Licht im Schneckentempo
Mit extrem kalten Gasatomen ist es gelungen, Photonen auf Tempo 60 abzubremsen.
Licht pflanzt sich im luftleeren Raum mit rund 300000 Kilometern pro Sekunde fort und legt die Entfernung Erde-Mond in kaum mehr als einer Sekunde zurück. In Materie verringert sich seine Geschwindigkeit um einen stofftypischen Faktor: den sogenannten Brechungsindex.
Diese Verlangsamung ist der Grund dafür, daß Licht beim Übergang zwischen verschiedenen Medien – etwa Luft und Wasser – gebrochen wird, also seine Richtung ändert. Nach dem Fermatschen Prinzip sucht es sich nämlich stets den schnellsten Weg, und wenn es Materialien durchlaufen muß, in denen es unterschiedlich stark abgebremst wird, kann eine geknickte Bahn zeitsparender sein als die schnurgerade; auch ein Autofahrer spart ja unter Umständen Zeit, wenn er eine etwas weitere Strecke wählt, bei der er aber ein größeres Stück auf der Autobahn statt auf der Landstraße fährt.
Meist verringert sich die Lichtgeschwindigkeit gegenüber dem Vakuum nur um einige Prozent: in Wasser beispielsweise auf 225000 Kilometer in der Sekunde – immer noch ein astronomischer Wert. Nun ist es amerikanischen Forschern jedoch gelungen, die rasanten Photonen so radikal zu zügeln, daß sie Mühe haben, mit einem Profi-Radfahrer mitzuhalten: Mit gerade mal noch 60 Kilometern pro Stunde bewegen sie sich 18 Millionen mal langsamer als im Vakuum (Nature, Bd. 397, S. 594).
Wie läßt sich Licht derart ausbremsen? Theoretisch gibt es eine einfache Möglichkeit: Man muß nur den Brechungsindex genügend erhöhen. Der praktische Haken dabei ist allerdings, daß ein hoher Brechungsindex unter normalen Umständen eine hohe Absorption nach sich zieht: Das Licht wird vom Material schlicht geschluckt.
Das liegt daran, daß die Abbremsung und die Absorption von Licht in einem Medium dieselbe Ursache haben: Beide rühren daher, daß die elektromagnetischen Felder, aus denen das Licht besteht, bestimmte Elektronen innerhalb der Atome des durchquerten Materials zum Schwingen bringen, und beide Effekte sind um so stärker, je intensiver diese Schwingung wird, das heißt je mehr sich die Frequenz des Lichts der Resonanzfrequenz der betreffenden Elektronen annähert.
Um dennoch an den großen Brechungsindex nahe der Resonanzfrequenz heranzukommen, ohne zuviel Licht durch Absorption zu verlieren, muß man einen Trick anwenden, der als elektromagnetisch induzierte Transparenz (EIT) bekannt geworden ist. Dazu sendet man – sehr vereinfacht gesagt – einen zweiten Lichtstrahl (Kopplungsstrahl genannt) mit derselben Frequenz in das Material, dessen Wellenzug aber gerade um eine halbe Periode verschoben ist: Wo der erste einen Hügel hat, weist der andere ein Tal auf und umgekehrt. Dadurch versuchen die beiden Lichtstrahlen zu jedem Zeitpunkt, die Elektronen gleichsam in entgegengesetzte Richtungen zu ziehen. Im Endeffekt bleiben diese daher in Ruhe, wodurch das Material praktisch durchsichtig wird.
Diese Veranschaulichung anhand der klassischen Physik gibt den Sachverhalt allerdings nur unvollkommen wieder. Um das Phänomen exakt zu beschreiben, muß man auf die Quantenmechanik zurückgreifen. Ihr zufolge sind die möglichen Energiezustände eines Elektrons in einem Atom genau festgelegt. Läßt man allerdings ein elektromagnetisches Feld einwirken, können sie sich überlagern und neue Zustände bilden, die auf bestimmte Weise die Eigenschaften der alten in sich vereinen. Dies kann man dazu ausnutzen, die Absorption eines Lichtstrahls nahe der Resonanzfrequenz zu unterdrücken. Dazu überlagert man zwei Energiezustände, die beide das eingestrahlte Licht teilweise absorbieren, mit Hilfe eines geeigneten elektromagnetischen Feldes zu zwei neuen Zuständen, von denen der eine die maximale und der andere überhaupt keine Absorption mehr zeigt.
Wenn die Intensitäten und Frequenzen der elektromagnetischen Felder richtig gewählt sind, befinden sich alle Atome in dem Dunkelzustand ohne Absorption, und das Material wird durchsichtig. Wissenschaftler der Universität Pisa konnten diesen Effekt 1976 erstmals beobachten. Anfang der neunziger Jahre gelang es einer Forschungsgruppe um Stephen E. Harris von der Universität Stanford (Kalifornien), die Geschwindigkeit eines Lichtpulses durch elektromagnetisch induzierte Transparenz auf weniger als ein Hundertstel des Vakuumswertes zu reduzieren.
Entscheidend ist dabei, daß bei einem Lichtpuls – anders als bei einer kontinuierlichen Lichtwelle – die Ausbreitungsgeschwindigkeit nicht vom Absolutwert des Brechungsindex abhängt, sondern davon, wie stark er sich bei Annäherung an die Resonanzfrequenz ändert. Und diese Änderung hängt wiederum von der Intensität des Kopplungsstrahls ab: Sie ist um so größer, je schwächer er ist. Andererseits darf man den Kopplungsstrahl aber auch nicht zu schwach einstellen. Die Wärmebewegung der Atome verursacht nämlich eine Frequenzverschiebung durch den Doppler-Effekt, die zur Folge hat, daß nur die langsameren Atome effektiv mit dem Kopplungsstrahl wechselwirken und Dunkelzustände bilden, während die schnelleren durch die größere Frequenzverschiebung zu weit von der Resonanzfrequenz enfernt sind. Durch einen starken Kopplungsstrahl kann der Frequenzbereich, in dem die Kopplung ausreichend ist, relativ groß gemacht werden – allerdings auf Kosten der "Steilheit" des Brechungsindex und damit des Bremseffektes auf das Licht.
An diesem Punkt setzt das Experiment von Lene Vestergaard Hau und ihren Kollegen an. Mit Hilfe von Laserkühlung und magnetischen Fallen brachten die Physiker ein Gas von Natrium-Atomen auf extrem niedrige Temperaturen nahe dem absoluten Nullpunkt von -273,15 Grad Celsius. Während Gasatome bei Raumtemperatur mit mehreren hundert Kilometern pro Stunde umherfliegen, bewegen sie sich bei wenigen millionstel Kelvin nur mehr mit einigen Zentimetern pro Sekunde. Die Frequenzverschiebung durch den Dopplereffekt ist dann gering, und die Intensität des Kopplungslichts kann entsprechend reduziert werden.
Folglich ändert sich der Brechungsindex in unmittelbarer Umgebung der Resonanzfrequenz extrem stark, und ein Lichtpuls mit dieser Frequenz breitet sich viel langsamer aus als im luftleeren Raum. Hau und ihre Mitarbeiter maßen Geschwindigkeiten unter 100 Kilometern pro Stunde in einer extrem kalten Atomwolke von 0,2 Millimeter Durchmesser. Zum Durchqueren dieser winzigen Wolke benötigte das Licht einige millionstel Sekunden – im freien Raum hätte es in der gleichen Zeit mehrere Kilometer zurückgelegt. Um die Lichtgeschwindigkeit noch weiter zu reduzieren, kühlten die Forscher die Atome bis unter einen kritischen Wert ab, bei dem sich ein Bose-Einstein-Kondensat bildet – ein Aggregatzustand, in dem alle Atome den gleichen Quantenzustand einnehmen. In einem solchen Kondensat rücken die Teilchen noch dichter zusammen, was die Lichtgeschwindigeit weiter verringert – auf einen Rekordwert von 60 Kilometern pro Stunde.
Was macht man nun mit derart langsamem Licht? Den amerikanischen Wissenschaftlern ging es zwar in erster Linie um eine eindrucksvolle Demonstration der elektromagnetisch induzierten Transparenz. Dennoch könnten solche Techniken auch praktische Anwendung finden. Da der Brechungsindex in einem derart präparierten Material beispielsweise sehr empfindlich auf ein Magnetfeld reagiert, ließe sich der Effekt für ein äußerst genaues Magnetometer heranziehen. Auch könnten optische Daten, die normalerweise sehr flüchtig sind, in dem langsamen Strahl für längere Zeit gespeichert werden. All das ist freilich noch Zukunftsmusik. Bevor die Forscher sich mit solchen Anwendungen beschäftigen, wollen sie die Lichtgeschwindigkeit erst einmal noch weiter drücken – und zwar auf weniger als einen Kilometer pro Stunde. Das wäre dann tatsächlich Schneckentempo.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1999, Seite 17
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben