Sinnesphysiologie: Kreative sehen Dinge anders
Erblickt unser linkes Auge beispielsweise ein grünes Quadrat und das rechte Auge ein rotes, fehlen dem Gehirn die passenden Mechanismen zur Verarbeitung. In aller Regel schaltet es scheinbar ratlos zwischen beiden Bildern hin und her. Nur selten entsteht ein kombinierter Wahrnehmungseindruck. Wie ein Team um Luke D. Smillie von der University of Melbourne nun herausfand, sind dabei Menschen im Vorteil, die laut Persönlichkeitstests als besonders "offen" gelten. Sie sehen öfter ein rot-grünes Mischbild als andere.
Die Forscher testeten diesen Zusammenhang in einem Experiment an 123 Teilnehmern. Die Probanden mussten dazu einen standardisierten Fragebogen ausfüllen, aus dem die so genannten "Big Five" hervorgehen: fünf Persönlichkeitsmerkmale, von denen eines die Offenheit gegenüber neuen Erfahrungen beschreibt. Wer hohe Werte auf dieser Skala erzielte, nahm überdurchschnittlich oft Mischbilder wahr, entdeckten die Forscher. Sehr hohe oder niedrige Werte in den anderen vier Merkmalen (Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit, Extraversion und Neurotizismus) gingen hingegen nicht mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit einher, derart "vermischte" Sinneseindrücke zu erleben.
Aus Sicht der Forscher können solche Untersuchungen helfen, das kreative Gehirn zu verstehen. Menschen mit hohen Werten im Merkmal Offenheit neigen dazu, unkonventioneller zu denken und innovative Lösungen zu finden. Das Experiment belege, dass sich diese Flexibilität auch auf ganz grundlegende Aufgaben des Gehirns wie die visuelle Wahrnehmung erstrecke. Womöglich sähen besonders kreative Menschen buchstäblich die Welt anders. Das könnte sowohl erklären, wie sie auf ihre unerwarteten Lösungen kommen, als auch, warum Menschen mit extremen Werten im Merkmal Offenheit eher zu paranoiden Wahrnehmungsverzerrungen neigen. Bei ihnen gelingt es dem Gehirn anscheinend nicht so gut, eine konventionelle und realistische Interpretation der Sinnesdaten zu finden.
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