Wissenschaft in Bildern: Lebensvorgänge im Rasterkraftmikroskop
Das Verhalten einzelner Biomoleküle in ihrer natürlichen Umgebung vermag man allmählich sichtbar zu machen. Physiologische Vorgänge auf der Plasmamembran lebender Zellen, strukturelle Anomalien bei Chromosomen, Transportprozesse durch Poren der Kernhülle und selbst der Zerfall großer Molekülkomplexe in Reaktion auf chemische Stimuli lassen sich bereits dreidimensional auf einem Bildschirm beobachten.
Atome bauen unsere Welt auf. Mit bloßem Auge zu erkennen sind allerdings nur riesige Anhäufungen davon: Ein winziger Punkt mit dem Bleistift, gerade noch wahrnehmbar, umfaßt immerhin rund 100 Milliarden Kohlenstoffatome aus der Graphitmine.
Mit einem hochwertigen Lichtmikroskop läßt sich schon eine Ansammlung von etwa zehn Millionen Atomen als einzelner Punkt auflösen. Dadurch zeichnet sich für uns beispielsweise ein einzelnes Mitochondrium als Körperchen ab – jenes winzige, in mehrfacher Ausfertigung vorhandene Kraftwerk tierischer und pflanzlicher Zellen.
Unter dem Elektronenmikroskop sind sogar noch Partikel aus mehreren tausend Atomen zu erkennen, also größere Moleküle wie Antikörper aus dem Blut. Allerdings müssen zu ihrer Darstellung zusätzlich einige technische Tricks angewandt werden, etwa Trocknung des Präparats und eine Bedampfung mit Metall; eine Zelle läßt sich unter anderem deshalb im Elektronenmikroskop nur im leblosen Zustand untersuchen.
Das Rastertunnelmikroskop schafft einen weiteren Schritt hin zu kleinen Dimensionen: Es macht, wenn auch indirekt, einzelne Atome metallischer oder kristalliner Oberflächen sichtbar. Eine winzige Sonde tastet die Oberfläche berührungsfrei ab, wobei ein dünner Strom von Elektronen aufgrund des quantenmechanischen Tunneleffekts den Abstand zum Untersuchungsobjekt überbrückt (Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1985, Seite 62).
Biologisches Material freilich ist im allgemeinen nicht leitend und deshalb für diese Methode kaum oder nicht geeignet. Die Plasmamembran einer tierischen Zelle beispielsweise besteht überwiegend aus Fettmolekülen (Lipiden) und ist somit ein hervorragender elektrischer Isolator. Gerd Binnig, einer jener Physiker, die 1982 das Tunnelmikroskop am IBM-Forschungslabor Zürich in Rüschlikon entwickelt hatten, stellte aber bereits vier Jahre später in einer Publikation mit anderen Wissenschaftlern das Rasterkraftmikroskop der Fachwelt vor (im selben Jahr, 1986, wurden er und Heinrich Rohrer für die Entwicklung des Tunnelmikroskops mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet). Und dessen Fortentwicklung für biologische Anwendungen ermöglicht es nun, winzige Objekte im Lebendzustand zu beobachten.
Zum Verständnis des Prinzips setze man sich im Geiste mit geschlossenen Augen an ein Klavier. Lassen Sie den Zeigefinger einer Hand über die Tasten gleiten, und versuchen Sie, sich über Form, Größe und Anordnung der weißen wie der höheren schwarzen Tasten ein Bild zu machen. Unwillkürlich gleitet Ihr Finger mit sanftem Druck immer wieder über die Oberfläche. Je weniger Druck Sie aufwenden, desto genauer und wahrheitsgetreuer wird das Bild in Ihrem Kopf. Die schließlich gewählte Kraft ist so gering, daß die Tasten gar nicht mehr niedergedrückt werden.
Abtastung mit Feinsinn
Die Topographie der Klaviatur haben Sie – technisch gesprochen – durch Abrastern mit so schwacher Kraft ermittelt, daß die Oberfläche nicht deformiert wurde. Als Sonde diente Ihnen die Fingerspitze, geführt vom Arm als peripherem Werkzeug, und Ihr Gehirn hat die einlaufenden Tastsinn-Signale zu einem komplexen Bild zusammengefügt.
Damit haben Sie alle wichtigen Komponenten der Rasterkraftmikroskopie erfaßt. Dort ist das periphere Werkzeug ein Federbügel von der Länge eines zehntel Millimeters. Am äußeren Ende trägt er einen rechtwinklig nach unten abstehenden Kegel mit extrem dünn auslaufender Spitze von nur mehr wenigen Molekülen Dicke; sie geht auf Tuchfühlung mit der zu untersuchenden Oberfläche. Die präzisen Hin- und Herbewegungen des Federbügels für das zeilenweise Abtasten und das Vorrücken zur nächsten Zeile erledigen Piezoelemente; sie arbeiten mit Kristallen, deren Länge sich mit der angelegten elektrischen Spannung ändert.
Wie aber ersetzt die Technik die Berührungswahrnehmung? Das Rasterkraftmikroskop registriert eine Kraft – die Abstoßung zwischen einzelnen Atomen auf Sondenspitze und Probenoberfläche, die dadurch entsteht, daß sich ihre Elektronenwolken überlappen. Wo die Spitze auf Unebenheiten der Oberfläche trifft, verstärkt oder verringert sich diese Kraft und der äußerst schwache Federbügel verbiegt sich (ganz ähnlich wie Ihr Handgelenk). Ein an seiner spiegelnden Oberseite reflektierter Laserstrahl wird dadurch abgelenkt. Die Stärke der Auslenkung, registriert von einer Photodiode, wäre ein Maß für die Höhenunterschiede abgetasteter Flächen; tatsächlich mißt man aber, wie weit über ein piezoelektrisches Stellelement gegengesteuert werden muß, damit die Auslenkung stets konstant bleibt (Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1989, Seite 62).
Ein leistungsfähiger Rechner baut schließlich aus den Daten, die so etwas wie Längen- und Breitengrad samt Höhe jedes Ortes bezüglich des Normalniveaus beinhalten, ein Reliefbild auf. Je feiner die Kegelspitze, je schwächer der Federbügel, je präziser die Piezoelemente, desto besser die Auflösung.
Das Rasterkraftmikroskop ermöglichte zwar, einzelne Moleküle auch von elektrisch nicht leitenden Stoffen darzustellen. Doch im Vergleich zu seinem großen Nutzen bei der Oberflächenanalyse technischer Materialien blieb jener in der biologischen Forschung vorerst bescheiden. Erklärlich wird dies, wenn man die Oberfläche einer lebenden Zelle betrachtet. In dem dünnen Fettfilm der Plasmamembran schwimmen große Eiweißmoleküle. Sie tragen antennenartige Zuckermoleküle, welche die Oberfläche der Zelle mit einem ungeordneten Flechtwerk, der Glykokalix, überziehen. Bereits Kräfte von wenigen milliardstel Newton, von der Kegelspitze auf diese Strukturen übertragen, deformieren die Membran. Ein wahrheitsgetreues Abbild höchster – das heißt atomarer – Auflösung läßt sich aber nur erzielen, wenn das abzutastende Detail nicht nachgibt oder gar im Substrat abtaucht.
Zu diesem Problem kommen nochdie enormen Höhenunterschiede biologischer Strukturen. Die Oberfläche einer lebenden tierischen Zelle – gleich ob von Nieren, Herz oder Nerven – weist tiefe Falten und Taschen auf, gefüllt mit extrazellulärer Flüssigkeit, in der Salze und andere Stoffe gelöst sind. Für ein getreues Abbild müßte die Kegelspitze eigentlich jedes einzelne Atom der Plasmamembran quasi unter Wasser ertasten. Übertragen in den sichtbaren Bereich hätte also unser Finger eine submarine Gebirgskette sowohl in ihrer gesamten Ausdehnung als auch mit jedem einzelnen Stein nachzuzeichnen. Bei großen Höhenunterschieden ist deshalb nur eine geringe seitliche Auflösung möglich – man kann dann eben nicht jedes Steinchen darstellen wie auf einer ansonsten einförmigen Ebene.
Trotz dieser unsicheren Aussichten auf Erfolg machten sich einige Unentwegte Ende der achtziger Jahre daran, die neue Methode bei biologischen Experimenten zu verwenden. Das zähe Ringen mit der Tücke des Objekts lohnte. Die Rasterkraftmikroskopie, die ursprünglich der Physik und der Technik vorbehalten schien, drang nun allmählich in die Bereiche der belebten Materie vor. Stimuliert durch das steigende Interesse der Bioforscher begannen die Hersteller, die Geräte eigens für deren Bedürfnisse auszulegen (die Piezoelemente beispielsweise mußten wasserdicht gemacht werden). Inzwischen steht ein Instrumentarium zur Verfügung, das zwar noch immer nicht erlaubt, einzelne Atome auf der Oberfläche einer lebenden Zelle zu beobachten, das aber andere faszinierende Möglichkeiten eröffnet, den Geheimnissen der Natur näherzukommen. Vier Beispiele aus unseren eigenen Arbeiten möchte ich schildern.
Zellwanderung
Nicht wenige Zellen im Säugerorganismus führen ein Nomadenleben, wenn auch nicht immer so offenkundig wie die Heerscharen weißer Blutkörperchen, die unablässig unseren Organismus nach zu vernichtenden Krankheitserregern absuchen. Bindegewebszellen etwa reparieren kunstvoll eine Wunde und müssen dazu den als Notverschluß gebildeten Blutpfropf überbrücken. Zellen der Darmschleimhaut wandern aus speziellen, in tiefen Krypten gelegenen Regenerationszentren an den Flanken der Darmzotten hoch, um dort ihre verschlissenen Vorgängerzellen bei der Nährstoffaufnahme abzulösen.
Die Epithelzellen der Nieren hingegen sind seßhaft; sie kleiden die beim Menschen etwa zwei Millionen Nierenkanälchen aus und sorgen dafür, daß giftige Stoffe mit dem Harn ausgeschieden werden, nützliche jedoch letztlich im Körper verbleiben. Infolge eines genetischen Mißgeschicks kann ihre Verankerung im Zellverband sich lösen und ihr Verhalten sich ändern (das ist beispielsweise bei Krebszellen der Fall). So hatten wir an einer in Kultur gehaltenen Zell-Linie aus dem Nierenepithel eines Hundes bereits vor etlichen Jahren festgestellt, daß in einem Nährmedium, das durch Entzug von Säure basischer gemacht wird, sich das Erbgut binnen weniger Tage verändern und eine ursprünglich seßhafte Nierenepithelzelle zu wandern beginnen kann. Solche abartigen Zellen behalten, wenn man sie zur Weiterzucht wieder in normales Nährmedium überführt, ihre Wanderlust bei.
Um mehr über die zugrundeliegenden Prozesse dieser Migration zu erfahren, wollten wir die Bewegungen der Plasmamembran dabei mit dem Kraftmikroskop darstellen. Es war keineswegs klar, ob eine Zelle sich überhaupt abtasten ließe, ohne ihre Aktion sofort einzustellen. Doch in Zusammenarbeit mit John Geibel und Gerhard Giebisch gelang der Versuch im Herbst 1992 am Institut für zelluläre und molekulare Physiologie der Yale-Universität in New Haven (Connecticut).
Hier einige technische Details: Das flache Vorderteil der langsam kriechenden Zelle, das sich in Bewegungsrichtung ausstülpende Lamellipodium, wurde vom Taststift zehnmal pro Sekunde überquert; in etwa einer halben Minute war seine Oberfläche mit einer horizontalen Auflösung von etwa 40 Nanometern (millionstel Millimetern) vollständig abgetastet. Die Spitze des hin- und herrasenden Kegels hatte also all jene Falten, Gräben, Löcher und Wälle erfaßt, die breiter waren als 40 Nanometer. Die Rasterung wurde kontinuierlich fortgesetzt.
Den Experimenten folgten teils tagelange Analysen. Weil der Rechner jeden Tastpunkt gespeichert hatte, vermochten wir jedes Fleckchen der Membran im nachhinein auf dem Bildschirm zu inspizieren. So entdeckten wir Tausende winziger Mulden auf dem Lamellipodium, die von Minute zu Minute ihren Ort wechselten (Bild 2).
Wir nehmen an, daß diese gleichsam brodelnde Oberfläche durch pausenloses Abschnüren von Membranbläschen nach innen zustande kommt, die dann an die vorderste Kante des Lamellipodiums transportiert werden (wie Untersuchungen mit anderen Methoden schon länger nahelegen). Ihr Wiedereinbau in die dortige Membran läßt eine regelrechte Bugwelle entstehen (Bild 1). Der "Schwanz" der Zelle hingegen, in dem sich auch der Zellkern befindet, wird träge hinterhergezogen.
Nach Erkenntnissen von Albrecht Schwab vom Physiologischen Institut der Universität Würzburg strömen am Schwanzbereich einer wandernden Zelle im Minutenabstand massiv Ionen gelöster Salze aus. Daraufhin würde dieser schrumpfen. Zusammen mit dem Einbau von Membranbläschen im Führungssaum des Lamellipodiums und einer damit einhergehenden Schwellung infolge Ionenaufnahme ergäbe dies eine Vorwärtsbewegung der gesamten Zelle. Den verantwortlichen Ionenkanal hat Schwab bereits funktionell mit Hilfe der sogenannten Patch-clamp-Technik nachgewiesen. Dabei saugt man ein winziges Fleckchen (englisch patch) Membran mit einer speziellen Mikropipette an, reißt es unter Umständen sogar heraus und kann dann in einem geeigneten Medium die Ionenströme durch eine Membranpore messen (Spektrum der Wissenschaft, Mai 1992, Seite 48).
Bei einem äußeren Durchmesser von wahrscheinlich höchstens zehn Nanometern (und einer ebensolchen Länge) liegt das kanalbildende Proteinmolekül jenseits der hier bislang möglichen Auflösungsgrenze des Kraftmikroskops – aber eben nur wegen der extremen Nachgiebigkeit der Zellmembran. Schon bei geringster Berührung taucht das darin schwimmende Molekül ins Zellinnere ab und entzieht sich so seiner Darstellung. Methoden, dies zu verhindern, entwickelt man gegenwärtig, um schließlich doch noch der Membranpore bei ihrer Arbeit, dem Transport der Kalium-Ionen aus der Zelle, zusehen zu können.
Defekte Chromosomen
Die bleibende Verhaltensänderung einiger kultivierter Nierenepithelzellen nach Aufenthalt im basischen Milieu beruht, wie erwähnt, auf Veränderungen im Erbgut. Sie erinnert an die von Krebszellen; statt im Verband zu bleiben, siedeln diese sich ab.
Bei Verdacht auf Erbänderungen durchmustert man oft zunächst einmal das Chromosomenbild, den Karyotyp, auf irgendwelche Auffälligkeiten. Dazu züchtet man Zellen in Kultur und unterbricht dann kurz vor der Teilung – in der sogenannten Metaphase – ihr Wachstum. Zu diesem Zeitpunkt liegt die Erbinformation verdoppelt und kunstvoll verpackt in kompakten Chromosomen vor. Die sie sonst vom Zellplasma trennende Membran des Zellkerns ist dann aufgelöst.
Läßt man eine solche Zelle aus 20 Zentimetern Höhe auf ein Deckglas klatschen, zerfließt sie wie ein Spiegelei, und die Chromosomen schwimmen ausgebreitet in der Mitte. Ein gutes Lichtmikroskop kann diese länglichen Gebilde einzeln optisch auflösen. Mit dem Kraftmikroskop gelingt das jedoch noch besser; sein Tastfühler zeichnet exakt die Höhen und Tiefen jedes einzelnen Chromosoms nach und gibt dadurch Aufschluß über dessen genaue Gestalt. Auf diese Weise vermochten wir das aus lichtmikroskopischen Bildern bekannte defekte Chromosom einer wandernden Nierenepithelzelle zu finden und genau zu vermessen.
Beim Hund, von dem ja unsere gezüchteten Nierenzellen stammen, haben gewöhnliche Chromosomen im verdoppelten Zustand die Form eines schlanken V. Das veränderte Chromosom sieht hingegen wie ein an der Spitze verklebtes Doppel-V aus. Offensichtlich hatten sich bei einer zurückliegenden Teilung die verdoppelten Hälften eines Chromosoms, die Chromatiden, nicht völlig voneinander gelöst.
Eine solche Zelle ist gleichwohl lebensfähig und gibt den Defekt an ihre Nachkommen weiter. Allerdings ist sie nicht mehr auf das geregelte Zusammenleben mit anderen gleichartigen Zellen programmiert und wandert nun unaufhörlich.
Anhand der kraftmikroskopisch genau ermittelbaren Längen der einzelnen Chromosomenarme konnten wir das kranke Chromosom klar von dem ähnlich aussehenden einzigen X-Chromosom unterscheiden (Bild 3). Die verwendete Nierenzell-Linie, die man seit 36 Jahren in Laboratorien auf der ganzen Welt züchtet, stammt nämlich von einem männlichen Cocker-Spaniel, und deshalb ist in jeder Zelle nur ein X-Chromosom vorhanden (das andere Geschlechtschromosom ist bei männlichen Säugern ein Y-Chromosom).
Kernporen
Die Kernhülle, eine zweifache Lipiddoppelschicht, schirmt das sonst nicht zu kompakten Chromosomen verdichtete Erbgut vor ungewollten Übergriffen aus dem Zellplasma ab. Sie ist mit Tausenden kleiner Poren durchsetzt, die nur Stoffe mit bestimmter Kennung als Passierschein (der sogenannten Kernlokalisationssequenz) einlassen.
Die Funktionsweise dieser Durchlässe wird weltweit mit den unterschiedlichsten Methoden untersucht, weil man weiß, daß sämtliche von der Außenwelt auf eine Zelle einströmenden Signale, die nachhaltig etwas ausrichten sollen, nach entsprechender Filterung über Zwischeninstanzen zum Kern gelangen müssen. Wir selbst haben vor einigen Jahren begonnen, die Funktion einzelner Kernporen mittels elektrophysiologischer Methoden einschließlich der Patch-clamp-Technik zu studieren und mit dem kraftmikroskopisch ermittelten Zustand des Poreneingangs zu vergleichen.
Die Architektur eines solchen Transportweges hat man in den vergangenen fünf Jahren aus elektronenmikroskopischen Bildern der Kernhülle von Eizellen des afrikanischen Krallenfrosches (Xenopus laevis, seit Jahren das Standardobjekt der Kernporenforscher) bis ins Detail rekonstruiert. Es handelt sich um einen komplizierten Tunnel aus rund 160 Einheiten verschiedener Proteinmoleküle. Drei Hauptabschnitte sind zu unterscheiden:
- der Eingang, ein Ring aus acht Einzelbauteilen, der die aus dem Zellplasma herangetragenen Signalmoleküle an sich bindet und gewissermaßen den Passierschein überprüft – eben die Kernlokalisationssequenz, die als kurzer Schwanz aus sieben basischen Aminosäuren an gewissen Proteinen hängt;
- die Tunnelröhre selbst, ein Konglomerat aus verschiedenen Eiweißstoffen, das für den reibungslosen Stoffaustausch zwischen Kern und Zellplasma sorgt (bei Bild 5 als Pförtner bezeichnet);
- der Ausgang, wieder ein Ring aus acht Einzelteilen, an dem fädige Strukturen hängen, die sich wie Zufahrtsstraßen im Dickicht der Kernmatrix verlieren.
Der Tunnel wird in beiden Richtungen genutzt. Die Baupläne der Proteine sind ja in den Genen im Zellkern niedergelegt; die Produktionsstätten, die Ribosomen, befinden sich jedoch im Zellplasma. Abschriften der Bauanweisungen gehen in Form der Boten-Ribonucleinsäuren durch die Poren zum Produktionsort. Alle Proteine, die im Zellkern wirksam werden sollen, bekommen ihren Passierschein gleich mit und gehen an ihren Bestimmungsort zurück.
Nicht zu vergessende Passanten sind die kleinen anorganischen Ionen, die als schnelle Boten eine wichtige Rolle bei der Signalvermittlung zwischen Kern und Zellplasma spielen. Sie nehmen wahrscheinlich nicht den Haupttunnel, sondern sozusagen Fußwege parallel dazu, deren Existenz sich allerdings nur vermuten, aber noch nicht beweisen läßt.
Maut für den Schwerverkehr
Die Elektrophysiologie hat inzwischen die komplizierte Architektur der Kernporen etwas mit Leben zu füllen geholfen. Mit der Patch-clamp-Technik läßt sich der Schwerverkehr, der Transport von Proteinen durch den Haupttunnel, indirekt erfassen: als elektrischer Strom von nur wenigen millionstel Milliampere Stärke. Dieser rührt nicht von den wandernden Proteinmolekülen selbst her, sondern von dem flankierenden Einstrom kleiner anorganischer Begleiter wie Kalium-Ionen, die wahrscheinlich die Fußwege benutzen. Derer soll es jeweils acht pro Pore geben.
Experimentelle, aber noch indirekte Hinweise aus den achtziger Jahren bestätigten sich, wonach der Schwerverkehr Maut kostet. Zu begleichen ist sie in der universellen Energiewährung der Zelle, also mit Adenosintriphosphat (ATP); die Abspaltung von Phosphatgruppen aus dem Molekül setzt die gespeicherte chemische Energie frei. Wo allerdings die Maut erhoben wird, am Eingang oder erst im Tunnel selbst, und wer sie kassiert ist bislang noch nicht im einzelnen geklärt.
Der Pförtner läßt sich, wenn man die Kernhülle einer Zelle experimentell freilegt, mit dem Fühler des Kraftmikroskops abtasten, um ein Bild des jeweiligen Funktionszustands zu gewinnen. Noch reicht die Auflösung gerade erst aus, daß man die Ringstruktur und die zentrale Öffnung zu erkennen vermag; aber man braucht bereits etwas Phantasie, um die acht Einzelbauteile – geschweige denn irgendwelche benachbarten Fußwege – auszumachen (Bild 4). Die seitliche Auflösung liegt gegenwärtig bei ungefähr 10 Nanometer. Trotzdem versuchten wir in Zusammenarbeit mit Michele Mazzanti vom Physiologischen Institut der Universität Mailand und Omar Bustamante von der Medizinischen Klinik der Yale-Universität, die Interaktion eines zur Passage angetretenen Eiweißmoleküls mit einer Kernpore darzustellen.
Pulks
Für unsere Experimente an den Hunde-Nierenepithelzellen wählten wir ein Protein, das sich an ein als TATA-Box bezeichnetes Sequenzmotiv auf der Erbsubstanz DNA bindet und danach TBP abgekürzt wird. Es fungiert bei allen mit Kern ausgestatteten Zellen als Transkriptionsfaktor, leitet also zusammen mit gewissen anderen Proteinen das Abschreiben von Boten-RNA an einem Gen ein. Das mittelgroße Molekül wird wie üblich in den Ribosomen hergestellt und vorschriftsmäßig mit einem Passierschein für den Eintritt in den Kern ausgestattet.
Zunächst haben wir die Oberfläche der Kernhülle in Abwesenheit von TBP-Molekülen kraftmikroskopisch erfaßt und anschließend diese zugefügt (sie werden heute gentechnisch hergestellt). Tatsächlich ließen sich einzelne Moleküle am Tunneleingang und sogar beim Eintritt darstellen – allerdings nicht ohne weiteres (Bild 5). Wir benötigen nämlich mindestens eine halbe Minute, um einen solchen Vorgang nachzuzeichnen. Doch der vollzieht sich normalerweise in Sekunden. Man muß deshalb den Durchtritt experimentell verzögern, indem man beispielsweise den Energiehahn weitgehend zudreht und ATP aus der unmittelbaren Umgebung der Kernpore entfernt.
In gänzlich ATP-freier Umgebung erlebten wir eine Überraschung: Die TBP-Moleküle hatten sich zu großen Pulks zusammengelagert. Was hatten sie mit ATP zu tun? Sollte das Transportgut selbst sich die Energie verschaffen, die es zu seinem Durchtritt benötigt, statt ihn von einer vermuteten ATPase (einem ATP-spaltenden Enzym) des Tunnels katalysieren zu lassen?
Inzwischen hatte sich die Technik des Kraftmikroskopierens so weit entwickelt, daß wir die Frage gewissermaßen visuell an einer reinen molekularen Probe zu klären versuchen konnten: Der Elektrolytlösung, in der die Moleküle von der Sonde abgetastet wurden, ließen sich problemlos Stoffe wie ATP wieder zusetzen – und das ermöglichte, auftretende Prozesse direkt zu beobachten. Unsere Hypothese schien sich zu bestätigen: Das Hinzufügen von ATP in einer Konzentration, wie sie unter natürlichen Bedingungen in der Zelle vorkommt, zog ein rasches Auflösen der großen TBP-Konvois nach sich (Bild 6).
Nun lagen so kleine Bausteine aus höchstens zwei bis vier Proteinmolekülen vor, daß man aus physikochemischen Gründen annehmen durfte, sie könnten problemlos, vielleicht sogar ohne zusätzlichen Energiebedarf, in den Zellkern gelangen. Wie aber waren sie ausgestattet? Hatten die Moleküle ATP einfach nur an entsprechenden Stellen an sich gebunden und dafür den Kontakt untereinander gelöst? Oder hatten sie die Energiewährung gleich selbst eingelöst, das heißt, ATP aus eigener Kraft gespalten?
Diese grundsätzliche Frage nach einer biochemischen Eigenschaft, nämlich ob ein TBP-Molekül über eigene Spaltaktivität verfügt, ließ sich wiederum anhand von kraftmikroskopischen Befunden erörtern, was den breiten Anwendungsbereich dieser neuen Technik zeigt. Wir haben dazu dem ATP-verarmten TBP-Pulk ein Analogon von ATP angeboten, das zwar gebunden, aber nicht gespalten werden kann.. IIn diesem Fall unterbleibt, wie sich zeigte, die Trennung. Somit scheint es durchaus wahrscheinlich, daß TBP-Moleküle sich selbst durch ATP-Spaltung energetisch auftanken und dann ohne weitere Hilfe als kleine Gespanne den Tunnel durchlaufen.
Perspektiven
Die Rasterkraftmikroskopie kann die herkömmlichen Verfahren der hochauflösenden Mikroskopie in der Biologie grundsätzlich nicht ersetzen. Ihre Stärken liegen auf anderen Gebieten, als diese Verfahren abdecken. Das anhand der Auslenkung des Taststifts entworfene dreidimensionale Bild gibt die Topographie der untersuchten Materialoberfläche eben nur dann getreu wieder, wenn sie harte Strukturen mit möglichst geringen Höhenunterschieden aufweist. Weiche Objekte selbst auf einer festen Unterlage werden von der Spitze weggeschoben, mitgenommen oder niedergedrückt. In dem Bild, das der Rechner dann entwirft, sind die elastischen Eigenschaften des Untersuchungsmaterials sozusagen integriert.
Das mag auf den ersten Blick ein Schwachpunkt sein und ist es auch, wenn es um die optisch getreue Wiedergabe der Topographie einer biologischen Oberfläche geht. Für die Zukunft dieser Technik in den Biowissenschaften birgt dieser Umstand aber vielleicht einen bedeutsamen Vorteil: Man könnte die Materialeigenschaft sichtbar machen.
Ein aktiv werdendes Molekül muß seine Konformation – seine typische Gestalt – in der Zelle unter Umständen äußerlich gar nicht wesentlich und somit für uns meßbar wandeln, obwohl es irgendwelche Veränderungen im Innern durchmacht. Diese könnten sich durchaus mehr in seiner elastischen Verformbarkeit niederschlagen. Wir vermögen auch ein gepelltes hartgekochtes nicht von einem etwas weicheren Ei zu unterscheiden, wenn wir beide nur betrachten dürfen. Dazu brauchen wir andere Sinne oder Hilfsmittel. Das Rasterkraftmikroskop wird in ähnlicher Weise die optischen Techniken in den Biowissenschaften ergänzen.
Literaturhinweise
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– Oscillating Activity of a Ca2+ Sensitive K+ Channel-a Prerequisite for Migration of Transformed Madin-Darby Canine Kidney Focus Cells. Von A. Schwab, L. Wojnowski, K. Gabriel und H. Oberleithner in: Journal of Clinical Investigations, Band 93, Seiten 1631 bis 1636, 1994.
– Patch-Clamp and Atomic Force Microscopy Demonstrate TATA-Binding Protein (TBP) Interactions with the Nuclear Pore Complex. Von O. J. Bustamante, A. Liepins, R. A. Prendergast, J. A. Hanover und H. Oberleithner in: Journal of Membrane Biology, Band 146, Seiten 263 bis 272, 1995.
– Phenotypically and Karyotypically Distinct Madin-Darby Canine Kidney Cell Clones Respond Differently to Alkaline Stress. Von S. Wünsch, M. Gekle, U. Kersting, B. Schuricht und H. Oberleithner in: Journal of Cellular Physiology, Band 164, Seiten 164 bis 171, 1995.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1996, Seite 76
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