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Life Counts. Eine globale Bilanz des Lebens.

Berlin Verlag, Berlin 2000. 288 Seiten, DM 44,–.


Wir wissen noch lange nicht, wer alles wo auf unserem Planeten mit uns Menschen die Biosphäre als Lebensraum teilt. Bekannt sind bisher etwa 1,75 Millionen Arten. Ein Vielfaches, so wird geschätzt, ist noch immer unbekannt. Allein zwischen 1938 und 1998 wurden weltweit mehr neue Amphibienarten klassifiziert als in all den Jahrhunderten davor.

Das vorliegende Buch geht in seinen "Zählungen des Lebens" über das Auszählen von Arten und Einzelindividuen deutlich hinaus. Es ist kein systematisches Lehrwerk, sondern ein didaktisch anregend gestaltetes, spannend aufgemachtes Sachbuch, zu dem noch ein wissenschaftliches Werk folgen soll. Zwischen zahlenmäßigen Fakten und Tabellen erzählen gut aufgemachte Reportagen in ansprechenden Bildern und Texten über einige wenig bekannte Arten und deren erst seit kurzer Zeit erforschte Leistungen. Die Autoren verschweigen bei der Darstellung von Zählergebnissen nicht, dass man Tiere, vor allem Insekten, oft töten muss, um sie zählen zu können, und damit das Zählergebnis paradoxerweise einem "Death Count" gleichkommt.

Der Mensch wird ständig in die Vergleiche einbezogen, als Konsument, Konkurrent, Sympathisant oder Hasser von Kreaturen, als Ausbeuter, Eroberer und Ausrotter, aber auch als Opfer und Beute und sogar als Lebensraum. Manche Vergleiche sind amüsante Spielereien mit Zahlen: Durchschnittlich sechs Menschen pro Jahr fallen Haien zum Opfer, aber Millionen Haie werden von Millionen Menschen verspeist. Auf einen Tiger kommen mehr als eine Million Menschen. Das einzige Säugetier, das in Großbritannien häufiger vorkommt als der Mensch, ist die Erdmaus, und ihre zahlenmäßige Überlegenheit nimmt ständig ab. Mit 70 Billionen Bakterien im Dickdarm ist jeder Mensch ein dicht besiedelter Lebensraum.

Die Bestimmung der Artenzahlen im Laufe der Evolution gibt Anlass zu weiter gehenden Fragen. Ist der Mensch nur das Produkt jenes blinden Zufalls, der in Gestalt eines gewaltigen Meteoritenaufschlags am Anfang des Tertiärs die Dinosaurier dahinraffte und damit Vögeln und Säugetieren bis hin zum Menschen glänzende Entwicklungsmöglichkeiten bot? Nein, nicht nur. Im Verlauf der Evolution entsteht eben auch ständig genetische Information und wird in physiologische Leistungen übersetzt.

Die Bioprospektion baut darauf auf. Aus Indien kommt jüngst die pflanzliche Onge-Medizin gegen Malaria und aus dem Dschungel der Elfenbeinküste jene Pflanze, von deren Süßstoff Thaumatin ein Kilogramm inzwischen mehr als 5000 Dollar kostet, weil es die Süßkraft von etwa 2000 Kilogramm Zucker hat – aber weitgehend kalorienfrei: Thaumatin ist ein Protein.

Von solchen Entdeckungen möchte man gern noch mehr erfahren. Wer allerdings spezifische Informationen nachschlagen will, etwa über das 1999 entdeckte Großbakterium "Namibische Schwefelperle" oder über die schon länger bekannte Pazifikeibe aus dem Küstenurwald Nordamerikas, aus der das Medikament Taxol gegen Eierstock- und Brustkrebs gewonnen wird, muss aufwendig suchen und blättern, denn ein Register fehlt.

Hinter "Life Counts" steckt die weltweit operierende Initiative des World Conservation Monitoring Center, die sich in Zusammenarbeit mit der Internationalen Naturschutzunion (IUCN) und dem Umweltprogramm der Vereinten Nationen (Unep) für die Erhaltung und Erforschung der Biodiversität verbündet hat. Mit dabei ist außerdem die Life-Science-Firma Aventis. Vier Journalisten (Maxeiner war Chefredakteur von "Natur") haben den vorliegenden Band recherchiert und komprimiert; als Gastautoren wirken kompetente Fachleute mit, wie die Biologen Joseph Reichholf von der Zoologischen Staatssammlung München und Gunter Nogge vom Kölner Zoo sowie der ehemalige Umweltminister Klaus Töpfer vom Unep.

Ihr Ziel ist es, die Erfassung der Biodiversität als globale Aufgabe zu propagieren. Das ist dringend geboten angesichts der weit verbreiteten Unkenntnis und des schlechten Rufs, mit dem die Taxonomie zu kämpfen hat: Immer noch gelten die biologischen Spezialisten als skurrile, weltfremde, bestenfalls seltsam-liebenswerte Käfer- und Schmetterlingssammler. Ihre Arbeitsbedingungen sind schlecht, der Nachwuchs bleibt aus, und es ist zu befürchten, dass die Taxonomen schneller aussterben als die noch unklassifizierten Arten.

Im Vorwort ist von der "Eröffnungsbilanz zu einer neuen Wertschätzung der Natur" die Rede. Ausschließlich nüchterne, pragmatisch utilitaristische Umweltethik bestimmt die Argumentation. Es geht um nachhaltige Nutzung der biologischen Vielfalt, auch in der Fläche: Wildfarming in Simbabwe vorgestellt als erfolgreiches Artenmanagement oder die Nutzung von Wildnisgebieten durch den Tourismus. Physiozentrische Umweltethik, die das wildtypische Naturgeschehen als Wert an sich betrachtet und als einzigartigen, dynamischen Geschehensprozess respektiert, hat darin kaum Platz. "Life Counts" vertritt eine global-marktwirtschaftliche Betrachtungsweise.

Über der Lektüre dieses Buches wird auch klar, dass der Forschungsgegenstand biologische Vielfalt auseinander strebende Tendenzen in der Biologie wieder zusammenführen kann. Denn sowohl die organismische als auch die molekulare Biologie sind dabei zwingend aufeinander angewiesen. Taxonomen suchen, finden, beschreiben die Arten, Ökologen entdecken deren beziehungsreiches Zusammenleben in Abhängigkeit von der abiotischen Umwelt, "Genjäger", Physiologen und Biochemiker analysieren deren möglicherweise nutzbare Stoffwechselleistungen. Die gewaltige Aufgabe, die Informationsfülle der Biosphäre zu durchdringen, wird schließlich eine noch ganz junge Disziplin auf den Plan rufen und herausfordern: die Bio-Informatik.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 2000, Seite 104
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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