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Sehvorgang: Live beobachtet: der Richtungsdetektor im Auge

Schon in der Netzhaut erkennen einzelne Zellen die Richtung, in der sich ein Objekt im Sichtfeld bewegt. Mit einem trickreichen Mikroskop konnten Forscher jetzt erstmals verfolgen, wie sie diese Aufgabe erledigen.


Vergleiche sollen das Verständnis fördern, sind aber oft unzulänglich oder irreführend: Sie hinken, wie die gängige Floskel besagt. Das gilt auch für das verbreitete Bild, wonach die Netzhaut im Auge die Rolle des Films in einer Fotokamera spielt. Damit wird die Retina, wie die lichtempfindliche Gewebeschicht an der hinteren Innenseite des Augapfels fachsprachlich heißt, auf einen bloßen Detektor reduziert. Sie kann aber viel mehr: Wie ein hochspezialisierter Prozessor analysiert sie das aufgefangene Bild bereits grob und gewinnt dabei zeitliche, räumliche und farbliche Informationen.

Eine grundlegende Fähigkeit beim Sehen ist das Erkennen von Bewegung und deren Richtung. Nur dadurch kann beispielsweise ein Frosch rechtzeitig zuschnappen, wenn eine Fliege in seine Nähe gerät, oder ein Tennisspieler früh ge-nug reagieren, um mit dem Schläger den ankommenden Ball zu treffen. Dabei leistet die Netzhaut wichtige Vorarbeit. Bereits 1964 fand ein Forscherteam an der Universität Cambridge unter den so genannten Ganglienzellen in der Retina solche, die nur dann feuern, wenn ein Lichtmuster sich in eine bestimmte Richtung bewegt. Von ihnen erhält das Gehirn offenbar schon Informationen über die Bewegungsrichtung eines Objektes im Sichtfeld.

Zellen beim Rechnen zusehen

Doch wo und wie stellt die Netzhaut die dafür erforderlichen Kalkulationen an? Errechnen die Ganglienzellen selbst aus richtungsspezifischen Reizeingängen ein Richtungssignal oder erhalten sie von anderen, vorgeschalteten Nervenzellen be-reits die fertige Richtungsinformation?

Als Zuträger, die eine solche Vorabverarbeitung leisten könnten, standen schon länger andere retinale Zellen im Verdacht, von denen man weiß, dass sie Signale an die richtungsselektiven Ganglienzellen weiterleiten. Diese so genannten Starburst-Amakrinzellen sehen sehr ungewöhnlich aus. Ihre Dendriten – eine bestimmte Art von Nervenzellfortsätzen – sind hochsymmetrisch angeordnet: Vier bis sechs Primärdendriten führen vom Zellkörper aus in alle Richtungen und spalten sich dann in viele dünne, sekundäre Verästelungen auf. Damit erinnern die Zellen ein wenig an einen explodierenden Stern, was ihnen ihren Namen eingebracht hat.

Sind sie tatsächlich der Ort der Richtungsverarbeitung in der Netzhaut? Die Beantwortung dieser Frage scheiterte lange daran, dass es keine geeignete Untersuchungsmethode gab.

Im Regelfall führt man an Nervenzellen elektrophysiologische Ableitungen durch, indem man Elektroden einsticht und Potenzialänderungen an der Zelloberfläche misst. Diese Methode ist bei den Starburst-Zellen aber ungeeignet. Potenzialmessungen am Zellkörper (dem annähernd kugelförmigen "Rumpf" der Zelle) zeigen keinerlei Richtungsselektivität auf bewegte Lichtreize. Das ist angesichts der Morphologie dieser Neuronen auch kaum verwunderlich, da sie – wie übrigens die meisten Amakrinzellen – keine "Ausgangsleitung" (kein Axon) besitzen, über die sie ein integriertes elektrisches Signal weiterleiten könnten. Sinnvoller erscheinen Messungen an den Dendriten. Sie scheitern aber daran, dass die feinen Fortsätze mit nur einem Mikrometer Durchmesser einfach zu dünn sind, als dass Mikroelektroden eingestochen werden könnten.

Doch nun haben Wissenschaftler um Thomas Euler vom Max-Planck-Institut für medizinische Forschung in Heidelberg und von der Universität Washington mit einem trickreichen bildgebenden Verfahren einen eleganten Ausweg aus dem Dilemma gefunden. Sie verwendeten für ihre Untersuchungen die so genannte Multi-Quanten-Mikroskopie. Diese erlaubt es, Änderungen der Calcium-Konzentration in einzelnen Dendriten der Starburst-Zellen, die durch bewegte Lichtreize hervorgerufen werden, an der lebenden, weiterhin lichtempfindlichen Retina live zu verfolgen.

Ein Anstieg dieser Ionenkonzentration zeigt indirekt an, dass eine Nervenzelle dabei ist, ein Signal abzugeben. Neuronen kommunizieren an speziellen Kontaktstellen, so genannten Synapsen, über chemische Botenstoffe miteinander. Calcium-Ionen spielen dabei eine Schlüsselrolle, da sie sich an bestimmte Proteine binden, die daraufhin die Ausschüttung der Botenstoffe einleiten. Ein Anstieg der Calcium-Konzentration in den Synapsen ist demnach ein Indiz dafür, dass gerade eine Erregungsweiterleitung stattfindet. Bei den Starburst-Zellen finden sich Ausgangssynapsen – sie können nur Signale an andere Zellen aussenden, aber keine empfangen – ausschließlich an den Rändern des Dendritenbaums. Daher wählten die Max-Planck-Forscher und ihr amerikanischer Kollege vor allem dort die mikroskopischen Beobachtungspunkte.

Die verwendete Multi-Quanten-Mikroskopie nutzt wie die herkömmliche konfokale Mikroskopie das Prinzip des Nachweises von Fluoreszenz. Aus einem Kaninchenauge wird zunächst die Retina isoliert, die sich in einer mit Sauerstoff versorgten Nährlösung bis zu zwölf Stunden am Leben erhalten lässt. Dann spritzt man über eine Mikroelektrode in einzelne Starburst-Zellen einen Indikator ein, der nach der Bindung von Calcium-Ionen intensiver fluoresziert. So lässt sich ein Anstieg der lokalen Calcium-Konzentration unter dem Mikroskop sehr einfach verfolgen: Die betreffenden Fortsätze leuchten bei Bestrahlung mit Laserlicht geeigneter Wellenlänge intensiver.

Trickreiche Anregung im Doppelpack

Ausgesprochen trickreich wird die Multi-Quanten-Mikroskopie aber durch die besondere Art der Anregung des Indikatormoleküls. Üblicherweise dient dazu ein einzelnes energiereiches Photon. Bei dem neuen Verfahren müssen dagegen zwei Lichtquanten, die jeweils nur den halben Energiebetrag mitführen, beim Indikator zusammentreffen und gemeinsam von ihm absorbiert werden – daher auch der Name Multi-Quanten-Mikroskopie.

Ein großer Vorteil dabei ist, dass die beiden Photonen wegen ihrer geringeren Energie aus dem Infrarotbereich stammen; ihre Wellenlänge liegt bei 930 Nanometern. Deshalb regen sie die Photo-rezeptoren in der Netzhaut, die auf sichtbares Licht zwischen 400 und 700 Nanometern ansprechen, nicht an. Die Retina bleibt somit für Licht des sichtbaren Spektrums empfänglich – eine Grundvo-raussetzung, wenn man die Verarbeitung von visuellen Reizen untersuchen will. Dagegen würde sie von dem – im konventionellen Konfokalmikroskop verwendeten – sichtbaren Laserlicht, bei dem je ein energiereiches Photon ein Indikatormolekül anregt, binnen Sekunden geblendet.

Das Multi-Quanten-Prinzip bringt einen weiteren Vorteil: Fluoreszenz entsteht allein im Fokus, weil nur dort die Photonendichte so hoch ist, dass zwei Lichtquanten gleichzeitig auf ein und dasselbe Farbstoffmolekül treffen und es anregen. Dadurch wird eine unerwünschte Fluoreszenz außerhalb des Brennpunktes vermieden. Eine Lochblende am Detektor wie beim Konfokalmikroskop, um Unschärfe verursachendes Streulicht abzufangen, ist nicht mehr nötig, und das gesamte Fluoreszenzlicht aus der Probe lässt sich zur Abbildung nutzen.

Mit dieser ausgefeilten Technik konnten die Forscher die fast vierzig Jahre alte Frage, wo die Bewegungsrichtung in der Netzhaut festgestellt wird, endlich beantworten. In ihren ersten Experimenten stimulierten sie Starburst-Zellen lokal durch einen Lichtreiz in Form eines Tortenstücks, dessen Spitze im Zentrum der Zelle lag. Dabei zeigte sich, dass die Calcium-Konzentration nur in den Dendriten innerhalb des "Tortenstücks" anstieg. Demnach können die Fortsätze lokal und damit unabhängig voneinander auf einen Lichtreiz reagieren.

Als Nächstes stimulierten die Forscher die Starburst-Zellen mit Lichtmustern, die über die gesamte Zelle wanderten. Dabei traten die Calcium-Signale in den Dendriten nur auf, wenn sich das Signal in einer ganz bestimmten Richtung bewegte. Die Analyse der Fluoreszenz-Intensität machte deutlich, dass jeder Dendrit jeweils auf eine andere Orientierung des bewegten Musters besonders stark reagiert. Folglich vereint ein und dieselbe Starburst-Zelle mehrere Richtungsdetektoren in sich. Bei genauerer Betrachtung der Richtungspräferenzen zeigte sich, dass alle Fortsätze bevorzugt auf zentrifugale Lichtreize ansprechen, das heißt auf solche, die vom Zellkörper nach außen laufen.

Erstmals wurde damit bewiesen, "dass die Information, wohin sich ein Objekt in unserem Sichtfeld bewegt, bereits eine Stufe vor den Ganglienzellen errechnet wird", so Euler. Wie das im Einzelnen geschieht, ist zwar noch unklar. Auf jeden Fall jedoch erklären die beschriebenen Befunde, warum bei elektrophysiologischen Messungen am Zellkörper der Starburst-Zelle keine richtungsspezifischen Reaktionen gemessen wurden: Von dort aus gesehen, heben sich die Signale aus den Dendriten wegen ihrer unterschiedlichen Richtungspräferenzen gegenseitig auf.

Wie eingangs erläutert, bewirkt die lokale Erhöhung der Calcium-Konzentration an den Enden einzelner Dendriten, dass die dortigen Ausgangssynapsen mit großer Wahrscheinlichkeit Botenstoffe (Neurotransmitter) ausschütten, die die nachgeschaltete Ganglienzelle modulieren. Welche das genau sind, ließ sich zwar noch nicht ermitteln. Man weiß jedoch, dass Starburst-Zellen sowohl den aktivierenden Neurotransmitter Acetylcholin als auch das hemmende GABA (Gamma-Aminobuttersäure) enthalten und ausschütten. Eine dieser Substanzen oder auch beide dürften demnach an der Weitergabe des Richtungssignals an die Ganglienzelle beteiligt sein. Diese setzt die empfangene Information dann in eine Folge von Aktionspotenzialen um und leitet sie über den optischen Nerv an die visuellen Zentren im Gehirn weiter.

Genauer zu erforschen ist auch noch das Verknüpfungsmuster zwischen Starburst- und Ganglienzellen. Es muss sehr exakt festgelegt sein. Damit die Ganglienzellen richtungsselektiv reagieren können, dürfen sie nämlich nur von Richtungsdetektoren Signale erhalten, die für eine Orientierung spezifisch sind. Anderenfalls würden diese sich gegenseitig auslöschen. Und wie die Natur während der Embryonalentwicklung ein derart komplexes Verknüpfungsmuster zwischen Nervenzellen anlegt, ist eine weitere spannende Fragen.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 2002, Seite 12
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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