Kompaktierter Kot - wie der Sauerstoff in die Tiefsee kam
Feinkörnige Substanzen sedimentieren langsamer als grobkörnige; das gilt auch für natürlichen organischen Abfall in den Meeren. Tote planktonische Bakterien und Mikroalgen brauchen demnach viel länger zum Absinken als beispielsweise kompaktierter Kot höherer Meeresorganismen. Vielzeller mit einem muskulösen durchgehenden Darm – zoologisch solche mit einer echten Leibeshöhle – sind aber erst spät im Oberpräkambrium (der Zeit vor 2500 bis 540 Millionen Jahren) entstanden und haben sich dann mit Beginn des Kambriums geradezu explosionsartig aufgefächert.
In der noch fehlenden Bildung von Kotpillen sieht eine Gruppe von Forschern um Graham A. Logan von der Indiana-Universität in Bloomington die entscheidende Ursache für eine Anomalie in der Verteilung der beiden Kohlenstoff-Isotope 12C und 13C zwischen den leicht- und schwerflüchtigen Kohlenwasserstoff-Komponenten der Sedimentgesteine bis kurz vor dem Ende des Oberpräkambriums. Demnach leiten sich die damaligen organischen Ablagerungen offenbar weniger von Substanzen jener Organismen ab, die Photosynthese trieben und Sauerstoff freisetzten (insbesondere Mikroalgen), als vielmehr von solchen, die letztlich vom organischen Material dieser Primärproduzenten lebten ("Nature", Band 376, Seiten 53 bis 56, 6. Juli 1995).
Das Algenmaterial muß, bis es den Grund errreichte, gründlich ab- und umgebaut worden sein, und zwar – wie die Wissenschaftler aufgrund gewisser anderer Indizien vermuten – entscheidend durch sulfat-reduzierende Bakterien. Dies habe sich wiederum auf die geochemischen Kreisläufe ausgewirkt.
Im einzelnen sah das ihrer Ansicht nach folgendermaßen aus. Das Algenmaterial ist bei seinem zögerlichen Absinken in den oberen Wasserschichten zunächst von anderen Bakterien unter Verbrauch von Sauerstoff verwertet und abgebaut worden. Da ein Teil dieses nur dort photosynthetisch hergestellten Gases in die Atmosphäre entwich, das Material aber relativ lange oben verweilte, war dessen Angebot größer als das an Sauerstoff. Einen wesentlichen Anteil der weiter absinkenden oxidierbaren Reste verwerteten nach Ansicht der Gruppe deshalb gewisse sauerstoffmeidende Bakterien in darunterliegenden Wasserschichten, die organische Substrate mittels Sulfat oxidieren und dieses dabei reduzieren (solche Sulfat-Atmer kommen heute vorwiegend im Faulschlamm vor). Das dabei gebildete Hydrogensulfid reagiert mit im Wasser gelöstem Sauerstoff aus der Oberflächenschicht, wobei wieder Sulfat-Ionen entstehen. Diese Bakterien hätten somit wie ein Puffer gewirkt, der ein Eindringen von Sauerstoff in die tieferen Meereszonen erschwerte.
Der Kot von Tieren mit richtigem Darm änderte dann – so die Hypothese weiter – die geochemischen und ökologischen Verhältnisse völlig. Die kompaktierten Überreste der verdauten Nahrung (darunter Mikroalgen) rieselten von nun an rasch auf den Meeresboden hinab, so daß schlecht verdauliche und deshalb weniger zerlegte Algenprodukte eingebettet wurden. Sauerstoff konnte sich verstärkt in oberen und dann auf Dauer auch in tieferen Wasserschichten anreichern, und Tiere vermochten das Meer bis zum Grund zu besiedeln. Die Sulfid-Erzeuger zogen sich ins sauerstoffarme Sediment zurück. Eingeleitet wurde die Wende den Kohlenwasserstoff-Befunden nach vor ungefähr 590 bis 540 Millionen Jahren. Aus der zweiten Hälfte dieser Spanne stammen tatsächlich die ältesten fossil überlieferten Tiere – die der Ediacara-Fauna.
Andere Interpretationen dieser und ergänzender Befunde sind zwar ebenfalls denkbar; doch handele es sich, wie Malcolm Walter von der Universität Macquarie (Neu-Südwales) in der gleichen Ausgabe von "Nature" kommentiert, um eine jener befruchtenden Hypothesen, die unmittelbar die Richtung der Forschungen beeinflussen werde. Insbesondere sei zu klären, ob die explosive Entfaltung der Tierwelt zu Beginn des Kambriums in der Tat auf einer Umorganisation biogeochemischer Kreisläufe beruhte.
(I. H.)
Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1995, Seite 19
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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