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Kommentar: Löschen, nicht zündeln!

Ein Jahrzehnt nach Ende des Kalten Krieges steht die internationale Sicherheitspolitik vor neuen Herausforderungen.


Abrüstungsverhandlungen sind die Feuerwehrübungen der Brandstifter", sagte der englische Dramatiker John Osborne einmal. Wohl wahr. Die Geschichte internationaler Rüstungskontrolle zeigt: Ohne genügend internationalen Druck werden die Besitzer prall gefüllter Waffenarsenale kaum deren Reduzierung beschließen. In unzähligen Verhandlungsrunden ging es vielmehr meist darum, den Rüstungswettlauf in genehme Bahnen zu lenken – das heißt, das Potenzial der Gegenseite zu mindern, ohne die eigenen Vorhaben allzu sehr zu beeinträchtigen. In diesem Sinne war Rüstungskontrolle als spezieller Teil der Außenpolitik stets als Fortsetzung der Innenpolitik mit anderen Mitteln zu verstehen.

Dieses Prinzip gilt auch heute. Und keine andere Nation scheint es derzeit so konsequent zu verfolgen wie die USA. In zahlreichen internationalen Gremien ist gegenwärtig der Satz zu hören: "Das liegt nicht im amerikanischen Interesse." Mit dieser schlichten Aussage werden Fortschritte im weltweiten Rüstungskontrollregime behindert. Noch schlimmer: Wie durch einen Schwelbrand, nein, wie durch ein Flächenfeuer werden selbst gültige Abkommen erfasst und dadurch in ihrer Substanz gefährdet.

Entzündet haben die Vereinigten Staaten den gegenwärtigen Brand mit ihren Plänen für eine nationale Raketenabwehr. Demnach soll ein Netzwerk aus Frühwarnsatelliten, Radarsystemen, Abfangraketen und möglicherweise auch Laserwaffen entstehen, das einzelne feindliche Raketen noch im Anflug zerstört und so Schaden von amerikanischem Territorium abwendet. Parallelen zu der Strategischen Verteidigungsinitiative SDI der achtziger Jahre drängen sich auf. Doch anders als diese soll das jetzt geplante System nicht zur Verteidigung gegen einen Massenansturm feindlicher Interkontinentalraketen gerüstet sein, sondern der Abwehr einzelner Raketengeschosse aus so genannten Schurkenstaaten dienen. Das beseitigt freilich nicht die technischen Schwierigkeiten und politischen Fragen, die weitgehend dieselben sind wie damals.

Warum sich ausgerechnet die USA als führende Weltmacht von wirtschaftlichen und technischen Schwellenländern mit "unliebsamen" Regierungen wie Nordkorea und Libyen bedroht fühlen, bleibt für viele Nicht-Amerikaner ein Rätsel, das wohl eingehender ergründet werden müsste. Doch selbst wenn man ein Bedrohungsszenario unterstellte: Warum sollte ein Terrorangriff ausgerechnet mit Fernraketen erfolgen, die zwar ein Überraschungsmoment böten, aber wegen ihrer unvermeidlichen Zielungenauigkeit auch keinen militärischen Erfolg garantieren könnten? Eine Atombombe, mit einem Handelsschiff in den New Yorker Hafen gebracht, oder eine Ampulle voller Botulismus-Erreger, nach San Francisco eingeschmuggelt, würden gewiss weitaus größeren Schaden anrichten können.

Dem zweifelhaften Nutzen einer nationalen Raketenabwehr steht ihre äußerst schwierige technische Umsetzung gegenüber. Immerhin gilt es, innerhalb weniger Minuten ein mehrere tausend Kilometer entferntes Geschoss ausfindig zu machen, seine Flugbahn exakt zu berechnen, auf der es sich mit rund zehn Kilometern pro Sekunde fortbewegt, und es außerhalb der Erdatmosphäre durch direkten Aufprall mit einem etwa gleich schnellen Flugkörper zu zerstören. Die Zuverlässigkeit, die ein solches Abwehrsystem haben müsste, um tatsächlich Schutz zu gewähren, kann vielen wissenschaftlichen Studien zufolge nicht erreicht werden – allein schon aus dem Grund, weil jede Abwehrmaßnahme von einem potenziellen Angreifer mit weitaus einfacheren und billigeren Gegenmaßnahmen unterlaufen werden könnte.

Die bisher durchgeführten Tests sind dabei wenig geeignet, die Machbarkeit des Abwehrsystems zu belegen, denn zu viele Versuchsbedingungen wurden "getürkt": So startete die Angreiferrakete von einem bekannten Ort zu einem Zeitpunkt, der optimale Beobachtungsbedingungen für die Verteidiger ermöglichte, und es gab keine wirklich ernsthaften Versuche, die Abwehrrakete durch Attrappen zu täuschen. Ein tatsächlicher Angreifer dürfte sich kaum so kooperativ verhalten und "Hallo, hier bin ich" rufen.

Nach zwei Fehlschlägen verlief der bislang letzte Abwehrtest vom 15. Juli insofern erfolgreich, als das so genannte kill vehicle die den Angreifer simulierende Minuteman-Rakete zerstörte. Zumindest gab es in 225 Kilometer Höhe über dem Pazifik eine Explosion, und US-Präsident George W. Bush verbuchte diesen auf Video festgehaltenen Lichtblitz auf dem kurz danach beginnenden Weltwirtschaftsgipfel in Genua als technischen und politischen Erfolg. Die Auswertung des Abwehrtests ist unterdessen noch immer in vollem Gange. General Ronald T. Kadish, der Leiter des Abwehrprogrammes, äußerte sich deshalb nach dem Test auch weit zurückhaltender: "Wir glauben, dass der Test erfolgreich war. Aber es wird mindestens zwei Monate dauern, bis wir alle Testergebnisse vorliegen haben." Und er gestand ein, dass genaue Analysen von zunächst als erfolgreich eingestuften Tests später Probleme offenbart hätten.

Auf die Frage, warum die Vereinigten Staaten überhaupt ein technisch kompliziertes und teures Abwehrsystem forcieren, dessen Machbarkeit in den Sternen steht, antwortete mir ein US-Diplomat vor wenigen Monaten: "Die Bedrohung durch Schurkenstaaten ist real. Und wir müssen unseren Bürgern zeigen, dass wir etwas dagegen tun. Eine Raketenabwehr ist die einzige Möglichkeit, die wir haben – ob sie funktioniert oder nicht." Kommt es also nur darauf an, den US-Bürger (und Wähler) zu beruhigen? Wenn es nur um ein Programm ginge, das den amerikanischen Steuerzahler etliche Milliarden Dollar kostet, könnte man das Ganze als innere Angelegenheit auffassen. Aber falls die USA mit ihrer Testserie fortfahren, werden sie in Kürze nicht umhin kommen, ein völkerrechtlich verbindliches Rüstungskontrollabkommen aufzukündigen. Der 1972 abgeschlossene ABM-Vertrag verbietet nämlich ein landesweites Raketenabwehrsystem. Und genau dessen Bruch – beziehungsweise Neuverhandlung zur Stärkung amerikanischer Interessen – wollen die USA offenbar provozieren.

Anstatt das Bedrohungsgefühl durch diplomatische Initiativen und politische Annäherung zu beseitigen, setzen die Vereinigten Staaten alles auf die technologische Karte. Die technische Faszination, herkömmliche Schranken überwinden zu können (oder wenigstens zu wollen), hat wieder einmal, so scheint es, den Blick für eine genaue strategische Analyse verstellt.

Dieses Problem reicht weit über den ABM-Vertrag und die nationale Raketenabwehr der Vereinigten Staaten hinaus. Ende Juli hat die US-Delegation in den Genfer Verhandlungen den Vertragsentwurf abgelehnt, mit dem die internationale Staatengemeinschaft der Biowaffen-Konvention endlich geeignete Überprüfungsmechanismen zur Seite stellen wollte. Begründung: "Das Protokoll würde die nationale Sicherheit und die Vertraulichkeit von Geschäftsinformationen gefährden." Und hinter vorgehaltener Hand heißt es, die USA würden auch einen Ausstieg aus dem erst 1996 unterzeichneten Atomteststoppvertrag erwägen.

Unter der gegenwärtigen US-Regierung scheint Rüstungskontrolle keine Chance zu haben. Oder, um es im Sinne John Osbornes zu sagen: Bei ihren Feuerwehrübungen schaffen die Brandstifter nun auch die Wasserschläuche ab.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 2001, Seite 86
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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