Künstliche menschliche Mikro-Chromosomen
Was bei der Hefe schon zur Routine gehört, ist nun auch beim Menschen ansatzweise geglückt: die Schaffung eines linearen, stabil vererbbaren Chromosoms aus kleineren Bausteinen. Da das Verfahren aber noch viele Zufallselemente enthält und unvorhersehbare Schäden am vorhandenen Erbgut anrichtet, ist es in der Gentherapie vorerst keinesfalls einsetzbar.
In den Zellen aller höheren Organismen mit echtem Kern ist die Erbsubstanz auf mehrere Chromosomen verteilt. In diesen Kernfäden, wie sie früher auch hießen, liegt der DNA-Strang nicht nackt vor, sondern ist gleichsam um Proteine als Spulen gewickelt. Und außer den Genen enthalten die Chromosomen weite-re entscheidende Ausstattungsmerkmale. Dazu zählen insbesondere natürliche Schutzsequenzen an beiden Enden (Telomere), ein Replikationsursprung, an dem bei der Zellteilung die Verdopplung der DNA (die Replikation) beginnen kann, sowie eine Centromer-Sequenz, die für die geregelte Aufteilung des Erbguts auf die beiden Tochterzellen sorgt (Spektrum der Wissenschaft, Januar 1988, Seite 86).
Isoliert man diese Zusatzelemente aus dem Hefegenom und setzt sie in passender Weise mit DNA aus einem beliebigen anderen Organismus zusammen, so läßt sich dieses Kunstgebilde Hefezellen als falsches Chromosom unterschieben. Die Konstruktion solcher YACs (nach englisch yeast artifical chromosomes) ist bereits vor eineinhalb Jahrzehnten gelungen. Sie verhalten sich wie ihre natürlichen Vorbilder und werden getreulich an nachfolgende Zellgenerationen weitergegeben. Allerdings muß die DNA-Masse zwischen den schützenden Enden eine bestimmte Mindestlänge haben, weil nur dann die eingebaute Centromer-Sequenz eine gleichmäßige Aufteilung des Erbguts bei der Zellteilung gewährleistet.
Die YACs haben die Erforschung des menschlichen Genoms entscheidend vorangebracht; denn damit lassen sich wesentlich größere DNA-Abschnitte vervielfältigen und dann weiter untersuchen als mit anderen Klonierungsverfahren. Da der Hefepilz in vieler Hinsicht ein einfaches Modell für die Zellen aller höheren Lebewesen abgibt, hat man auch früh schon versucht, nach dem gleichen Rezept künstliche Abbilder menschlicher Chromosomen zu erzeugen. Sie könnten der Gentherapie ungeahnte neue Möglichkeiten erschließen.
Allerdings sind alle früheren Bemühungen an zwei Hürden gescheitert. Die eine besteht in der Größe und Komplexität der menschlichen Centromere, die schätzungsweise mehrere Millionen Basenpaare (ein Basenpaar bildet gewissermaßen einen Buchstaben im genetischen Text) umfassen statt nur gut hundert wie bei der Hefe. Hauptbestandteil ist ein 171 Basenpaare langes Element aus der Familie der sogenannten Alpha-Satelliten-DNA, das sich – ähnlich wie die Waggons eines Güterzuges – sehr viele Male wiederholt. Hinzu kommen weite-re repetitive Elemente und einige von Chromosom zu Chromosom variierende Sequenzen. Die kürzeste bekannte natürliche Alpha-Serie enthält 230000 Basenpaare; Experimenten zufolge genügt aber eventuell schon gut die Hälfte, damit zumindest gewisse Centromer-Funktionen gewährleistet sind.
Die zweite Hürde besteht darin, daß bei menschlichen Chromosomen keine Replikationsursprünge bekannt sind und deren Natur sogar umstritten ist. Sie könnten aus spezifischen, noch aufzufindenden Sequenzen bestehen, die in Abständen über ein menschliches Chromosom verteilt sind (seine Verdoppelung beginnt an vielen Stellen gleichzeitig). Eventuell handelt es sich aber auch um eine bestimmte räumliche Struktur, die sich vielleicht ab einer gewissen Mindestmenge an DNA von selbst bildet und dann als Replikationsstartpunkt dient.
Nun ist es einer Gruppe von Wissenschaftlern der Case-Western-Reserve-Universität sowie des Unternehmens Athersys in Cleveland (Ohio) jedoch gelungen, die beiden Hindernisse zu überwinden beziehungsweise zu umgehen und erstmals ein künstliches menschliches Chromosom mit einem synthetischen Centromer zu schaffen, das äußerlich unverändert und in weitgehend konstanter Zahl über viele Zellgenerationen weitervererbt wurde ("Nature Genetics", Band 15, Heft 4, Seite 345).
Zur Konstruktion des benötigten Centromers nahmen sie einen größeren Abschnitt natürlicher Alpha-Satelliten-DNA und verknüpften ihn nach einem komplizierten Verfahren so oft mit sich selbst, bis der resultierende DNA-Strang ungefähr eine Million Basenpaare enthielt – weit mehr als der angenommenen kritischen Mindestlänge entspricht. Dazu verdoppelten sie das Ausgangs-DNA-Stück zunächst sukzessive innerhalb eines besonderen Plasmids – also in einem jener ringförmigen DNA-Stücke, die als Vektoren (Träger) zum Klonieren (Vervielfältigen) von Erbsubstanz in Bakterien dienen. Nachdem das Ausgangs-DNA-Stück so zu Strängen mit vielen tausend Basenpaaren Länge angewachsen war, wurden diese schließlich im Reagenzglas direkt miteinander zu noch größeren Einheiten verknüpft.
Das Problem des unbekannten Replikationsursprungs umgingen die Wissenschaftler mit einem recht dreisten Trick. Sie vermischten einfach wahllos Fragmente menschlicher DNA mit dem synthetischen Centromer und mit Telomer-DNA, die sie durch eine enzymatische Prozedur (die Polymerase-Kettenreaktion) vervielfältigt hatten, und schleusten die Mixtur in kultivierte Zellen einer menschlichen Tumor-Linie ein; alles weitere überließen sie der biochemischen Maschinerie und dem Zufall. Dabei spekulierten sie darauf, daß sich die drei Komponenten von selbst zu Chromosomen zusammenfänden und daß die angebotenen DNA-Fragmente entweder teilweise einen Replikationsursprung mitbringen oder aber sich in der nötigen Länge zusammenfügen würden.
Tatsächlich ging die Rechnung auf – wenn auch nur knapp: In einem einzigen Fall entstand, wie erhofft, ein Mikro-Chromosom, das offensichtlich allein aus den zugeführten Zutaten zusammengebaut war (Bild) und sich über viele Zellgenerationen stabil weitervererben ließ. Die Abkömmlinge der Ursprungszelle vermochten das Kunstgebilde also regulär wie ihre anderen Chromosomen zu verdoppeln und die Spalthälften gleichmäßig auf die künftigen Tochterzellen aufzuteilen – zumindest in den meisten Fällen.
Von einer gezielten Konstruktion – einem vorherbestimmten Zusammenbau – ist dies freilich noch weit entfernt. Schließlich bestand die Füllung des Mikro-Chromosoms aus irgendwelchen undefinierten Teilen des Gesamterbguts anderer menschlicher Zellen. Noch problematischer ist, daß Bestandteile der Mixtur nicht selten das Erbgut der Zellen, die sie aufnahmen, durcheinanderbrachten und verstümmelten. So traten oft Amputationen von Chromosomen-Armen auf, und in einigen Fällen bildeten sich dadurch ebenfalls Mikro-Chromosomen, die aber nicht ausschließlich aus neu eingeführten Sequenzen bestanden. Beispielsweise entdeckten die Forscher gewissermaßen den abgehackten Finger eines Zell-Chromosoms, an den sich ein künstliches Centromer samt Telomer angehängt hatte.
Die Experimente sind somit nur ein erster Schritt auf dem Weg zur Konstruktion von echten HACs (human artifical chromosomes) nach Plan. Angesichts der häufigen Veränderung zelleigener Chromosomen ist das verwendete Verfahren jedenfalls untauglich zur Gentherapie. Es ermöglicht nun aber beispielsweise, die Funktion der komplexen Centromer-Region natürlicher menschlicher Chromosomen genauer zu analysieren.
So haben die Forscher inzwischen auch durch Aneinanderhängen der kleinsten Grundeinheit der Alpha-Satelliten-DNA Centromere erzeugt, deren Sequenz dadurch genau definiert ist. Indem man in einer solchen Einheit vor dem Zusammenkoppeln gezielt Veränderungen anbringt, kann man modifizierte Kunst-Centromere erzeugen. Und dies gibt Wissenschaftlern ein neues Hilfsmittel an die Hand, die Funktionsweise dieser wichtigen chromosomalen Elemente zu ergründen – insbesondere wie sie mit Proteinen zusammenwirken und so eine gleichmäßige Verteilung der Chromosomen, natürlicher wie künstlicher, auf die Tochterzellen gewährleisten.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1997, Seite 19
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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