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Essen und Trinken: Kommentare: Ungerechtfertigte Verteufelung der Kartoffel

Die offiziellen nationalen Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung stimmen in den Grundzügen mit denen überein, die das US-Landwirtschaftsminis­terium in seiner Ernährungspyramide gibt. Deshalb gelten die kritischen Anmerkungen von Willett und Stampfer mit leichten Modifikationen auch für Deutschland. Ein Ernährungsphy­siologe und ein Epidemiologe bewerten sie hier aus heimischer Sicht.


Die Arbeitsgruppen von Walter C. Willett und Meir J. Stampfer an der Harvard School of Public Health haben sich durch ihre wegweisenden Untersuchungen zur Epidemiologie ernährungsabhängiger Krankheiten bleibende Verdienste erworben. Und so treffen weite Teile ihrer hier ausgeführten Anregungen auf breite Zustimmung der Wissenschaftlergemeinschaft auch in Deutschland. Dies gilt etwa für die Empfehlung, sich überwiegend von Vollkornprodukten zu ernähren und vor allem Fette mit hohem Gehalt an Omega-3-Fettsäuren zu verzehren, die in Pflanzenölen und Fischen vorkommen.

Problematisch ist jedoch, wenn Nahrungsmittel verdammt oder empfohlen werden, obwohl sich in prospektiven Kohortenstudien kein Einfluss ihres Verzehrs auf die Gesundheit nachweisen ließ. Das gilt etwa für Gemüse und Obst, bei dem die Nurses Health Study keinen Hinweis darauf liefert, dass sie Dickdarmkrebs vorbeugen. Einen solchen positiven Effekt zeigt jedoch die europäische EPIC-Untersuchung (European Prospective Investigation into Cancer and Nutrition). Für ihn sprechen auch experimentelle Erkenntnisse zur Wirkung von Inhaltsstoffen pflanzlicher Lebensmittel auf die Zellbiologie des Dickdarm-Epithels und seiner bösartigen Transformation bei Krebs.

Offenbar stößt die Aussagekraft der Epidemiologie da an ihre Grenzen, wo – wie in der homogenen US-amerikanischen gastronomischen Kultur – die verzehrte Menge einer bestimmten Nahrungsmittelsorte in der Bevölkerung nicht stark divergiert. Dem steht eine beträchtliche Spannbreite in Europa gegenüber, wo die täglich konsumierten Mengen an Gemüse und Obst bei Männern von 225 Gramm in Nordschweden (Umea) bis 627 Gramm in Sizilien (Ragusa) reichen.

Deshalb lässt sich auch der fehlende Zusammenhang zwischen der Aufnahme von Nahrungsfett und Fettsucht in der Nurses Health Study nicht verallgemeinern. Arbeiten in mehreren Laboratorien haben übereinstimmend gezeigt, dass das Risiko der Fettanhäufung im Körper sehr wohl mit dem Gesamtfett in der Nahrung steigt. Umgekehrt ergaben 16 kontrollierte Studien, dass eine Fettreduktion in der Diät Übergewicht mindert. Deshalb ist es heute in der Stoffwechselforschung unumstritten, dass die Tendenz zur Fettspeicherung im Körper von drei Determinanten des Lebensstils bestimmt wird (wenn man von genetisch fixierten Neigungen absieht): der Gesamtenergieaufnahme, dem prozentualen Fettanteil der Nahrung und der körperlichen Aktivität.

Diese Erkenntnisse beruhen auf biochemischen Daten, die von führenden Stoffwechselforschern weltweit erarbeitet wurden und so verschiedene Gebiete der Physiologie umfassen wie Hunger-Sättigungsmechanismen, den Stoffwechsel von Kohlenhydraten und Fetten im Körper sowie die Beziehungen zwischen Fettaufnahme und Fettoxidation. Offenbar sind sie noch zu neu, um in allen Zirkeln der Ernährungswissenschaft geziemend gewürdigt zu werden.

In ihrem Licht erscheint es jedenfalls äußerst bedenklich, wenn Willett und Stampfer einem unbegrenzt hohen Fettverzehr das Wort reden. Zahlreiche Daten aus der experimentellen Ernährungsforschung, seien sie im Reagenzglas oder am ganzen menschlichen Organismus gewonnen, deuten bei einer übermäßigen Aufnahme von Fetten – und zwar besonders von solchen mit mehrfach ungesättigten Fettsäuren – darauf hin, dass der "oxidative Stress" bedenklich zunimmt.

Die deutsche Position in Sachen gesunde Ernährung wird auf Veranlassung der Bundesregierung durch die Deutsche Gesellschaft für Ernährung erarbeitet. Deren Empfehlungen, die in einem Ernährungskreis zusammengefasst sind, erwachsen aus einem ständigen Dialog zwischen experimentell und klinisch tätigen Ernährungswissenschaftlern mit Epidemiologen. Dadurch wird der Gefahr einer einseitig epidemiologischen Sicht­weise begegnet, der Willett und Stampfer erliegen. Die von ihnen vorgebrachten Argumente sind der Deutschen Gesellschaft für Ernährung schon seit längerem bekannt. Dennoch sah sie bisher keine Veranlassung, sich beispielsweise von der Empfehlung zu verabschieden, magere Milchprodukte zu verzehren; denn zahlreiche klinisch-experimentelle Daten sprechen für eine reichliche Calciumzufuhr zur Osteoporose-Prophylaxe. Auch ein Grundnahrungsmittel wie die Kartoffel vom Teller zu verbannen, erscheint nicht gerechtfertigt; schließlich findet Willetts Methode, einen globalen "glykämischen Index" der Ernährung zu berechnen, keineswegs die ungeteilte Zustimmung der Stoffwechselphysiologen.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 2003, Seite 64
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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