Legasthenie gestörte Lautverarbeitung
Einem neueren Modell zufolge ist nicht, wie noch oft angenommen, eine Störung in der visuellen Koordination von Buchstaben Ursache der Lese-Rechtschreib-Schwäche bei durchaus normaler Gesamtintelligenz. Vielmehr scheinen bestimmte sprachliche Prozesse unzureichend zu funktionieren.
Der vierzehnjährige Percy F. "war immer ein aufgeweckter und in- telligenter Junge", schrieb der englische Arzt W. Pringle Morgan aus Sussex im November 1896 in der Fachzeitschrift "British Medical Journal". "Beim Spiel reagiert er flink und zeigt rasche Auffassungsgabe; hinter Gleichaltrigen steht er da in keiner Weise zurück. Sein großes Handicap war und ist, daß er einfach nicht lesen lernt."
Diese frühe Beschreibung einer Legasthenie (von lateinisch legere, lesen und griechisch asthenes, kraftlos, schwach) – wie im angloamerikanischen Sprachraum auch Dyslexie genannt – charakterisiert ein merkwürdiges, noch immer nicht gänzlich erklärliches Phänomen: die tiefgreifenden und bleibenden Schwierigkeiten von sonst normal begabten und mitunter blitzgescheiten Menschen mit dem Lesen und Schreiben. Damals wie heute gilt die Beherrschung der Schriftsprache weithin als ein Ausdruck von Intelligenz: Jedes aufgeweckte und richtig angeleitete Kind könne lesen lernen. Daß diese verbreitete Vorstellung nicht stimmt, beweisen Millionen von Legasthenikern, bei denen diese Fähigkeit und die übrigen Verstandesleistungen weit auseinanderklaffen.
In den zwanziger Jahren wurde die These unterbreitet, Mängel beim Sehen seien schuld, wenn ein Kind fortwährend Buchstaben und Wörter vertauscht, und man suchte dem mit besonderer Sehschulung zu begegnen. Doch späteren Studien zufolge haben Legastheniker mit der Anordnung und Stellung der Buchstaben keineswegs ungewöhnlich viele Schwierigkeiten. Auch andere Kinder schreiben in bestimmten Entwicklungsphasen in Spiegelschrift oder verkehren Buchstaben (vergleiche "Legasthenie" von Frank R. Vellutino, Spektrum der Wissenschaft, Mai 1987, Seite 74, sowie "Kinder auf dem Weg zur Schrift", und "Rechtschreibung: Kinder lernen in qualitativen Sprüngen" von Hans Brügelmann, Spektrum der Wissenschaft, Mai 1987, Seite 81, und Januar 1990, Seite 26). Der Fehler liegt vielmehr im Sprachsystem, und zwar bei der Verarbeitung der Einzellaute, aus denen Wörter sich zusammensetzen, der Phoneme. Neuere linguistische Modelle des Lesens und der Legasthenie erklären, weswegen das Manko – das sich auch bei manchen anderen sprachlichen Aufgaben zeigt – so oft unabhängig von den übrigen geistigen Fähigkeiten auftritt.
Ein phonologisches Modell
Meine Kollegen und ich haben im Verlaufe der Jahre Hunderte von Kindern und auch viele Erwachsene mit Lese- und Schreibschwierigkeiten kennengelernt. Etliche sind Studenten an unserer Hochschule, der Yale-Universität in New Haven (Connecticut), oder gehören sogar zum Kreis der Wissenschaftler und Dozenten.
Nehmen wir Gregory, einen Medizinstudenten, der unser Forschungszentrum für Lernen und Aufmerksamkeit an der Medizinischen Fakultät konsultierte, weil er in den Grundkursen seines Fachs auf entmutigende Probleme gestoßen war. Schon in der Grundschule war erkannt worden, daß er Legastheniker ist. Dennoch kam er in einen Zweig für besonders Begabte. Seine Talente und vielerlei Fördermaßnahmen verhalfen ihm zu einem guten Abschluß der High School und einem College-Studium. Hier büffelte er hart, und angesehene medizinische Fakultäten boten ihm schließlich einen Studienplatz an – doch kaum waren die Kurse angelaufen, begann er an sich selbst zu verzweifeln.
So mühelos er verwickelte Beziehungen physiologischer Systeme oder komplexe Krankheitsmechanismen begriff, so schwer fiel es ihm, medizinische Fachbegriffe und anatomische Bezeichnungen wiederzugeben, ja selbst neue lange Wörter auszusprechen. Bei Denkaufgaben stach er hervor, doch etwas auswendig zu lernen war ihm fast nicht möglich.
Nicht nur er selbst, auch die Dozenten wunderten sich über die ungleichen Leistungen. Wie konnte jemand, der schwierige Konzepte leicht erfaßt, sich mit einfachen Details wie Körperteilen und Gewebetypen so schwertun? War etwa die Leseschwäche der Grund dafür? Er las nämlich immer noch nur langsam.
Der vermutete Zusammenhang schien offensichtlich. Gregory ist der klassische Legastheniker, der als Kind trotz rundum guter Voraussetzungen plötzlich Eltern und Lehrer schockiert, weil er im Lesen und Schreiben versagt. Doch ich konnte ihm auch Hoffnung machen, weil man heute den Hintergrund der Legasthenie versteht.
In den letzten zwanzig Jahren hat sich herauskristallisiert, daß das Defizit am ehesten bei der Lautverarbeitung zu suchen ist. Dies stützen auch alle bisherigen Erkenntnisse über Organisation und Funktion des Gehirns. Seit etwa zehn Jahren prüfen und verfeinern viele Fachwissenschaftler dieses Konzept mittels kognitionspsychologischer und neuerdings auch neurobiologischer Studien.
Basis für dieses Modell ist die Sprachverarbeitung. Das Sprachsystem des Gehirns stellt man sich als eine Reihe hierarchisch einander zugeordneter Module vor, deren jedes für bestimmte sprachliche Aspekte zuständig ist. Komponenten der oberen Ebenen befassen sich mit Semantik, also mit den Wortbedeutungen, mit Syntax – den grammatikalischen Strukturen – oder mit dem Diskurs, worunter man realisierte sprachliche Zusammenhänge wie Satzfolgen versteht. Auf der untersten Ebene befindet sich das phonologische Modul, das für die einzelnen Lautelemente zuständig ist, aus denen sich Sprache konstituiert (Bild 3).
Phoneme sind die kleinsten in einer Sprache unterschiedenen lautlichen Segmente, die grundlegenden linguistischen Einheiten, mit deren Hilfe man Bedeutungen differenziert. Das Deutsche wie das Englische kommen für sämtliche Wörter mit rund 40 Phonemen aus (die teilweise in den beiden Sprachen voneinander abweichen, wie ja überhaupt die Phoneme einer Sprache oft so charakteristisch sind, daß dies bei Fremdsprachen Schwierigkeiten machen kann; man denke etwa an den Unterschied zwischen /r/ und /l/, den bestimmte Sprachkulturen wie die japanische nicht kennen). Das Wort "Hut" zum Beispiel enthält die drei Phoneme /h/, /u/ und /t/, "Mut" an erster Stelle das unterscheidende /m/. (Genaugenommen sind die Phoneme bereits Abstraktionen aus einer größeren lautlichen Variationsbreite.)
Beim Erkennen, Verstehen, Behalten oder Hervorbringen eines Wortes ist stets das phonologische Modul eingeschaltet, denn von ihm wird es in die phonetischen Elemente zerlegt (Linguisten nennen den Vorgang "parsing"). Bei gesprochener Sprache vollzieht sich dies gewöhnlich unbewußt, sozusagen automatisch – dem Linguisten Noam Chomsky vom Massachusetts Institute of Technology in Cambridge und in jüngerer Zeit auch seinem Kollegen Steven Pinker zufolge ist Sprachfähigkeit dem Menschen insofern angeboren, als er Sprache quasi instinktiv erwirbt, wenn er davon umgeben ist (Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1995, Seite 80).
Und zwar werden – unter anderem – die Laute beim Sprechen vom phonologischen Modul zum Wort zusammengezogen beziehungsweise beim Hören die Wörter in die phonologischen Komponenten zerlegt. Auch der menschliche Sprechapparat, der sich unter anderem aus Kehlkopf, Gaumen, Zunge und Lippen aufbaut, zieht die Laute automatisch zu Wörtern zusammen, verschmilzt sie sogar regelrecht (Bild 2 links). Wenn man dies mit Aufzeichnungsgeräten optisch umsetzt, erscheinen die Sprachelemente und Wortfolgen als zusammenhängende, nahtlose Einheit. Das menschliche Sprachsystem aber vermag aus diesem verwaschenen Ganzen die Phonem-Komponenten herauszufiltern, während Computer mit der Sprachsynthese wie mit der Analyse menschlicher Rede große Schwierigkeiten haben (Spektrum der Wissenschaft, März 1994, Seite 86, und Dezember 1996, Seite 100).
Die Errungenschaft des Lesens
Lesen reflektiert zwar gesprochene Sprache, wie etwa mein Kollege Alvin M. Liberman von den Haskins-Laboratorien in New Haven (Connecticut) betont, doch läßt diese Kunst sich viel schwerer meistern und wird denn auch erst Jahre nach dem ersten Sprechen erworben. Phonologische Verarbeitung ist zwar in beiden Fällen im Spiel, aber im Gegensatz zum Sprechen ist Lesen nicht etwas Natürliches; vielmehr ist es wie die Schrift eine kulturelle Erfindung, und die Kompetenz zum Lesen muß man sich erst bewußt aneignen.
Es geht darum zu lernen, visuell codierte Information in eine sprachliche zu übertragen: Die optischen Zeichen von Lautschriftsystemen wie dem Alphabeth, die Grapheme, sind zu decodieren und in die korrespondierenden Phoneme umzudeuten (Bild 2 rechts; andere Schriftsysteme wie das chinesische und die japanischen oder die altägyptischen Hieroglyphen sind für unser Thema nicht gleicherweise relevant). Damit einem Kind dies gelingt, muß es sich bewußt werden, daß die Wörter in bestimmter Weise aus Phonemen zusammengesetzt sind. Als nächstes muß es begreifen, daß die Folge der Buchstaben die Abfolge der Sprachlaute wiedergibt. Beides bewältigen Kinder, die normal lesen lernen, ohne allzu große Schwierigkeiten.
Anders das legasthenische Kind. Wegen eines Defekts im phonologischen Modul hat es – wie wir mit unserem Modell annehmen – Mühe, die elementaren phonologischen Komponenten eines geschriebenen Wortes zu erfassen. Die Folge der mangelhaften Decodierung ist aber, daß es das Wort auch nicht erkennt. Somit blockiert die Störung einer eigentlich untergeordneten sprachlichen Funktion höhere Verarbeitungsebenen: Das Wort und damit der gesamte Satz gewinnen keinen Sinn. Daß die höheren Funktionen an sich intakt sind, hilft dem Kind nicht weiter, denn ohne Identifikation der Wörter läßt ein Text sich nun einmal nicht verstehen.
Beim Lesen und Schreiben zeigt sich der Defekt am deutlichsten. Er kann sich allerdings auch in typischer Weise bei mündlichen Äußerungen bemerkbar machen – wie bei Gregory, dem lange oder neue Wörter Schwierigkeiten machen, ob er sie nun liest, hört oder nachsprechen soll.
Hinweise auf eine gestörte phonologische Verarbeitung werden seit mehr als zwei Jahrzehnten zusammengetragen. Eine der ersten solchen Studien unternahm Isabelle Y. Liberman von den Haskins-Laboratorien. Wie sie herausfand, wird Kindern die phonologische Struktur gesprochener Wörter erst im Alter zwischen vier und sechs Jahren bewußt. Als sie sagen sollten, wie viele Laute sie in bestimmten Wörtern hörten, vermochte keines von den Vierjährigen dies einigermaßen richtig zu erkennen, hingegen konnten das 17 Prozent der Fünfjährigen und 70 Prozent der Sechsjährigen (einer älteren deutschen Untersuchung zufolge vermochten dies sogar 90 Prozent der Sechsjährigen).
Nun werden amerikanische Kinder vielfach mit fünf Jahren eingeschult, haben also mit sechs bereits Grundfertigkeiten des Lesens geübt. Um herauszufinden, ob zwischen der Herausbildung eines phonologischen Bewußtseins und dem Lesetalent ein Zusammenhang besteht, begannen wir 1983 eine Langzeitstudie mit 445 statistisch ausgewählten Kindern im Vorschulalter, die bis zu deren Schulabschluß weiterläuft. Wir haben diese Probanden – die ältesten sind mittlerweile 19 Jahre alt – jährlich getestet und dabei festgestellt, daß volle 20 Prozent dieser jungen Amerikaner von Legasthenie mehr oder weniger stark betroffen sind. Das würde ungefähr mit dem Anteil von sechsjährigen Kindern in Isabelle Libermans Untersuchung zusammenstimmen, die sich mit der Lautsegmentierung, also der Lautanalyse von Wörtern, schwertaten.
Gezielte Forschungen zum Zusammenhang zwischen dem phonologischen Bewußtsein und dem Leselernvermögen begannen in den achtziger Jahren. Eine bahnbrechende Arbeit stammt von Lynette Bradley und Peter E. Bryant von der Universität Oxford (England). Demnach kann man schon beim Vorschulkind vorhersagen, wie leicht es lesen lernen wird, indem man seine Fähigkeit zur Lautanalyse bestimmt. Allerdings läßt sich dieses phonologische Talent, wie die Forscher auch herausfanden, durchaus fördern, indem man das Lautbewußtsein schult. Solche Kinder, mit denen sie übten, Wörter nach Sprachlauten zu unterscheiden und gleichlautende zusammenzuordnen, machten im Lesen deutliche Fortschritte, nicht hingegen jene, die zum Beispiel Wörter nach der Bedeutung sortierten.
Spätere Arbeiten von Benita A. Blachman von der Universität Syracuse (Bundesstaat New York), Joseph E. Torgesen von der Florida State University in Tallahassee und Barbara Foorman von der Universiät Houston (Texas) stützen diesen Befund. Immer kam heraus, daß nicht so sehr allgemeine sprachliche Schulung, sondern ein spezifisches Training der Lautanalyse das Lesenlernen fördert.
Lautsalat
Wir bauten auf diesen Studien auf, als wir Anfang der neunziger Jahre die kognitiven Leistungen legasthenischer und normaler Kinder verglichen. Jack M. Fletcher von der Universität von Texas in Houston, Donald P. Shankweiler und Leonard Katz von den Haskins-Laboratorien und ich haben mit 378 Kindern, die zwischen sieben und neun Jahre alt waren, eine Anzahl von Tests zur sprachlichen wie nichtsprachlichen Kompetenz gemacht. Dabei ergab sich das gleiche wie in einer Untersuchung von Keith E. Stanovich und Linda S. Siegel vom Ontario-Institut für Erziehungsforschung in Toronto (Kanada): Das auffallendste wie auch konsistenteste geistige Merkmal, in dem legasthenische Kinder sich von anderen unterscheiden, ist ihr geringes Vermögen, die Phoneme von Wörtern zu erkennen.
Vor allem ein Test schien sich zum Feststellen einer Legasthenie zu eignen. Die Kinder sollten gehörte Wörter in die Einzellaute zerlegen und dann aussprechen, indem sie ein bestimmtes Phonem, zum Beispiel das erste, ausließen: entsprechend etwa "Maus" ohne das /m/, oder "drei" ohne das /d/. Die Leistung spiegelte vor allem, wie gut das Kind in standardisierten Worterkennungstests abschnitt; von ihrem Wortschatz, dem logischen Denken und Begründen wie auch der Intelligenz generell wurde das Ergebnis kaum oder gar nicht beeinflußt. Übrigens fanden wir den gleichen Zusammenhang, als wir diese und ähnliche Aufgaben inzwischen 15jährigen Teilnehmern unserer Langzeitstudie vorlegten: Noch in diesem Alter bestimmt also vor allem die phonologische Bewußtheit und Kompetenz das Lesevermögen.
Falls Legasthenie tatsächlich auf eine mangelhafte Ausbildung der Fähigkeit zur Lautanalyse zurückgeht, sollte sich der Defekt auch auf andere Weise zeigen – und das tut er. Vor zehn Jahren wies Robert B. Katz von den Haskins-Laboratorien auf, inwiefern leseschwache Personen sich schwertun, Objekte auf Abbildungen zu benennen. Irren sie sich im Wort, dann pflegt es doch in bestimmter Weise ähnlich zu klingen wie das richtige; sie bezeichnen etwa nach einigem Bemühen einen Vulkan auf einem Photo als Orkan. Vor allem aber wissen sie genau, was sie vor sich haben, denn sie können das Objekt sehr gut in allen Einzelheiten beschreiben (Bild 1). Auch vermögen sie ohne weiteres gleiche Objekte auf anderen Bildern mit dem ersten zu identifizieren, also Vulkane einander zuzuordnen, und sie werden nicht Aufnahmen von Orkanen damit verwechseln; nur das richtige Wort dazu hervorzubringen fällt ihnen schwer.
Wie schon angedeutet, darf man vermuten und hat auch Hinweise darauf, daß bei Legasthenie die höheren Module der Sprachverarbeitung – die Teilsysteme, die sich mit Grammatik und sprachlichem Zusammenhang, also im Grunde mit dem Verstehen befassen – an sich normal funktionieren, doch können sie wegen des Defekts auf unterer Ebene nicht in Aktion treten.
Dies zeigte sich deutlich bei Jennifer, einer sehr gescheiten jungen Frau. Als wir sie testeten, konnte sie uns zum Beispiel den Begriff "Apokalypse" durchaus gut erklären. Sie vermochte sowohl die Grundbedeutung als auch die wesentlichen Konnotationen und den richtigen Gebrauch zu beschreiben. Doch als sie das Wort geschrieben vor sich sah, erkannte sie es nicht. Das bedeutet, daß der Begriff in einem gedruckten Text, den sie liest, für sie sinnleer ist und damit sicherlich auch der Inhalt des Satzes. So bleibt ihr dann verwehrt, ihren Wissensfundus anzuwenden.
Nun lernen aber viele Legastheniker, wie auch Gregory, passabel lesen und können sogar eine akademische Ausbildung absolvieren. Sie vermögen ihr Handicap oft dermaßen zu kompensieren, daß sie in Tests der Wortgenauigkeit so gut wie jeder andere abschneiden. Sie haben es gelernt, Buchstabenfolgen zu decodieren und Wörter zu identifizieren, und haben sich damit Zugang zu den höheren Ebenen der Sprachverarbeitung geschaffen. Das hat allerdings seinen Preis: Mißt man die Zeit, die sie zum Decodieren benötigen, stellt sich heraus, daß sie sich dabei besonders anstrengen müssen. Sie erfassen die Wörter nicht automatisch und lesen keineswegs fließend. Viele Legastheniker erzählen, wie sehr Lesen sie ermüde – ein Zeichen für den enormen geistigen Aufwand, den sie dabei treiben müssen.
Gehirnbilder
Wie extrem langsam das Gehirn dieser erwachsenen und lesetüchtigen Menschen beim Entziffern von Phonemen arbeitet, kann man sehen, wenn man das Geschehen in den zuständigen Regionen mit neuen bildgebenden Verfahren darstellt. Nach unserer Vorstellung finden die verschiedenen Schritte der Sprach- und Wortverarbeitung jeweils in spezifischen neuronalen Netzen statt. Wo diese im einzelnen im Gehirn lokalisiert sind, ließ sich zuvor nicht mit letzter Sicherheit feststellen – wie man überhaupt die anatomische Repräsentation der menschlichen höheren geistigen Leistungen allenfalls aus Hirnläsionen erschließen konnte.
Entsprechend begeistert waren wir, als computertomographische Verfahren entwickelt und verfeinert wurden, die es mittlerweile erlauben, das Gehirn sozusagen in Aktion abzubilden (Spektrum der Wissenschaft, Juli 1982, Seite 40, und Juli 1993, Seite 56). Mit der Kernspin-Tomographie lassen sich ohne Eingriff oder Strahlenbelastung Veränderungen der Stoffwechselaktivität bei geistigen Tätigkeiten erkennen; sie eignet sich deswegen insbesondere auch zur Untersuchung von Kindern.
Seit 1994 erforschen wir an der Yale-Universität damit die Gehirnarbeit beim Lesen. Aus den Befunden an mehr als 200 legasthenischen und normalen Kindern und Erwachsenen haben wir bereits ein vorläufiges Bild gewonnen, welche Hirngebiete dabei mitwirken: So werden bei der Identifizierung von Buchstaben Bereiche im extrastriaten Cortex des Hinterhauptlappens aktiviert. An der phonologischen Bearbeitung ist eine seitliche Windung des Stirnlappens beteiligt, der Gyrus frontalis inferior, wo man auch das Brocasche Sprachzentrum lokalisiert; und hintere Bereiche des Schläfenlappens in den Gyri temporalis medius und superior sowie der Gyrus supramarginalis des Scheitellappens sind bei der Zuschreibung von Wortbedeutungen aktiv (Bild 4).
Erstaunlicherweise zeigt sich bei der phonologischen Verarbeitung deutlich ein geschlechtsspezifischer Unterschied. Bei Männern wird die Vorderhirnwindung linksseitig, bei Frauen hingegen auf beiden Seiten aktiviert (Bild 5). Dies war der erste konkrete Beweis für eine geschlechtsspezifische Differenzierung der Hirnorganisation bei einer geistigen Funktion. Unsere Erkenntnis hilft auch manche anderen Befunde verstehen, deren Hintergrund man teilweise nur ahnte, etwa daß Frauen nach einem linksseitigen Schlaganfall in Spracharealen seltener schwere Störungen haben; und damit wird die frühere Annahme erklärlich, Mädchen seien seltener als Jungen legasthenisch – sie kompensieren das Manko offenbar nur leichter.
Mit der Lokalisierung der am Lesen beteiligten Hirnareale dürfte sich künftig auch die Legasthenie präziser diagnostizieren und von anderen Lese- oder Schreibschwächen unterscheiden lassen. Möglicherweise könnte man sogar an den jeweils aktivierten Strukturen erkennen, ob und welche Effekte Förderprogramme haben.
Unser Modell grenzt das Phänomen Legasthenie strikt ein: Sie beruht auf einer Schwäche der Phonem-Analyse bei oft beachtlichen Stärken im Denken und Problemlösen, in Konzeptbildung, Logik und Wortschatz. Möglicherweise nutzen akademisch geschulte Legastheniker wie Gregory sogar in besonderem Maße übergeordnete Konzepte, Modelle und Theoriegebäude, um sich Einzelheiten zu merken. Auffallend ist ja, daß sie sich Listen unbekannter Wörter, außerhalb eines Sinnzusammenhangs, meist nur mit großer Mühe einzuprägen und dann selten rasch aus dem Gedächtnis abzurufen und zu artikulieren vermögen.
Fühlen sich Legastheniker – etwa in Prüfungen – unter Druck, bringen sie häufig nur den gesuchten ähnliche Phoneme oder die richtigen in falscher Reihenfolge hervor und sprechen stolpernd, mit vielen Pausen und Interjektionen wie "hm" und "äh". Dennoch kann mancher unter anderen Umständen normal sprechen oder sogar Reden halten. Ähnliches gilt für das Lesen. Während andere schwierige Wörter automatisch decodieren, muß sich ein Legastheniker, um sie zu identifizieren, immer wieder den Kontext vergegenwärtigen. Insbesondere bei Multiple-Choice-Tests, die eine Reihe von Einzelfakten zur Auswahl vorgeben, kann er schwerlich zeigen, was er eigentlich weiß.
Nachdem wir viele betroffene Studenten und Akademiker untersucht haben, vermuten wir, daß etliche, die ihre Behinderung gut zu kompensieren gelernt haben, Überdurchschnittliches leisten, was logisches Denken und Konzeptbildung angeht. Der Teildefekt maskiert bei ihnen nur einen hervorragenden Verstand. Amerikanische Schulen und Universitäten stellen sich mittlerweile mit angepaßten Prüfungen darauf ein. Je mehr Pädagogen und Dozenten endlich, hundert Jahre nach der ersten Beschreibung, die Ursachen dieser Lese-Rechtschreib-Schwäche wirklich verstehen, desto leichter werden Legastheniker ihren angemessenen Platz in der Gesellschaft finden.
Literaturhinweise
- Toward a Definition of Dyslexia. Von G. Reid Lyon in: Annals of Dyslexia, Band 45, Seiten 3 bis 27, 1995.
– The Alphabetic Principle and Learning to Read. Von Isabelle Y. Liberman, Donald P. Shankweiler und Alvin M. Liberman in: Phonology and Reading Disability. Herausgegeben von D. P. Shankweiler und I. Y. Liberman. University of Michigan Press, 1989.
– Learning to Read. Herausgegeben von Laurence Rieben und Charles A. Perfetti. Lawrence Erlbaum Associates, Hillsdale (New Jersey) 1991.
– Evidence That Dyslexia May Represent the Lower Tail of a Normal Distribution of Reading Ability. Von Sally E. Shaywitz, Michael D. Escobar, Bennett A. Shaywitz, Jack M. Fletcher und Robert Makuch in: New England Journal of Medicine, Band 326, Heft 3, Seiten 145 bis 150, 16. Januar 1992.
– Sex Differences in the Functional Organization of the Brain for Language. Von Bennett A. Shaywitz, Sally E. Shaywitz, Kenneth R. Pugh, R. Todd Constable, Pawel Skudlarski, Robert K. Fulbright, Richard A. Bronen, Jack M. Fletcher, Donald P. Shankweiler, Leonard Katz und John C. Gore in: Nature, Band 373, Seiten 607 bis 609, 16. Februar 1995.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 1997, Seite 68
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