Risikofaktoren: Krebs - Auch ein Ernährungsproblem
Schwer durchschaubar und äußerst verwickelt sind die Zusammenhänge zwischen Ernährung und Krebs. Dennoch konnten Wissenschaftler in den letzten Jahren konkrete Empfehlungen erarbeiten, wie sich das Krebsrisiko in diesem Bereich deutlich verringern lässt.
Die Zahl klingt unglaublich: Für etwa 35 Prozent aller Krebserkrankungen wird die Ernährung heute verantwortlich gemacht. Damit ist sie ein ähnlich schwergewichtiger Risikofaktor wie das Rauchen. Während aber Tabakrauch eine überschaubare Mixtur chemischer Verbindungen enthält, gehen allein die Bestandteile unserer Nahrung in die Abertausende. Bedenkt man die Vielfalt von Kombinationen in unterschiedlichen Lebensmitteln und was damit eventuell alles noch im Stoffwechsel passiert, ferner die Bandbreite der allgemeinen Ernährungsweise von strikt vegetarisch (vegan) bis stark fleischlastig, schließlich noch den langwierigen, selbst wiederum komplizierten Entstehungsprozess von Krebs – dann wird verständlich, warum es so schwierig ist, mögliche ernährungsbedingte Einflüsse zu entwirren, seien sie nun positiver oder negativer Art. Die Aufklärung dieser komplexen Interaktion ist eine große wissenschaftliche Herausforderung und bedarf der engen Zusammenarbeit aller biomedizinischen Disziplinen – insbesondere dann, wenn es darum geht, ursächliche Zusammenhänge nachzuweisen.
Zu der erschreckenden Einschätzung, ein Drittel aller Krebserkrankungen sei auf die Ernährung zurückzuführen, kamen erstmals 1981 die renommierten britischen Epidemiologen Sir Richard Peto und Sir Richard Doll von der Universität Oxford. Seither erfolgten zahlreiche Untersuchungen, die den Zusammenhang hinsichtlich Ernährungsweise im Allgemeinen sowie einzelner Lebensmittelgruppen und chemisch genau definierter Inhaltsstoffe von Lebensmitteln klären wollten. Die Arbeiten reichen von jahrzehntelangen epidemiologischen Studien mit mehreren hunderttausend Teilnehmern über Untersuchungen mit Tieren bis hin zu zell- und molekularbiologischen Experimenten.
Beispiele für große epidemiologische Studien sind die seit 1976 laufende "Nurses Health Study"und die "Physicians Health Study I" zwischen 1982 und 1995, die Krankenschwestern beziehungsweise Ärzte in den Vereinigten Staaten erfassen. Beide Studien haben viele, auch von den Medien weit verbreitete Befunde erbracht – beispielsweise, dass Ballaststoffe das Risiko für Dickdarmkrebs nicht senken oder dass Beta-Carotin-Präparate sich nicht günstig auswirken.
Europa ist nicht Amerika
Inwieweit diese Ergebnisse jedoch auf die gesamte Bevölkerung der Vereinigten Staaten oder gar auf europäische und deutsche Verhältnisse übertragbar sind, bleibt fraglich. In den Vereinigten Staaten werden beispielsweise Nahrungsergänzungsmittel wesentlich häufiger verwendet als in Europa. So gaben in kürzlich veröffentlichten Auswertungen der beiden amerikanischen Studien 60 bis 80 Prozent der befragten Krankenschwestern und Ärzte an, regelmäßig Multivitamin- und Mineralstoffpräparate zu schlucken. Ein Großteil der Ärzte bekundete zudem, regelmäßig niedrig dosierte Acetylsalicylsäure – der Wirkstoff von Aspirin – vorbeugend gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen einzunehmen. Solche "Störgrößen" werden in epidemiologischen Rechenmodellen zwar häufig berücksichtigt. Es bleibt dennoch die Frage, ob die jeweils verwendeten Korrekturfaktoren, den Effekt geeignet einschätzen.
In Europa läuft nun seit einigen Jahren eine große zukunftsweisende Studie, die "European Prospective Investigation into Cancer and Nutrition", kurz EPIC. Sie verfolgt auch, wie sich die Ernährungsgewohnheiten ändern – und mit ihnen das eventuelle Erkrankungsrisiko. Gefördert wird sie vom Europäischen Programm gegen Krebs und von der EU-Kommission. Als Koordinator fungiert die "International Agency for Research in Cancer" (IARC) in Lyon, eine Unterorganisation der Weltgesundheitsorganisation. In die Studie einbezogen sind zehn europäische Staaten – Norwegen, Schweden, Dänemark, England, die Niederlande, Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und Griechenland – mit insgesamt mehr als 520000 Studienteilnehmern. In Deutschland beteiligen sich zwei Einrichtungen, das Deutsche Krebsforschungszentrum in Heidelberg und das Deutsche Institut für Ernährungsforschung in Potsdam-Rehbrücke. Auf Grund der großen Unterschiede, die in der Ernährungsweise zwischen Nord- und Südeuropa bestehen, erhofft man sich von der EPIC-Studie genauere Hinweise auf den Zusammenhang von Ernährung und Krebs.
Eine erste Zwischenauswertung erbrachte 2003 teils erwartete, teils unerwartete Ergebnisse:
- Obst und Gemüse besitzen einen vor Krebs schützenden Effekt. Der tägliche Verzehr von etwa 500 Gramm insgesamt reicht aus, um die Anzahl neuer Erkrankungsfälle von Tumoren der oberen Atemwege und des oberen Verdauungstrakts um fünfzig Prozent zu reduzieren.
– Alkohol und Tabak, vor allem in Kombination, erhöhen das Krebsrisiko. Der Konsum von mehr als sechzig Gramm Ethanol pro Tag – das entspricht etwa 0,75 Liter Wein – erhöht die Gefahr, an einem Tumor der oberen Atemwege und des Verdauungstrakts zu erkranken, um das Neunfache.
– Häufiger Verzehr von verarbeiteten Fleischwaren, etwa Würsten oder Schinken, steigert das Risiko für Dickdarm- und Magenkrebs. Ein häufiger Fischverzehr hingegen reduziert das erste Risiko. Der Verzehr von "dunklem" Fleisch, wie Muskelfleisch von Säugetieren, zeigte zum Zeitpunkt der Zwischenauswertung keinen Zusammenhang zum Risiko für Dickdarmkrebs – im Gegensatz zu einigen US-Studien. Bei den bisherigen Analysen innerhalb der EPIC-Studie wurden allerdings die verschiedenen Zubereitungsarten von Fleisch wie Kochen, Braten oder Grillen nicht berücksichtigt.
– Der häufige Verzehr von Ballaststoffen, besonders aus Gemüse und Obst, reduziert deutlich das Risiko, an Dickdarmkrebs zu erkranken.
Insbesondere dieser letzte Befund widerspricht kürzlich publizierten Ergebnissen der amerikanischen "Nurses Health Study": Hier fand sich kein auffälliger günstiger Einfluss. Es gilt allerdings zu bedenken, dass bei den bisherigen epidemiologischen Studien wiederum kaum zwischen den verschiedenen Ballaststoffarten wie Zellulose, Hemizellulose, Pektine oder Stärke unterschieden wurde. Die einzelnen Anteile in der Nahrung könnten sich von Land zu Land deutlich unterscheiden.
Karzinogene auftischen?
Wie sieht es überhaupt mit einzelnen Substanzen in der Nahrung aus? Welche darin können nachweislich Krebs auslösen oder fördern, sind also Karzinogene? Welche können umgekehrt vor Krebs schützen?
Beispiele für natürliche Karzinogene sind Schimmelpilzgifte wie Aflatoxine, Patulin oder Fumonisine. Sie können unter anderem in Nüssen, Getreide und Kaffee vorkommen. Viele dieser Gifte sind erbgutverändernd (mutagen) und Krebs erregend (karzinogen). Wer stark damit verunreinigte Lebensmittel sehr oft verzehrt, riskiert Leber- und Nierenkrebs. In Deutschland sind Waren in dieser Hinsicht gewöhnlich nur gering belastet, dank strikter Vorschriften und strenger Überwachung. Das davon noch ausgehende Krebsrisiko ist deshalb hier zu Lande als entsprechend gering anzusehen. Für die häusliche Praxis gilt: Verschimmelte Lebensmittel grundsätzlich nicht verzehren.
Nitrosamine sind ein weiterer karzinogener Faktor in Lebensmitteln. Diese Substanzen können beispielsweise in gepökelten Wurstwaren in geringen Konzentrationen enthalten sein. Sie bilden sich auch im Körper aus nitratreicher Nahrung. Es gibt aber keine wissenschaftlich gesicherten Befunde, dass dieser innere Prozess mit der Entwicklung von Krebs beim Menschen zu tun hat. Die neuesten Daten der EPIC-Studie weisen zwar auf ein erhöhtes Krebsrisiko hin, werden verarbeitete beziehungsweise gepökelte Fleischwaren wie Wurst und Schinken häufig verzehrt. Ob dies aber ursächlich auf die Nitrosamine oder aber auf andere Faktoren zurückgeht, kann gegenwärtig nicht beantwortet werden.
Auch während des Zubereitens von Speisen – beim Kochen, Braten, Backen oder Grillen – können karzinogene Substanzen entstehen. Ein jüngst erkanntes Beispiel ist Acrylamid, das temperaturabhängig beim Braten, Frittieren oder Backen von stärkehaltigen Lebensmit-teln wie Kartoffeln entsteht. Besonders knusprige dunkle Pommes frites beispielsweise enthalten relativ hohe Konzentrationen. Die Weltgesundheitsorganisation stuft Acrylamid als potenzielles Karzinogen der Kategorie 2 ein, das heißt, die Wirkung ist nur im Tierexperiment nachgewiesen. Das Krebsrisiko genauer abzuschätzen fällt noch schwer, weil erst wenige Daten aus Untersuchungen beim Menschen vorliegen. Eine kürzlich veröffentlichte erste Studie schwedischer Wissenschaftler vom Karolinska-Institut in Stockholm zeigte keinen Zusammenhang zwischen dem häufigen Verzehr acrylamidhaltiger Lebensmittel und Krebs.
Werden fetthaltige Fleischwaren gegrillt oder geräuchert, können polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe wie Benzpyren entstehen. Sie sind Krebs erregend und werden auch bei der Verbrennung fossiler Brennstoffe freigesetzt. Die eingeatmete Luft ist deshalb in Gebieten mit hoher Luftverschmutzung wahrscheinlich eine größere Gefahrenquelle als gegrillte oder geräucherte Fleischwaren.
In Lebensmitteln können auch Rückstände von Pflanzenschutzmitteln vorkommen – etwa das kürzlich in kontaminiertem Getreide nachgewiesene, verbotene Nitrofen. In Deutschland haben die Behörden sehr niedrige Grenzwerte festgelegt. Werden sie eingehalten, dürften diese Rückstände für die Krebsentwicklung nur wenig bedeutsam sein. Weitgehend ausschließen lässt sich eine gesundheitliche Gefährdung durch die umweltbedingte Verunreinigung landwirtschaftlicher Produkte mit organischen Chlorverbindungen wie Dioxinen oder polychlorierten Biphenylen. Der Gesetzgeber hat hier wiederum sehr niedrige Grenzwerte festgelegt; zudem besteht eine effektive Lebensmittelüberwachung.
Belastung von Lebensmitteln häufig überbewertet
Insgesamt deuten die wissenschaftlichen Studien der letzten Jahre darauf hin, dass wahrscheinlich nur ein geringer Teil – etwa zwei Prozent – aller Krebserkrankungen auf karzinogene Substanzen in Lebensmitteln zurückzuführen ist. In den Medien und in der öffentlichen Meinung wird die Belastung von Lebensmitteln mit potenziell Krebs erregenden Substanzen häufig überbewertet. Zwar bestehen tatsächlich Risiken, aber von anderer Seite – vor allem durch Alkoholmissbrauch, starkes Übergewicht oder eine unausgewogene Ernährung. Doch diese Faktoren werden gewöhnlich vernachlässigt.
Hoher Alkoholkonsum bis hin zum Missbrauch erhöht generell das Krebsrisiko, speziell aber das für Tumoren des Rachens, der Speiseröhre, des Magens, der Leber und des Dickdarms. Wissenschaftlich kontrovers diskutiert wird, ab welcher Alkoholmenge dieses Risiko steigt. Bei moderatem Konsum scheint es nicht erhöht zu sein. Moderat heißt: maximal zehn Gramm Alkohol täglich für Frauen und zwanzig Gramm für Männer. Kommt Rauchen hinzu, wächst das Krebsrisiko aber massiv.
Übergewicht erwies sich inzwischen als ein wesentlicher Risikofaktor für fast alle Krebsformen. Massives Übergewicht besteht ab einem Body Mass Index, BMI, von über 40; er errechnet sich aus dem Körpergewicht in Kilogramm dividiert durch das Quadrat der Körpergröße in Metern. Ein solch krasses Übergewicht erhöht das Risiko bei Männern um mehr als fünfzig Prozent, bei Frauen um mehr als sechzig Prozent – jeweils verglichen mit normalgewichtigen Personen entsprechend einem BMI zwischen 19 und 25.
Bei ernährungsbedingten Krebsrisiken kommt es freilich nicht nur darauf an, was in der Nahrung drin ist, sondern eben auch was nicht drin ist. Denn es kann ihr an Schutzstoffen mangeln. Nach solchen Bestandteilen suchen Forscher derzeit intensiv. Anlass sind zahlreiche epidemiologische Studien, wonach das Krebsrisiko deutlich geringer ausfällt, wenn vorzugsweise pflanzliche Lebensmittel verzehrt werden. Ein Schwerpunkt der aktuellen Forschungsarbeiten liegt auf den so genannten sekundären Pflanzenstoffen, die anders als die primären nicht zum Grundstoffwechsel der Pflanzen gehören. Sie bilden chemisch betrachtet keine einheitliche Gruppe, sondern fallen in unterschiedliche Substanzklassen. Schätzungsweise 50000 sekundäre pflanzliche Inhaltsstoffe kommen in unserer Nahrung vor. Dazu gehören beispielsweise Flavonoide, Glucosinolate und Carotinoide. Erst für wenige Inhaltsstoffe lässt sich bisher angeben, wie sie möglicherweise ihren Schutzeffekt entfalten.
Auch die Gesundheitspolitik ist gefragt
Ein Beispiel: Menschen mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen wie Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa neigen zu Dickdarmkrebs. Aus Arzneimittelstudien ist bekannt, dass Acetylsalicylsäure das Risiko mindert. Dieser Wirkstoff von Aspirin hemmt ein Schlüsselenzym, das zur Bildung von Prostaglandinen benötigt wird. Diese körpereigenen Substanzen sind maßgeblich an entzündlichen Prozessen beteiligt. Bestimmte sekundäre Pflanzenstoffe aus der Gruppe der Flavonoide, die in vielen Obst- und Gemüsesorten vorkommen, hemmen das Schlüsselenzym ebenfalls sehr effektiv. Sie haben somit möglicherweise eine ähnlich Krebs vorbeugende Wirkung wie die Acetylsalicylsäure.
Zusammenhänge zwischen Ernährung und Krebs zu ermitteln ist alles in allem ein schwieriges und zum Teil mit widersprüchlichen Ergebnissen endendes Unterfangen. Dennoch lassen sich einige allgemein gültige Aussagen treffen. Unter der Schirmherrschaft des Internationalen Weltkrebsforschungsfonds (World Cancer Research Fund) in London und des Amerikanischen Instituts für Krebsforschung in der US-Bundeshauptstadt Washington wertete ein internationales Expertengremium 1996 erstmals die Daten aller weltweit bis dahin verfügbaren Studien aus, die sich mit dem Zusammenhang von Krebs und Ernährung befasst hatten. Die Experten beurteilten unter anderem die Güte der Studien hinsichtlich ihrer Planung und wissenschaftlichen Aussagefähigkeit und prüften die biologische Plausibilität. Schließlich gaben sie 1997 eine Reihe von Empfehlungen heraus, die inzwischen in staatlichen gesundheitsfördernden Maßnahmen weltweit eine zentrale Rolle spielen.
Zwar kann keine bestimmte Ernährungsweise Krebserkrankungen völlig vorbeugen. Zu viele weitere äußere und innere Faktoren sind an der Entstehung von Krebs beteiligt. Dennoch lässt sich das Erkrankungsrisiko deutlich reduzieren. Die einschlägigen Fachgesellschaften, unter anderem die Deutsche Krebsgesellschaft, die Deutsche Krebshilfe und die Deutsche Gesellschaft für Ernährung sowie der Weltkrebsforschungsfonds, die Amerikanische Krebsgesellschaft und die Weltgesundheitsorganisation, geben entsprechend folgende Empfehlungen:
- Die Nahrung sollte viele pflanzliche Produkte enthalten. Das heißt konkret: reichlich Gemüse und Obst, und zwar mindestens drei Portionen Gemüse von insgesamt rund 400 Gramm und mindestens zwei Portionen Obst von zusammen 300 Gramm täglich
- Das Gewicht im Normalbereich halten (BMI zwischen 19 und 25),
– regelmäßig Sport treiben,
– Alkohol, wenn überhaupt, nur moderat konsumieren,
– wenig Salz, wenig tierische Fette verzehren,
– Lebensmittel schonend zubereiten und hygienisch aufbewahren,
– nicht rauchen.
Diese Ernährungs- und Verhaltensweisen können wesentlich dazu beitragen, das Krebsrisiko zu reduzieren. Insbesondere bei Krebsformen, die sich nur schlecht behandeln lassen, etwa bei bösartigen Tumoren des Dickdarms, ist Prävention eminent wichtig. Neben den Maßnahmen zur Früherkennung kommt der Ernährung ein hoher Stellenwert zu. Hier ist wieder die Gesundheitspolitik gefragt.
Literaturhinweise
Krebsprävention durch Ernährung. Vom Deutschen Institut für Ernährung und World Cancer Research Fund (Hg.), 1999 (kostenlos beim DIFE 14558 Bergholz-Rehbrücke).
Carcinogenic and Anticarcinogenic Factors in Food. Deutsche Forschungsgemeinschaft, Wiley-VCH, Weinheim 2000.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 2003, Seite 1
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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