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Essen und Trinken: Kommentare: Wissenslücken lieber eingestehen

Die offiziellen nationalen Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung stimmen in den Grundzügen mit denen überein, die das US-Landwirtschaftsminis­terium in seiner Ernährungspyramide gibt. Deshalb gelten die kritischen Anmerkungen von Willett und Stampfer mit leichten Modifikationen auch für Deutschland. Ein Ernährungsphy­siologe und ein Epidemiologe bewerten sie hier aus heimischer Sicht.


Willett und Stampfer hinterfragen die präventive Wirksamkeit der 1992 vom US-Landwirtschaftsministerium he­rausgegebenen Ernährungspyramide. Diese gilt wie der Ernährungskreis der Deutschen Gesellschaft für Ernährung als offizielle nationale Empfehlung für eine auf Gesundheit und Krankheitsprävention ausgerichtete Lebensmittelauswahl. Auf Dauer werden solche Empfehlungen aber nur dann Gehör finden, wenn dahinter ein stichhaltiger Nachweis mit hoher Beweiskraft (Evidenz) steht. Sowohl die bisherige Ernährungspyramide als auch die von Willett und Stampfer vorgeschlagene Neufassung lassen diesen Nachweis in einigen Punkten vermissen.

Zu den evidenzgeleiteten Bewertungen zählen die "Handbooks For Cancer Prevention" der International Agency for Research on Cancer und die Empfehlungen einiger Organisationen wie der National Institutes of Health der USA oder wissenschaftlicher Fachgesellschaften wie der American Cancer Society und der Diabetesgesellschaften. Insgesamt lassen sie folgende Strukturelemente einer wirksamen Prävention chronischer Erkrankungen durch Ernährung und mit ihr zusammenhängende Faktoren erkennen:

- Eine überragende Bedeutung kommt der körperlichen Aktivität zu; das gilt für Diabetes mellitus, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs.

- Die langfristige Kontrolle des zunächst erreichten adulten Normalgewichts hilft chronische degenerative Erkrankungen vermeiden.

- In den mit Mikronährstoffen wie Vitaminen gut versorgten westlichen Bevölkerungen hat die Einnahme von Supplementen außer bei einigen Risikogruppen nur geringe präventive Wirkungen.

- Ein hoher Gemüse- und Obstverzehr wirkt vorbeugend gegen Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

- Ballaststoffreiche Getreideprodukte sind ebenfalls präventiv wirksam.

Demnach können körperliche Aktivität und Gewichtskontrolle das Risiko vieler chronischer Erkrankungen einschließlich Krebs stark verringern. Eine hohe Aufnahme an Gemüse und Obst ist ein weiteres wichtiges präventives Element. Diese Lebensmittel liefern einen großen Teil der benötigten Nährstoffe. Zu ihrer Zubereitung und Verfeinerung sollten vor allem mehrfach ungesättigte Öle und Fette dienen, die sich als günstig für die Gesundheit herausgestellt haben.

Eine maßvolle Zufuhr von Fleisch erscheint sinnvoll. Das gilt jedoch nicht für Fleischerzeugnisse wie Wurstwaren, die nach systematischen Übersichtsarbeiten auf Basis der bestehenden Studien das Krebsrisiko leicht erhöhen.

Fisch sollte Bestandteil einer ausgewogenen Ernährung sein, da er viel ungesättigte Fettsäuren und Vitamin D enthält. Nüsse haben zwar auch eine günstige Fettsäurenzusammensetzung, fördern jedoch eine Gewichtszunahme.

Nach dem Ernährungssurvey des Robert-Koch-Instituts von 1998 bilden Milchprodukte in der deutschen Bevölkerung die wichtigste Lebensmittelquelle – noch vor Brot, Fleisch oder Süßwaren: Sie sind für etwa 15 Prozent der Kalorien- und über 20 Prozent der Fettaufnahme verantwortlich. Angesichts der Unsicherheit über ihren präventiven Nutzen bieten sie somit ein Einsparpotenzial im Hinblick auf Fett und Kalorien – in Einklang mit den Empfehlungen von Willett und Stampfer.

Problematischer ist dagegen deren Vorschlag, den Verzehr von Grundnahrungsmitteln wie Kartoffeln, Nudeln und Weißbrot einzuschränken, die nach eigenen prospektiven Studien der beiden US-Forscher unabhängig vom Körpergewicht das Risiko für Diabetes mellitus und Herz-Kreislauf-Erkrankungen steigern. Dieser Effekt soll auf dem hohen "glykämischen Index" von raffinierten, leicht resorbierbaren Kohlenhydraten beruhen: Sie lassen den Blutspiegel an Glucose sehr schnell stark ansteigen – eine Herausforderung für den Insulin-Stoffwechsel, dessen Störung Erkrankungen wie Diabetes mellitus begünstigt.

Diese Theorie ist bisher jedoch wissenschaftlich schlecht abgesichert. Zudem ist unklar, ob die hohe Zufuhr von Lebensmitteln mit hohem glykämischen Index auch dann gesundheitsschädliche Wirkungen hat, wenn die Population normalgewichtig ist und sich körperlich betätigt.

Der aktuelle Stand der wissenschaftlichen Diskussion scheint es zu rechtfertigen, Teile der Ernährungspyramide offen zu lassen und sich bei der Lebensmittelauswahl auf die gut abgesicherten Fakten zu konzentrieren. Schon die bisher gewonnenen Erkenntnisse auch tatsächlich umzusetzen, stellt eine besondere He­rausforderung dar. Ein offenes Konzept bietet zudem den Vorteil, dass ein gewisser Spielraum besteht, den energetisch notwendigen Ergänzungsbedarf an Lebensmitteln in der täglichen Ernährung nach dem hedonistischen Prinzip auswählen zu dürfen.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 2003, Seite 65
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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