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Winters' Nachschlag: Leichen im Gedächtniskeller

Kinder sollten im Fernsehen lieber Dokus über den Bronzeguss anschauen als japanische Mystery-Serien.
Das Gedächtnis ist wie eine Zweitgarage: Es füllt sich Jahr um Jahr mit unnützem Kram, und wenn man mal was braucht, findet man es garantiert nicht. Diese bittere Wahrheit ist einer der Gründe, warum mich die wissenschaftliche Lernforschung schon immer brennend interessierte. Voller Begeisterung sauge ich jede neue Erkenntnis zu diesem Thema auf – um sie meist in kürzester Zeit wieder zu vergessen.

Beim Artikel "Nachtschicht fürs Gedächtnis" ab S. 22 wird mir das aber sicherlich nicht passieren. Die Autoren berichten darin von Experimenten, bei denen ein Teil der Probanden nach Betrachten schrecklicher Fotos schlafen musste, während der Rest wach blieb. Danach wurde getestet, wie gut sie sich an die Horrorbilder erinnerten. Beim Lesen des Textes fiel mir plötzlich ein, dass ich schon einmal in frühester Jugend an einem ähnlichen Experiment teilgenommen hatte, allerdings völlig unfreiwillig.

Mein älterer Bruder und ich (acht und sechs Jahre alt) hatten meine Eltern davon überzeugt, eine Folge der berüchtigten japanischen TV-Agentenserie S.R.I. ansehen zu dürfen. Rückblickend kann man uns Kindern zu einem echten Nervensägen-Coup gratulieren – oder aber meinen Eltern völlige Unbedarftheit im frühmedialen Zeitalter attestieren.

Wie dem auch sei, jedenfalls hat sich der "emotional stark aufwühlende Inhalt" des Horrorstreifens tief in mein kindliches Hirn eingraviert: Ein unschuldig des Mordes Verdächtigter wurde so lange von einer ihm überall auflauernden, sprechenden Wasserleiche drangsaliert ("Mörder, warum hast du das getan?"), bis er selbst nicht mehr an seine Unschuld glaubte. Kurz bevor die Spezialeinheit S.R.I. herausfand, dass der echte Mörder eine aufblasbare Wasserleichenpuppe mit einem Tonband ausgestattet hatte, kam meine Mutter ins Zimmer. Sie wollte sich nur mal kurz davon überzeugen, dass wir wirklich – wie zuvor lauthals herausposaunt – "schon groß" waren und "kein bisschen Angst" hatten, weil es ja schließlich "bloß ein Film" sei. Mich fand sie mit panikgeweiteten Augen tief ins Sofa hineingedrückt, mir die Ohren zuhaltend. Hinter mir kauerte mein Bruder, kreidebleich im Gesicht.

Als es danach ans Einschlafen gehen sollte, wirkte das Kinderzimmer an diesem Abend irgendwie besonders dunkel. Ich versicherte meinem Bruder mit belegter Stimme noch ungefähr 21-mal, er brauche wirklich keine Angst zu haben, die Wasserleiche sei nur eine Puppe gewesen. Dann wäre es eigentlich höchste Zeit für den REM-Schlaf gewesen – aber seltsamerweise waren wir überhaupt nicht müde. Vielleicht wollten wir ja instinktiv nicht auch noch die Erinnerung an das eben Gesehene durch "emotionale Gedächtnisbildung" verstärken.

Nachdem mein Bruder und ich unzählige Male das Licht angeschaltet, unter dem Bett nach Wasserleichen Ausschau gehalten und uns mehrfach gegenseitig vorgeworfen hatten, der jeweils andere habe "Mörder, warum hast du das getan?" geflüstert, entschlossen wir uns für die einzige geeignete Notmaßnahme: Wir schlichen ins Schlafzimmer unserer Eltern, krochen so leise wie möglich unter die Bettdecke und fielen sofort in tiefsten EBM-Schlaf – in den "Endlich bei Mama"-Schlaf.

Die Forschung dazu steckt zwar noch in den Kinderschuhen, aber eines dürfte schon heute feststehen: Der EBM-Schlaf fördert die Gedächtnisbildung für emotionale Inhalte ungemein, denn eine kurze Recherche im Internet ergab, dass die oben beschriebenen Erinnerungen an die Fernsehsendung exakt zutreffen. Und das nicht nach popeligen vier Jahren wie bei den im G&G-Artikel geschilderten Experimenten, sondern nach sage und schreibe 38!

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