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Kondratieffs Zyklen der Wirtschaft. An der Schwelle neuer Vollbeschäftigung?

BusseSeewald, Herford 1998. 350 Seiten, DM 32,–.

Auf den ersten Blick ist das Konzept ungeheuer attraktiv: Durch geschickte Datenanalyse findet man in dem verwirrenden Durcheinander des globalen Wirtschaftsgeschehens Gesetzmäßigkeiten, die auf lange Sicht die Entwicklung bestimmen, unabhängig von kurzfristig spektakulären, aber letztlich belanglosen Ereignissen wie Bankzusammenbrüchen und Börsenkrächen. Der russische Ökonom Nikolai D. Kondratieff hat in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts durch fleißige Analyse statistischer Zeitreihen solche Gesetzmäßigkeiten gesucht und gefunden: Zyklen aus wirtschaftlichem Auf- und Abschwung mit einer Periode von ungefähr 55 Jahren.

Die Interpretation ließ nicht lange auf sich warten. Am Anfang jedes Zyklus steht eine „Basisinnovation“: die Einführung eines völlig neuen Produkts oder Verfahrens: Dampfmaschine um 1770, Eisenbahn um 1830, Elektrizität um 1880, Erdöltechnologie um 1930 und Informationstechnologie um 1980. (Die Datierungen und Benennungen schwanken je nach Autor; gemeint ist nicht das Datum der Erfindung, sondern das ihrer massenhaften Verbreitung.) Diese löst einen besonders raschen technischen Fortschritt mit zugehörigem Wohlstandszuwachs aus. Die Wirtschaft und in ihrem Gefolge die Gesellschaft strukturiert sich radikal um; die Grundstimmung der Menschen ist optimistisch und konsumfreudig.

Auf diese Aufschwungphase folgt die Konsolidierung. Technischer und Produktivitätsfortschritt finden nur noch in kleinen Schritten statt, die während des Aufbaus etablierten Strukturen verfestigen sich, bis dann in der Spätphase eines Zyklus die einstmals innovative Technologie sich erschöpft, die mittlerweile erstarrten Strukturen einer Weiterentwicklung im Wege stehen und sich allgemeiner Pessimismus samt Unsicherheit über die Zukunft und Kaufzurückhaltung breitmacht.

In der Erinnerung der Menschen bleiben die Aufschwungphasen als „gute Zeiten“, die Endphasen von Kondratieff-Zyklen als „schlechte Zeiten“ erhalten. Nach den „guten“ Wirtschaftswunder-Jahren befinden wir uns demnach gegenwärtig in der Unsicherheits-Endphase des fünften Kondratieff, und der Anbruch des sechsten steht bevor. Was ist die zugehörige Basisinnovation? Das ist ja gerade die spannende Frage.

Selbst Alt-Bundespräsident Roman Herzog empfahl 1996 in einer Rede vor dem Bundesverband der Deutschen Industrie, die Theorie der Kondratieff-Zyklen nicht zu ignorieren. Andererseits wurde sie „von Anfang an seitens der Ökonomen aller Orientierungen scheel angesehen“ (so Cesare Marchetti in seinem Beitrag). Das (private) Lindenthal-Institut in Köln lud aus Anlaß dieser Kontroverse Verfechter und Gegner im September 1996 zu einer Arbeitstagung über dieses Thema ein; aus ihr ist das vorliegende Buch hervorgegangen.

Es ergibt sich das Bild einer äußerst lebhaften, in freundlicher Atmosphäre geführten Auseinandersetzung zwischen Vertretern unterschiedlichster Vorstellungen – so lebhaft, daß man als Leser der Diskussion rasch den Faden verliert, weil die Beiträge so durcheinander abgedruckt sind, wie sie vorgebracht wurden. Es ergibt sich kein klares Freund-Feind-Schema; die Anhänger Kondratieffs interpretieren seine Theorie sehr unterschiedlich, und die Gegner haben sehr Verschiedenes vorzubringen.

Cesare Marchetti, studierter Physiker und wissenschaftlicher Berater unzähliger Regierungen, ist fest davon überzeugt, „daß die Kondratieff-Zyklen alle Schichten menschlichen Tuns durchdringen – bis hinein in die Wahl, ob für einen Mord eine Schußwaffe oder ein Messer benutzt wird. Und daß alle Erklärungen zugunsten Kondratieffs …, auch wenn das eine oder andere daran brauchbar ist, vom Ansatz her falsch sind.“ Das einzige, was er akzeptiert, ist Psychologie. Es ist köstlich zu lesen, wie Marchetti das wirtschaftliche Verhalten seiner italienischen Landsleute und vor allem ihres Staates beschreibt. Und die Wahl der Mordwaffe? „In Rezessionszeiten neigt man zum Messer, im Boom zum Revolver. Vielleicht sollten sich Psychoanalytiker der Kondratieff-Zyklen annehmen.“

Die Erklärungen, von denen Marchetti nichts hält, liefern seine Fachkollegen um so reichlicher: Trägheit des menschlichen Denkens, Erstarrung der Institutionen, komplizierte Wechselwirkungen unter den Akteuren des Wirtschaftsgeschehens – es kommt allerlei zusammen, bis zur gegenwärtigen trivialen Modephilosophie, man müsse nur alle Regelungen des Wirtschaftslebens (Tarifverträge, Kündigungsschutz und so weiter) einreißen, dann werde schon alles besser werden, weil der neue Kondratieff anbreche.

Was aus Marchettis zusammenfassendem Beitrag nicht unmittelbar hervorgeht, wird offensichtlich in dem Buch „Die Berechenbarkeit der Zukunft“ seines Schülers Theodore Modis (vergleiche meine Rezension in Spektrum der Wissenschaft, August 1995). Bereits in der Datenanalyse steckt ein extrem hohes Maß an Willkür. Wenn die „Langen Wellen“ angeblich jeden Aspekt des menschlichen Tuns durchdringen – wieso muß man dann den Zweiten Weltkrieg als einen statistischen Ausreißer klassifizieren? Na schön, man kann die Kurven so anpassen, daß sie nach dem Krieg so verlaufen, als hätte der nicht stattgefunden. Aber das sagt eher etwas über die Flexibilität der Kurvenanpassung.

Die Kritiker, die im zweiten Teil des Buches zu Wort kommen, bringen derartige Argumente noch viel genauer. Man findet die Langen Wellen erst, wenn man den allgemeinen Trend der wirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung aus den Daten heraussubtrahiert. Das macht aber nur Sinn, wenn das Wirtschaftsgeschehen durch Einflüsse bestimmt wird, die sich wenigstens annähernd additiv überlagern – und das ist falsch, so argumentiert Francisco Louçâ von der Universität Lissabon unter Berufung auf Datenanalysen.

Jan Reijnders von der Universität Utrecht geht noch weiter: Selbst wenn der empirische Befund „Lange Wellen“ den genannten Einwänden standhalten sollte, fehlt ihm eine brauchbare Theorie. Ursache der Langen Wellen müßte ja eine Konstante der menschlichen Natur sein, oder ein Merkmal in den Beziehungen der Menschen untereinander und zu ihrer Umwelt, das über sämtliche Veränderungen der Lebenswelt seit ungefähr 1770 Bestand hat. Dieses hypothetische Merkmal kann erst mit der industriellen Revolution wirksam geworden sein – niemand spricht von Kondratieff-Zyklen vor dieser Zeit, obgleich es zweifellos Innovationen schon früher gab. Und solange wir keine gute Theorie haben, wissen wir auch nicht, ob es in der gegenwärtigen Situation Bestand haben wird. Trägheit des menschlichen Geistes? Begrenzte Geschwindigkeit für die Ausbreitung von Innovationen oder ökonomischen Strukturen? Respekt vor dem Überkommenen? Das sind im Zeitalter des Internets hochvariable Größen.

Mein persönliches Fazit aus den – im einzelnen sehr anregenden – Beiträgen dieses Buches ist ernüchternd: Wahrscheinlich gibt es die Kondratieff-Zyklen nicht; vielmehr sind sie ein Artefakt der Datenanalyse. Wenn es sie doch gibt, wissen wir nicht, ob ihre Ursachen Bestand haben. Also taugen sie nicht für die Zukunftsprognose – noch nicht einmal für die Einschätzung der Gegenwart. Was bleibt, ist eine Aussage der Art: Der sechste Kondratieff-Zyklus wird stattfinden – oder auch nicht. Und ob oder ob nicht, ist im wesentlichen belanglos.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1999, Seite 111
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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