Legasthenie und Dyslexie in Japan
Die Vorstellung, Lese- und Rechtschreib-Schwächen beruhten auf einer typischen Schwierigkeit mit dem Alphabet-Schriftsystem, hat sich als falsch erwiesen.
Wie kommt es, rätselten die Gelehrten, daß ein randvolles Goldfischglas überläuft, wenn man einen toten, nicht aber, wenn man einen lebendigen Fisch hineingibt? Diesem merkwürdigen Phänomen suchte man mit komplizierten Theorien über die Wasserverdrängung und -absorption lebendiger und toter Organismen auf den Grund zu kommen – bis jemand die Probe aufs Exempel machte und feststellte, daß es sich um einen Scherz handelte. So wird manchmal ein kopflastiges Verhältnis von Theorie und Empirie karikiert. Allein, die Spötter übertreiben nicht. Ein Musterbeispiel ist die vermeintlich schriftkultur-gekoppelte Legasthenie.
Während Psychologen und Pädagogen in Europa und den USA sich seit Jahrzehnten mit den Problemen lernbehinderter Kinder beschäftigen, die an irgendeiner Form der Lese-Rechtschreib-Schwäche leiden, hat sich in Japan bisher kaum jemand dafür interessiert. Das Thema schien nämlich irrelevant, seit der Psychologe Makita Kiyoshi 1968 einen Forschungsbericht im „American Journal of Orthopsychiatry“ (Band 38, Seiten 599 bis 614) publiziert hatte mit dem Ergebnis, daß Legasthenie oder auch Dyslexie – die Schwierigkeit, Geschriebenes zu erfassen und zusammenhängend vorzulesen – in Japan kaum vorkomme.
Man mußte nur noch eine Erklärung finden, und die lag nahe: Das japanische Schriftsystem besteht nicht aus lautbezeichnenden Buchstaben, sondern aus Silbenzeichen einerseits und chinesischen Wortzeichen andererseits, die bedeutungstragende Elemente der Sprache darstellen. Man vermag also unter Umständen Wörter zu lesen und zu verstehen, ohne sie aussprechen zu können, wohingegen es die Alphabetschrift erlaubt, Wörter zu lesen und auszusprechen, auch wenn man sie nicht versteht. Mithin war es durchaus nicht unplausibel anzunehmen, die Bedingungen der perzeptuellen, neuronalen und kognitiven Verarbeitung der beiden Systeme seien so verschieden, daß darin die Ursache für die Seltenheit von Legasthenie und Dyslexie in Japan zu suchen sei. Diese Syndrome, das war die Schlußfolgerung, wären wohl an die Alphabetschrift gebunden.
So viel zur Theorie. Die krankte freilich daran, daß Makitas Befund lediglich auf den Meinungsäußerungen von Lehrern beruhte, sie hätten keine Schüler mit auffälligen Leseschwierigkeiten.
Dann kam, mit großer Verzögerung, die Empirie. Im Juni letzten Jahres unterzogen Prof. Yamada Jun von der Universität Hiroshima und sein britischer Mitarbeiter Adam Banks 125 Grundschüler einem bewährten Dyslexie-Test. Dabei erwiesen sich acht Kinder als signifikant behindert.
Ob ein solcher Anteil typisch ist, müssen weitere Untersuchungen zeigen; wäre er repräsentativ, entspräche er der Größenordnung nach dem in westlichen Gesellschaften, wo schätzungsweise 6 bis 12 Prozent der Schüler unter diesen Störungen leiden. Immerhin, nach sehr knappen und vorsichtigen Referaten der Untersuchung in der lokalen Presse wandten sich zahlreiche Eltern an Yamada, deren Kinder aus bisher unerfindlichen Gründen in der Schule schlecht mithielten. Vielen von ihnen, vermutet der Wissenschaftler, wäre durch ein speziell auf Dyslexie ausgerichtetes Trainingsprogramm zu helfen.
In einer Gesellschaft, in der für das Fortkommen nichts wichtiger ist als der Zugang zu renommierten Stätten höherer Bildung, wäre die Anerkennung von Legasthenie und Dyslexie als spezifischer Syndrome, die die Lernfähigkeit behindern und besonderer Behandlung bedürfen, eine bedeutende Erleichterung für die betroffenen Schüler, die derzeit noch oft als faul oder dumm stigmatisiert werden. Damit aber die Theorie die Empirie einholen kann, müßte einmal mehr etwas von der Überzeugung zurückgenommen werden, in Japan sei alles anders, die der wissenschaftlichen Erkenntnis oft ebenso im Wege steht wie das imaginäre Goldfischglas.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1993, Seite 113
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben