Knochen: Man muß Handlungen aus verwendeten Objekten rekonstruieren. Gewisse Artefakte aus den Moustérien-Schichten bieten dazu recht gute Gelegenheit. Beispielsweise fanden sich viele der Knochen und der beim Werkzeugmachen abgeschlagenen Steinsplitter in der Nähe der Höhlenwand, Überreste einer Feuerstelle dagegen im Zentrum des Raumes (Bild 5). Dieses Muster dokumentiert eine typische Verhaltensweise unserer Art: Reinlichkeit.
Folgerungen
Mit der erwiesenen Existenz anatomisch moderner Menschen im Nahen Osten vor ungefähr 100000 Jahren sind andere westasiatische Fossilien neu zu deuten. Der Homo sapiens sapiens könnte auch ohne große Wanderungsbewegungen einen weitverzweigten Stammbaum haben. Beispielsweise hat Turville-Petre in der Zuttiyeh-Höhle nahe Amud ein 200000 bis 250000 Jahre altes Schädelfragment gefunden, das von einer Population zeugt, von der womöglich die grazilen Menschen von Skhul und Qafzeh abstammten.
Die Neandertaler dagegen scheinen in dieser Region keine Vorfahren gehabt zu haben. Solche sind nur aus Europa bekannt, wo manche der Relikte auf ein Alter von 150000 Jahre datiert wurden. Mangels anderer Fossilien müssen wir vorläufig schließen, daß die Ahnen der Kebara-Neandertaler aus Europa kamen – wohl kaum im Zuge einer raschen Landnahme, sondern eher von Generation zu Generation allmählich vorrückend. Während einer solchen demischen Diffusion dürfte einiges von dem Erbgut der Menschen, die entlang des Verbreitungsweges lebten, mit eingeflossen sein.
Was könnte die Neandertaler zu so langer Wanderung veranlaßt haben? Sie waren zwar als Geschöpfe des Eiszeitalters Kälte gewöhnt, wie ihr gedrungener Körperbau belegt, aber selbst sie vermochten dem arktischen Klima Europas in der Zeit zwischen 115000 und 65000 Jahren vor der Gegenwart mit seinen relativ plötzlichen Einbrüchen von Dauerfrost kaum standzuhalten und wurden so nach Süden gedrängt. Zur Stützung dieser Hypothese könnte man die Ähnlichkeit zwischen Schädeln von Neandertalern des Mittleren Ostens und einem älteren aus Saccopastore in Italien anführen; beruht sie auf Verwandtschaft, dann wäre die Wanderung ungefähr der Mittelmeerküste gefolgt, vielleicht über den Balkan und durch die heutige Türkei.
Wen trafen die Neandertaler, als sie im Nahen Osten ankamen? Einige Hypothesen stehen zur Debatte. Das auch in südlicheren Breiten kältere Klima könnte die dort lebenden grazilen Menschen nach Afrika verdrängt haben, wie es die robusten aus mittleren Breiten in die Levante verschlug, so daß die beiden Gruppen gar nicht in Kontakt kamen. Sofern die Abkömmlinge der grazilen Menschen aber in der Region geblieben waren, könnten sie mit den Neandertalern koexistiert oder sich sogar mit ihnen gekreuzt haben. Einige Wissenschaftler halten das allerdings für unwahrscheinlich und ziehen es deshalb vor, die Gruppen als getrennte Spezies einzustufen.
Normalerweise würden die Paläoanthropologen, um die spärlichen Fossilienbefunde zu ergänzen, das Verhalten der Menschen aus den verschiedenen Methoden der Werkzeugherstellung, der Beschaffung und Zubereitung von Nahrung, aus dem Vorhandensein oder Fehlen von Feuerstellen sowie aus künstlerischen Aktivitäten zu erschließen versuchen. Aber das relevante archäologische Material ist alles andere als schlüssig.
Durch Abschlagen gefertigte Steinwerkzeuge und die Abfallsplitter sind die häufigsten Überreste auf paläolithischen Fundplätzen. Der französische Archäologe François Bordes systematisierte das mittelpaläolithische Material; er erklärte die erkennbaren Unterschiede in den Werkzeuginventaren damit, daß die einzelnen Stämme spezifische Techniken gehabt hätten. Nach Lewis R. Binford von der Southern Methodist University in Dallas (Texas) hätten die Hominiden dieser Zeit dagegen sehr wohl eine einheitliche Population bilden können; unterschiedliche Werkzeuge hätten einfach unterschiedlichen Zwecken gedient.
Daraufhin setzte eine zwanzig Jahre lange, intensive Forschungsaktivität ein: Man fertigte Steinwerkzeuge, benutzte sie für alle möglichen Arbeiten und verglich unter dem Mikroskop die Gebrauchsspuren mit denen der prähistorischen Muster. Trotz aller Mühe blieb jedoch unklar, was mit den Mousterién-Werkzeugen gemacht worden war. Von Ausnahmen abgesehen, schien die Form nichts mit der Funktion zu tun zu haben; beispielsweise wurde mit den sogenannten Schabern, dem häufigsten Werkzeug überhaupt, offensichtlich weit mehr angestellt als nur geschabt.
Die Werkzeugfunde erlauben jedoch den Schluß, daß die Menschen weit vorausplanten. Anscheinend wußten sie zwischen Steinen hoher und minderer Qualität wohl zu unterscheiden. Sie waren bereit, sich besonders geeignetes Rohmaterial von weit her zu beschaffen, und pflegten daraus gefertigte Geräte nicht leichtfertig wegzuwerfen; solche aus minderwertigem Gestein aber ließen sie oft unmittelbar nach dem Zurichten und dem Gebrauch einfach liegen.
Weil viele Gegenden der Levante reich an Feuersteinen sind, hatten die Jäger und Sammler für hochwertige Knollen allenfalls wenige Kilometer zu wandern. Gelegentlich stellten sie das benötigte Werkzeug an Ort und Stelle her; häufig trugen sie die Knollen zurück zur Höhle. Die gewünschte Form erarbeiteten sie durch wiederholtes Abschlagen flachmuscheliger Stücke oder Splitter heraus. Ein fertiges Werkzeug wurde nach Gebrauch gelegentlich nachgeschärft. Die ganze Abfolge der Arbeitsschritte zeugt von weitsichtigem Planen, einem typisch menschlichen Wesenszug.
Außerdem belegen die unverkennbaren Zeichen bewußter Bestattungen in Qafzeh, Skhul, Amud und Kebara, die durchlöcherten Meeresmuscheln in Skhul und Qafzeh und der rote Ocker, der in diesen beiden Höhlen und in der Hayonim-Höhle verwendet wurde, die Fähigkeit zum symbolischen Denken; und das modern aussehende Zungenbein des Neandertalers von Kebara läßt vermuten, daß es bereits eine artikulierte Sprache gab. Hinzu kam der Gebrauch des Feuers. Die mittelpaläolithischen Hominiden hatten mithin alles an Voraussetzungen für eine spezifisch menschliche Lebensweise – aber das Tempo der Innovation war unerklärlich langsam.
Wenn es gelingen sollte, DNA aus gut erhaltenen Knochen von Menschen der Altsteinzeit zu isolieren, wird das vielleicht zur Lösung des Stammbaum-Rätsels beitragen – aber sicherlich nicht die kulturelle Revolution erklären, die das jungpaläolithische Zeitalter einleitete. Dafür müssen die Wissenschaftler vielmehr die Veränderungen im menschlichen Verhalten aus unscheinbaren Spuren in den materiellen Hinterlassenschaften ableiten.
Es bedarf der Hilfe von Geologen, Mikromorphologen und anderen Experten, um die Spuren menschlicher Aktivitäten von denen der Tiere oder solchen anderer natürlicher Ursachen zu unterscheiden. Archäologen müssen die Anordnungen mittel- und jungpaläolithischer Lagerplätze charakterisieren und in den Unterschieden Hinweise auf die Ursachen des explosiven Wandels suchen. Ebenso wie kein Historiker die industrielle Revolution ohne Bezug auf das Zeitalter der Aufklärung erklären könnte, vermag kein Prähistoriker den technologischen Durchbruch vor ungefähr 40000 Jahren zu ergründen und verständlich zu machen, ohne zuerst das Geheimnis des Lebens im Moustérien zu lösen.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1993, Seite 32
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