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Lynn Margulis und Dorion Sagan:: Leben. Vom Ursprung zur Vielfalt.

Aus dem Englischen von Kurt Beginnen, Friedrich Griese,
Eberhard Kiefer, Bettina Klare, Ralph Klein, Bruno P. Kremer,
Susanne Kuhlmann-Krieg und Sebastian Vogel.
Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1997. 208 Seiten, DM 78,–.

Dieses Buch ist sehr aufwendig gestaltet. Das Schriftbild ist angenehm, die Photos und Zeichnungen sind von bester Qualität und werden kunstvoll dargeboten, und die Leitfrage "Was ist Leben?" ist von immerwährender, zentraler Bedeutung in Biologie, Philosophie und Religion: Schon flüchtiges Blättern reizt zum Weiterlesen.
Doch bereits die erste Überschrift "Leben: Das ewige Geheimnis" klingt eigenartig. Offenbar halten die Autoren eine Antwort auf die zentrale Frage für unmöglich. Warum stellen sie diese dennoch in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen? Wollen sie einen Kult um ein ewiges Geheimnis entwickeln? Die weitere Lektüre nährt diese Vermutung auf vielen Seiten.
Das Buch ist wie ein Feuerwerk, das die zentrale Frage nach dem Leben nur flackernd erhellt, vorzugsweise aber in mystischem Dunkel beläßt. Die neun Kapitel fächern sich auf in Abschnitte und diese in Fontänen extrem kurzlebiger Gedanken und Metaphern. Im Abschnitt "Laubvögel und Honigbienen" des sechsten Kapitels etwa erscheinen und verglühen – nacheinander und ohne innere Beziehung – folgende Gedanken: Befruchtung im Tierreich, Gliederung des Tierreichs in Stämme, Unterschied zwischen Pflanzen- und Tierzelle, Echoortung bei Fledermäusen, Balz bei Laubenvögeln, Vielfalt von Verhaltensweisen bei Tieren, soziales Leben der Honigbiene, Bewußtsein – und dann eine der vielen Facetten, die das Grundgefühl der Autoren widerspiegeln: "Doch die komplexe Chemie des Lebens ist und bleibt auf die Zelle beschränkt, eine Einheit von weniger als einem Mikrometer Durchmesser" (Seite 122). Die Zellen der Pflanzen und Tiere sind meistens größer. Die Autoren leisten sich viele Ungenauigkeiten im Detail, durch die sie sich zum Teil weit von wissenschaftlichen Maßstäben entfernen.
Mehrfach und zu Recht wird ein Loblied auf die Bakterien angestimmt und durch schöne Bilder untermalt. Sie waren die ersten Lebewesen auf der Erde, haben die Photosynthese entwickelt und damit die erste große, schleichende Umweltkatastrophe verursacht, indem sie Sauerstoff als Abfallprodukt freisetzten. Zugleich aber haben sie dadurch die Lebensmöglichkeit für atmende Organismen geschaffen. Vor rund zwei Milliarden Jahren, als die Erde noch allein von Bakterien bewohnt war, entstanden überaus erfolgreiche Symbiosen zwischen Fressern und unverdauten Gefressenen. Je nach Art wurden letztere zu Mitochondrien oder Plastiden ihrer Wirtszellen – so die Endosymbiontentheorie der Eucyte (der voll ausgestatteten Tier- oder Pflanzenzelle), um deren Begründung sich Lynn Margulis, Professorin für Biologie an der Universität von Massachusetts in Amherst, sehr verdient gemacht hat. Sie hat dafür internationale Anerkennung geerntet.
Zu Recht hat sie auch mehrfach die große evolutionäre Bedeutung von symbiontischen Ereignissen betont: Wenn sich eine solche Beziehung etabliert, entsteht dadurch unerwartet Neues, das allein durch Veränderungen von Erbgut nicht oder kaum möglich gewesen wäre.
Die von Lynn Margulis vertretene Theorie postuliert ein weiteres symbiontisches Ereignis: Auch Geißeln und Spindelapparate der Eucyten sollen von Bakterien stammen, die sich einst mit Vorläufern der Eucyte vereinigt hätten. Im vorliegenden Buch räumen die Autoren jedoch auf Seite 103 ein, daß der entscheidende Nachweis dafür noch fehlt: Weder im Kinetosom der Geißeln noch im Centriol der Spindelapparate konnte eigenständige Nucleinsäure gefunden werden. Nicht ohne Grund ist also diesem Teil der Endosymbiontentheorie die Anerkennung bisher versagt geblieben.
Ob aus Ärger darüber oder aus anderen Motiven – die Autoren sparen nicht mit Nadelstichen gegen Biologen, denen sie "traditionelles" und "mechanistisches" Denken vorwerfen, so auf Seite 47. Andererseits bekunden sie Sympathie für das Denken von Außenseitern wie Humberto Maturana und Francisco Varela, welche die Dynamik der belebten und unbelebten Welt als Autopoiese begreifen (Spektrum der Wissenschaft, August 1993, Seite 109), und James F. Lovelock, der in seiner Gaia-Hypothese die gesamte Erdenwelt als ein Lebewesen auffaßt (Spektrum der Wissenschaft, März 1992, Seite 132).
Skepsis gegenüber diesen Vorstellungen ist berechtigt. Die Autoren des vorliegenden Buches akzeptieren diese Entwürfe jedoch kritiklos als gesichertes Wissen und vermischen sie mit eigenen Außenseitervorstellungen zu einem merkwürdigen Gedankengebräu, das offensichtlich den Umgang mit dem mehrfach angesprochenen Tod erleichtern soll: "Aber nach unserer Vorstellung ist die Autopoiese des ganzen Planeten eine kombinierte, emergente Eigenschaft der vielen gas-austauschenden, gen-austauschenden, wachsenden und sich entwickelnden Organismen auf ihm" (Seite 27). "Und dementsprechend existiert das Leben eigentlich nicht auf der Erdoberfläche, sondern es ist die Erdoberfläche" (Seite 28). Diese stelle somit eine "Zelle im Großformat" dar (Seite 48).
Mit diesem Konzept in der Hand holen die Autoren zu einem Schlag gegen die Evolutionstheorie aus: "Bei stringenter Auslegung des Darwinismus muß man einer Population, die nur aus einem Exemplar besteht, jegliche evolutionäre Fähigkeiten absprechen" (Seite 48). Also – so die unausgesprochene Folgerung der Autoren – muß der Darwinismus mangelhaft sein. An seine Stelle setzen sie lieber den Mythos, alle Lebewesen seien der Unsterblichkeit teilhaftig, weil sie zu der einen autopoietischen Zelle gehören: "Tod ist im eigentlichen Sinne eine Täuschung. Als bloße Fortsetzung der Biochemie sind ‚wir' in den vergangenen drei Milliarden Jahren nicht gestorben. Berge, Meere und sogar Superkontinente sind gekommen und gegangen, aber wir haben überdauert" (Seite 62). Wer oder was genau mit "wir" gemeint sein könnte, bleibt in mehrdeutigem Dunkel.
Das ist nicht Biologie, sondern Biomystik.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1998, Seite 119
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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