Konfliktherd klinischchirurgische Forschung
Die Zusammenarbeit von Naturwissenschaftlern und Medizinern in der klinischen Forschung birgt noch immer Konflikte, die sich dem Außenstehenden verschließen. Aber selbst innerhalb der Medizin gärt es: So fühlen sich etwa die Chirurgen von den Internisten bevormundet.
Wie die Medizinforscher in anderen Disziplinen sehen auch die deutschen Chirurgen die Molekularbiologie als eine wichtige und große Herausforderung an. Wichtigster Schauplatz für diesen Paradigmenwechsel sind die seit genau zehn Jahren von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) mit Mitteln des heutigen Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie (BMBF) finanzierten und betreuten klinischen Forschergruppen (Spektrum der Wissenschaft, Juni 1993, Seite 110, und Juni 1996, Seite 117); doch nur zwei dieser insgesamt 35 verschiedene Gruppen sind im Fachgebiet der Chirurgie angesiedelt (Bild 1).
Der Grund für diese geringe Zahl ist nicht allein ein Versäumnis der Chirurgen, die sich oft nur ungern den biologischen Wissenschaften gegenüber öffnen. Sie selbst schieben die Schuld auf andere: Der Wissenschaftsrat, der 1987 die ersten Gruppen empfohlen hatte, und die DFG seien zu stark vom internistischen Denken geprägt. Das stimmt insofern, als es den Chirurgen im Gegensatz zu den Internisten normalerweise nicht gelingt, bei der ersten wissenschaftlichen Überprüfung der nur auf Zeit eingerichteten Gruppen nach drei Jahren schon publizierte Ergebnisse vorzulegen. Die Folge: Die weitere Förderung wird abgelehnt.
Beate Konze-Thomas, zuständige Referentin bei der DFG, räumte in einer Pressekonferenz der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie am 15. April in Bonn ein, die Entscheidungsgremien der DFG müßten verstehen lernen, daß auch angewandte klinische Forschung, wie in diesem medizinischen Zweig praktiziert, Forschung sei. Die von den Vertretern des Fachs beschworene Krise sei ein „Problem des Kopfes“, also der DFG, nicht des Geldes.
Tatsächlich gibt es aber ein weltweites Spannungsfeld um die klinische Forschung, das der Leiter des Instituts für Theoretische Chirurgie der Universität Marburg, Wilfried Lorenz, in der Zeitschrift „Der Chirurg“ (Band 69, Seiten 325 bis 332, 1998) beschreibt. Ihm zufolge werde die deutsche chirurgische Forschung international oft in vernichtender Weise kritisiert.
Die Ansätze solcher Kritik sind freilich höchst zwiespältig. Britische Wissenschaftler meinten zum Beispiel im „British Medical Journal“ (Band 314, Seite 916, 1997), chirurgische Verfahren seien nicht glaubwürdig, solange sie „nicht durch professionell gemachte randomisierte Studien mit objektiven Ergebnismaßen überprüft werden“. Andererseits provozierte eine chirurgische Risikostudie einen Heidelberger Kardiologen zu der Frage, ob derartige Untersuchungen nicht zu den Geisteswissenschaften gehörten. Und die Kölner Medizinische Fakultät verweigerte einem Chirurgen die Habilitation über Qualitätssicherung in der Notfallmedizin, weil dies ja nicht zur Forschung zähle. Ein Jerusalemer Kliniker wiederum weist den biomedizinischen Methoden eine nur sekundäre Bedeutung zu. „Die Grundlagenwissenschaft für die klinische Praxis schlechthin ist klinische Epidemiologie.“ Lorenz dramatisiert die
Situation mit der Bemerkung: „Gegenwärtig beginnt sich ein Kampf in der klinischen Forschung abzuzeichnen, der einem wissenschaftlichen Weltkrieg entspricht… Mit einer solchen Konfrontation kommt man nicht weiter.“
Als Ausweg aus diesem Dilemma empfiehlt Lorenz eine Vielfalt von Studienformen in der klinischen Forschung: Klinimetrie (kontrollierte klinische Prüfung), Biomedizin, Tierexperimente, epidemiologische Studien, Metaanalysen, objektive Entscheidungsanalysen, Gesundheitsforschung mit Qualitätssicherung und Kosten-Nutzen-Analysen, Ethik in finalen Situationen sowie klassische Fallstudien. Zentrales Thema für die klinischen Studien aber sei die „Outcome-Forschung“. Diese bewertet die Zielkriterien operativer Verfahren und damit auch die des Heilens neu.
Lebensqualität als Ziel des chirurgischen Handelns
Den Begriff „Outcome“ will Lorenz so übersetzt wissen: nicht einfach nur „Ergebnis“, sondern „ein Konzept, ein Konstrukt aus verschiedenen Ergebnissen, verschiedenen Endpunkten mit einer krankheitsspezifischen Gewichtung“. Traditionell geht es bei der chirurgischen Forschung um Bestimmung der Sterblichkeitsrate und der Zahl der Komplikationen, die Dauer des Krankenhausaufenthalts, die Wiedereinlieferung der Patienten und andere Kriterien für klinische Ergebnisse. Die Patienten sollen nun künftig auch nach ihren eigenen Empfindungen und Erlebnissen befragt werden, die Wissenschaftler sollen ihr Verhalten beobachten und ihre Funktionen testen (Bild 2). Diese klinischen Ergebnisse beschreiben das Ausmaß von Aspekten wie Schmerz und Leistungseinbußen, Einschränkungen des Umgangs mit anderen Menschen und der geistigen Leistung, also rasche Ermüdbarkeit, depressive Haltung, Angst, Verlust von Zukunftsperspektiven.
Der auf diesem hermeneutischen Weg zustandegekommene Index aus vielen Eigenschaften und ihren komplexen Beziehungen kann nach Lorenz „meßtechnisch so zuverlässig reproduzierbar und auf Therapie ansprechbar (quantifizierbar) gemacht werden wie ein enzymatischer Test im Labor“. Mit anderen Worten: Der leidende Mensch und seine Lebensqualität werden für den klinischen Forscher zugänglich, nicht nur seine naturwissenschaftlich erfaßbaren Werte etwa des Enzym- oder Zuckerspiegels im Blut.
Als neue medizinische Grundlagenwissenschaft taucht hier die Sozialpsychologie auf. Sie eröffnet einen neuen Weg zum Krankheitsbegriff und ergänzt die mechanistischen Ziele des chirurgischen Handelns, das bisher auf Technologiewissenschaft und Biomedizin (Molekularbiologie) gründet. Allerdings hat sie bisher in der deutschen Medizinerausbildung keinen Platz. In dem Entwurf eines neuen Konzepts der medizinischen Philosophie stellt Lorenz sie als eine experimentelle Wissenschaft heraus, für die auch die für die Biomedizin geltenden Kriterien Reproduzierbarkeit, Richtigkeit (Validität) oder Widerlegbarkeit gelten. Ähnlich wie die Verhaltensbiologie mißt sie auch nichtverbale klinische Zeichen wie äußerlichen Eindruck, Körperhaltung und -bewegungen sowie Berührungsinformationen.
Von anderen Bereichen wie Psychoanalyse, Ethik, Homöopathie oder Religion grenzt Lorenz die Sozialpsychologie deutlich ab: „Sie ist eben eine naturwissenschaftliche Grundlagenwissenschaft wie andere auch, zum Beispiel die Physiologie, mit sehr viel Informationstechnologie und multivarianter Statistik und sogar mit Laboren, in denen spezielle Versuchstiere unter standardisierten Bedingungen gehalten werden: Studenten der Sozialpsychologie.“ An der Universität Marburg sind zwei solcher Labore für sozialpsychologische Messungen eingerichtet worden: in der Allgemeinchirurgie für Patienten mit Mastdarmkrebs und in der Gynäkologie für Patientinnen mit Brustkrebs.
Die Sektion chirurgische Forschung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie wurde vor kurzem neu strukturiert, um diesen Entwicklungen gerecht zu werden und die Professionalität klinischer Studien weiter zu wahren. Klinischepidemiologische, tierexperimentelle und molekularbiologische Forschung wurden nun in sie integriert. In das Spektrum der klinischen Forschung müßten auch vermehrt die Grundlagenwissenschaften einbezogen werden, also zum Beispiel die Sozialpsychologie, fordert Lorenz. In diesen neuen Organisationsformen der chirurgischen Forschung sollen sogenannte Tandem-Strukturen geschaffen werden, in denen ein Theoretiker und ein Kliniker gleichberechtigt zusammenarbeiten. Christian Herfarth, der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, hat in Heidelberg einen solchen Verbund gegründet.
Solche theoretischklinische Paarbildungen müßten auch von der Gemeinschaft der Kliniker und Grundlagenwissenschaftler anerkannt werden, meinte Herfarth auf der Bonner Pressekonferenz: „Der Grundlagenwissenschaftler entwickelt mit seinem laufend neuen Informationsgewinn die Methoden weiter, und der Kliniker findet die klinischen Modelle und schafft das Krankengut für eine realisierbare klinische Studie.“
Allerdings fällt dieser Gedanke noch nicht überall auf fruchtbaren Boden. Auf dem Berliner Chirurgenkongreß vom 28. April bis 2. Mai 1998 wurde aus der Schweiz berichtet, daß die Chirurgie die Chance kaum genutzt habe, sich an einem vom Schweizerischen Nationalfonds ausgeschriebenen Tandem-Programm zu beteiligen: Nur vier der 82 Anträge stammten von Chirurgen.
Chirurgische Forschung ist kein Feierabend-Job
Die neue Art der Zusammenarbeit und das erweiterte Spektrum der chirurgischklinischen Forschung verlangen viel Zeit. Der Kliniker brauche zwei Jahre methodische Einarbeitungszeit, um mit einem Grundlagenwissenschaftler fruchtbar kooperieren zu können, meint Herfarth. Auf keinen Fall könne dies durch Feierabend- und Wochenendarbeit erreicht werden. Auch Hans-Günther Beger und drei andere Chirurgen von der Universität Ulm meinen in einem Beitrag in „Forschung in der Chirurgie“ (von H.-G. Beger und anderen, Springer-Verlag, Berlin 1997), Forschung in den Kliniken müsse hauptamtlich und nicht neben der klinischen Tätigkeit her betrieben werden. Zu ihrer Professionalisierung müßten in den chirurgischen Kliniken auch Personalstellen für Grundlagenforscher geschaffen werden.
Allerdings drohen der klinischen Forschung von anderer Seite Gefahren: Die sehr starren Arbeitszeitregelungen, die jetzt auch auf Forschung und Lehre an den Universitätskliniken ausgedehnt wurden, erschweren Krankenversorgung, Weiterbildung und Forschung. Auf dem Chirurgentag schilderten junge Ärzte, wie sich die Festlegung von täglichen Arbeitszeiten, Ruhepausen und Mindestruhezeiten auswirken. Zwischen dem Personal der Arbeitsschichten entstünden Informationsdefizite, die sich zu Lasten der Patienten auswirkten. Die Weiterbildungszeit verlängere sich. Forschung, die überwiegend in der Zeit nach dem Routinebetrieb oder nach dem Nachtdienst erfolge, falle somit in die Ruhezeit, in der nach dem Arbeitszeitgesetz nicht gearbeitet werden dürfe. Eine solche „Feierabend-Forschung“ sollte es indes nach der neuen Konzeption der klinischen Forschung nicht gegeben.
Deshalb nützt es auch wenig, die medizinische Forschung aus dem Arbeitszeitgesetz herauszunehmen, wie die erste Forderung von Herfarth lautet. Sinnvoller wäre es, wenn man seiner zweiten Empfehlung folgte und die Arbeits- und Ruhezeiten flexibler gestaltete. Das würde aber auch bedeuten, daß mehr Mediziner eingestellt werden müssen – so wie im Klinikum Dresden, wo tatsächlich neue chirurgische Stellen geschaffen wurden.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1998, Seite 97
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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