Leben in tiefen Gesteinsschichten - unabhängig von der Sonne?
Tiefbohrungen zeigen, daß selbst mehrere hundert Meter unter der Erdoberfläche gewisse Bakterien existieren können, indem sie sich allein von Wasser und Gestein ernähren.
Fast alles Leben hängt direkt oder über die Nahrungskette indirekt von der Nutzung des Sonnenlichts durch Photosynthese ab. Selbst Organismen, die in der stockfinsteren Tiefsee hausen, ernähren sich von herabsinkendem biologischem Material und damit letztlich auch von solarer Energie. Geht man hingegen auf dem Festland in die Tiefe, so ist ein Nahrungsnachschub nicht so einfach zu bewerkstelligen – weshalb die Wissenschaftler folgerten, es könne in allzutiefen Gesteinsschichten auch kein Leben existieren. Genauere Untersuchungen, meist im Umfeld geologischer Forschungen vorgenommen, zeigten allerdings, daß selbst unter mehr als 500 Meter mächtigen Gesteinsschichten einfache Organismen ihr Dasein fristen. In solcher Tiefe vorkommende Bakterien könnten durchaus nützlich für uns Oberflächenbewohner sein, indem sie zum Beispiel im Grundwasser vorhandene organische Schadstoffe verdauen und somit für saubereres Trinkwasser sorgen oder indem sie ansonsten nicht abbaubare Erdöllager erschließen helfen. Solche Überlegungen veranlaßten das Energieministerium der Vereinigten Staaten 1985, das Sonderprogramm "Microbiology of the deep subsurface" ("Mikrobiologie tief unter der Erdoberfläche") zu beginnen, in dessen Rahmen Forscher nach Mikroorganismen in größeren Tiefen suchen und Grundlagenwissen über diese Lebewesen, ihre Ökologie und ihre mögliche Rolle bei der Grundwasserreinigung sammeln sollten. Bereits in den ersten Jahren übertraf das Projekt alle Erwartungen. Mit Argon-Gas preßten die Wissenschaftler Wasser aus den Gesteinsporen und sammelten es in sterilen Behältern. In den Proben wimmelte es nur so von Bakterien, die vor allem durch ihren Artenreichtum und ihre relativ leichte Kultivierbarkeit erstaunten. In allen Tiefen fanden die Mikrobiologen Einzeller, die eine Vielfalt von anorganischen und organischen Verbindungen verstoffwechseln können und dabei unter anderem die Elemente Kohlenstoff, Stickstoff, Schwefel, Eisen, Mangan und Phosphor umsetzen. Diese Funde waren schwer mit der überkommenen Auffassung in Einklang zu bringen, daß der tiefe Untergrund nährstoffarm sei und demnach auch nicht besonders artenreich sein könne ("Bioscience", Band 39, Seiten 370 bis 377, 1989). Eine mögliche Erklärung dieses scheinbaren Paradoxons und zugleich eine noch größere Überraschung vermeldete kürzlich eine Arbeitsgruppe, die im Auftrag des amerikanischen Energieministeriums in der Nähe des Columbia-Flusses im US-Bundesstaat Washington bis zu 1500 Meter tief in den Basalt gebohrt hatte. Chemische Untersuchungen des zutage geförderten Wassers legen nahe, daß dort unten methanogene Bakterien leben, die Wasserstoff (H2) und Kohlendioxid (CO2) zu Wasser (H2O) und Methan (CH4) umsetzen. Das ist an sich noch nicht ungewöhnlich – viele Methanbildner beziehen den Wasserstoff von H2-bildenden Bakterien oder aus organischen Verbindungen und hängen somit an der von der Photosynthese ausgehenden Nahrungskette. Doch in den Wasserproben aus der tiefen Basaltschicht war mehr Wasserstoff, als sich durch biologische Erzeugung erklären ließe. Eine Knallgasexplosion in einer mit Basaltschutt gefüllten Grube brachte die an der Bohrung beteiligten Wissenschaftler Todd O. Stevens und James P. McKinley vom Pacific Northwest Laboratory in Richland (Washington) auf die schlagende Idee: Der Wasserstoff mußte aus dem Basalt kommen. Im Labor vermochten sie sodann tatsächlich nachzuweisen, daß in einer Mischung aus sauerstoff-freiem Wasser und zermahlenem Basalt Wasserstoff freigesetzt wird. Die Wissenschaftler vermuten, daß die durch Verwitterung des Gesteins in Lösung gelangenden Verbindungen des zweiwertigen Eisen-Ions – Fe(II) – den im Wassermolekül (H2O) enthaltenen Wasserstoff zu molekularem Wasserstoff (H2) reduzieren und dabei selbst zu dreiwertigem Eisen – Fe(III) – oxidiert werden ("Science", Band 270, Seiten 450 bis 454, 20. Oktober 1995). Die geringe Löslichkeit der Fe(III)-Verbindungen, so die Hypothese, entziehe dem Gleichgewicht eines der Reaktionsprodukte und ermögliche dadurch, daß die unter Normalbedingungen eher unwahrscheinliche Reaktion abläuft und erhebliche Mengen molekularen Wasserstoffs erzeugt (Bild). Als Stevens und McKinley zur Überprüfung ein Gemisch aus bakterienhaltigem Grundwasser und frischgemahlenem Basalt versiegelten und bis zu einem Jahr inkubierten, zeigte sich, daß gewisse Bakteriengruppen tatsächlich so lange allein bei Wasser und Stein gedeihen können. Freilich sind dies nur indirekte Hinweise darauf, wovon die Mikroorganismen vor Ort, eineinhalb Kilometer unter der Erdoberfläche, tatsächlich leben. Es läßt sich noch nicht gänzlich ausschließen, daß sie über eine konventionellere Energie- oder Wasserstoffquelle verfügen. Auch eine genauere Aufklärung der chemischen Mechanismen, die Wasserstoff aus dem Basalt-Wasser-Gemisch freisetzen, steht noch aus. So ist bislang ungeklärt, ob – und wenn ja, wie – die Bakterien die Verwitterung des Basalts und damit die Wasserstoff-Freisetzung selbst begünstigen, zum Beispiel durch Ausscheiden von Säuren. Doch außergewöhnlich ist dieser Bakterienfund allemal, und seine Bedeutung reicht sicherlich über die einer kuriosen ökologischen Nische hinaus. Wissenschaftler, die sich für die Entstehung und die Urzeit des Lebens auf der Erde interessieren, könnten von den steinfressenden Anaerobiern zum Beispiel Anregungen darüber erhoffen, wie und wovon die ersten Bakterien in einer praktisch sauerstoff-freien Atmosphäre lebten, bevor die Evolution vor knapp drei Milliarden Jahren die Photosynthese hervorbrachte und damit die Zusammensetzung der Erdatmosphäre radikal veränderte. Und alle diejenigen, die glauben, daß es auf unserem Nachbarplaneten Mars vor Urzeiten Leben gegeben habe, als dessen Atmosphäre noch dichter war und für ein freundlicheres Klima und besseren Strahlenschutz sorgte, können nun verstärkt hoffen. In tiefen Gesteinsschichten dort wären Bakterien vor der Ultraviolettstrahlung der Sonne geschützt und könnten mit der Stein-und-Wasser-Diät bis heute überdauert haben. Man müßte nur einmal hinfliegen und nachbohren.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1996, Seite 22
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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