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Lokale Kooperation in der Ebene

Kurioses Ergebnis eines Computerspiels: Unter Nachbarn kann sich selbst dann gegenseitige Hilfsbereitschaft durchsetzen, wenn sie sich weder kennen noch an frühere Begegnungen erinnern.


Als plausibles Modell dafür, wie in einer Welt gnadenlosen Wettbewerbs etwa unter biologischen Konkurrenten Kooperation entstehen kann, gilt das Gefangenendilemma. Es beschreibt eine spieltheoretische Situation, in der die beiden Gegenspieler – stets nur auf den eigenen Vorteil bedacht – sich zwischen Kooperation und Übervorteilen entscheiden müssen. Das Dilemma entsteht dadurch, daß beide zwar einen gewissen Vorteil vom Kooperieren haben, aber jeder für sich genommen noch mehr profitiert, wenn er den kooperationswilligen Partner hereinlegt. Demnach sollten beide Spieler einander vernünftigerweise im Stich lassen – doch dann gehen beide ganz leer aus. Also wäre es doch besser, zu kooperieren? Freilich verzichtet man dann auf die mögliche Prämie für das Übervorteilen...

Noch interessanter wird das Dilemma, wenn dieselben Partner mehrfach gegeneinander spielen und sich den Ausgang der Spiele merken können (iteriertes Gefangenendilemma). Ehemals Übervorteilte haben nun Gelegenheit zur Revanche, und gescheiterte Egomanen entwickeln bei der Begegnung mit Altruisten auf einmal Hilfsbereitschaft aus wohlverstandenem Eigennutz (siehe Spektrum der Wissenschaft, Mai 1992, Seite 30).

Eine ganz neue Variante haben nun die Zoologen Martin A. Nowak und Robert M. May von der Universität Oxford vorgestellt ("Nature", Band 359, Seiten 826 bis 829, 29. Oktober 1992). Bei ihrem territorialen Gefangenendilemma gibt es nichts als unbelehrbare Egoisten und unerschütterliche Selbstlose, die sich nie vom Fleck rühren; obendrein sind sie unfähig, sich an frühere Spielzüge zu erinnern oder künftige zu antizipieren. Ihr eintöniges Leben kennt nur die Alternativen Überleben und Vermehren oder Aussterben.

Was davon eintritt, hängt von ihren nächsten Nachbarn ab. Nowak und May verteilen ihre Egoisten und Altruisten als Pixel auf einer quadratischen Fläche und lassen per Computer für jeden Gitterpunkt ausrechnen, ob der darauf Sitzende überlebt oder nicht; im letzteren Fall besetzt ein Überlebender aus der Nachbarschaft quasi durch Vermehrung den freigewordenen Platz.

Um eine Runde zu überleben, muß man gegen jeden der acht nächsten Nachbarn in der Regel ein gemischter Kreis von Egoisten und Altruisten – und sich selbst antreten und dabei mehr Gewinnpunkte sammeln als jeder von diesen beim entsprechenden Spiel. Als (gegenüber der klassischen Version des Dilemmas leicht vereinfachte) Gewinnregeln gelten bei Nowak und May: Wenn zwei Partner kooperieren, gewinnen beide einen Punkt; wer den anderen hereinlegt (das heißt selbst nicht mitmacht, während der andere kooperiert), erzielt einen größeren Gewinn von b Punkten; der Hereingelegte gewinnt nichts, und dasselbe gilt auch, wenn die Partner nicht kooperieren. Somit ist b (stets größer als 1 und nicht unbedingt eine ganze Zahl) der einzige freie Parameter in diesem völlig deterministischen Spiel.

Nowak und May ließen es Hunderte ja Tausende von Runden lang auf dem Computer laufen und das Geschehen auf dem Schirm farbcodiert darstellen. Ist der Vorteil des Hereinlegens allzu groß, vermag der Kooperationswille sich nicht auszubreiten: Bei b größer als 2 halten sich bestenfalls kleine Inseln von Hilfsbereiten. Für b-Werte unter 1,8 lohnt sich wiederum das Übervorteilen nicht mehr so recht: Größere Cluster von Betrügern schmelzen wie Schnee in der Sonne; liegt b zum Beispiel zwischen 1,75 und 1,8, so etabliert sich nach 200 Generationen eine recht stabile Struktur dünner Gauner-Filamente auf cinem salten Hintergrund von ehrlichen Häuten (Bild 1 links).

Interessant ist darum der Bereich mit h-Werten zwischen 1,8 und 2, denn dort haben Cluster beider Typen gute evolutionäre Chancen. In der Tat bilden sich chaotisch flimmernde Wolken von Egoisten und Altruisten, die einander wechselseitig durchdringen (Bild 1 rechts).

In diesem Chaos steckt aber durchaus Ordnung: Die relative Häufigkeit der Kooperationswilligen pendelt sich nach ungerähr 50 Generationen bei 31,8 Prozent ein und schwankt dann nur noch geringfügig. Dies gilt weitgehend unabhängig von den Anfangsbedingungen und läßt sich sogar aus den Wachstumsregeln für die flächigen Cluster plausibel machen.

Selbst wenn man anfangs nur einen einzigen Egoisten mitten in einen quadratischen See von Altruisten setzt, dezimieren er und seine Abkömmlinge mit der Zeit die Hilfsbereiten bis auf rund 30 Prozent. Diese Spielvariante erzeugt we: gen der Symmetrie des Spielfelds ein unerschöpflich variierendes Teppichmuster, das Nowak und May – von seiner Schönheit begeistert evolutionäres Kaleidoskop getauft haben (Bild 2).

Das territoriale Gefangenendilemrna ist aber mehr als ein Spiel mit schönen Mustern. Es erklärt, wie Kooperation auch unter Individuen oder Gruppen entstehen kann, deren Verhalten nicht durch frühere Begegnungen geprägt ist und die darum auch keine Strategien (wie etwa das erfolgreiche Programm "TIT FOR TAT" ) für künftige Begegnungen zu entwickeln vermögen. Wie sich zeigt, reichen Seßhaftigkeit und deterministische Wechselwirkung mit unmittelbaren Nachbarn bereits aus, damit sich Hilfsbereitschaft durchsetzt.

Wie Nowak und May meinen, könnten solche zweidimensionalen Strukturen für die Evolution präbiotischer Moleküle wichtig gewesen sein, denn diese scheinen sich nach neueren Modellen eher auf Oberflächen als in Lösungen entwickelt zu haben. Und wie Karl Sigmund vom Mathematischen Institut der Universität Wien zum gleichen Thema anmerkt, spielt bei Putzsymbiosen in tropischen Meeren Seßhaftigkeit offenbar eine wichtige Rolle ("Nature", Band 359, Seite 774, 29. Oktober 1992): Oft empfangen die Putzerfische ihre Kundschaft in regelrechten Putzstationen ein eindrucksvolles Zusammentreffen von Kooperation und Territorialität.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1993, Seite 18
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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