Los Alamos, Hiroshima, Nagasaki - eine Erinnerung
Der Autor, Physiker und Mitarbeiter des Manhattan-Projekts, erlebte im Labor den Beginn des Atomzeitalters, in Los Alamos den Bau der ersten Uran- und Plutoniumbomben und in Japan ihre schrecklichen Folgen. Seine Gedanken und sein Gedenken mahnen gerade nun, 50 Jahre nach der Zerstörung von Hiroshima und Nagasaki und nach dem Ende des Kalten Krieges, zur globalen Ächtung aller Kernwaffen. Die Redaktion.
Selten markieren Jahrestage den tatsächlichen Beginn eines Ereignisses. Was meine persönlichen Erinnerungen an das Manhattan-Projekt und die ersten Atombomben betrifft, so reichen sie weit vor den August 1945 zurück.
Ein Schlüsselerlebnis hatte ich 1938, als ich an der Universität von Kalifornien in Berkeley Physik studierte und ein ernster Campus-Aktivist war. Eines Nachts im Frühjahr jenes Jahres, kurz nach dem erzwungenen Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich, blieben meine Freunde und ich bis in den frühen Morgen auf, um im Radio die polternde Stimme Adolf Hitlers zu hören, der gerade zu den in Nürnberg versammelten Menschenmassen eine flammende Rede hielt. Seine Tiraden klangen nur allzu nahe, obwohl ein Ozean und neun Zeitzonen zwischen ihm und uns lagen. Es war abzusehen, daß ein fürchterlicher Kampf gegen das Dritte Reich und seine Verbündeten in nicht ferner Zukunft bevorstand. Die Zugeständnisse, die Großbritannien und Frankreich im folgenden September Hitler gegenüber auf der Münchener Konferenz machten und die Abtretung des Sudetenlandes der Tschechoslowakei an Deutschland zur Folge hatten, bestätigten unsere tiefe Sorge vor einem neuerlichen Weltkrieg.
Ein schicksalhaftes Zusammentreffen dieser politischen Entwicklung mit einer bedeutenden kernphysikalischen Entdeckung ließ kurz darauf die Forschungsinstitute an Universitäten wesentlichen Einfluß auf den Verlauf von Krieg und Frieden nehmen. Anfang 1939 erkannte man, daß bei der Absorption langsamer Neutronen durch das Element Uran eine beispiellose Energiemenge frei wird. Ich erinnere mich genau an den Tag im Januar jenes Jahres, als ich zum ersten Mal ehrfürchtig die grünen Ausschläge auf dem Schirm eines Oszilloskops beobachtete – jeder von ihnen ein elektrischer Impuls, der die kinetische Energie eines der zwei Fragmente eines gespaltenen Urankerns darstellte.
Der erste – noch indirekte, ja rätselhafte – Hinweis auf dieses Phänomen war gerade wenige Wochen zuvor veröffentlicht worden. Otto Hahn und seine Arbeitsgruppe am Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie in Berlin – die besten Radiochemiker dieser Zeit – hatten nach dem Beschuß von Uran mit Neutronen radioaktives Barium als Reaktionsprodukt gefunden. Die Masse eines Bariumatoms beträgt etwas mehr als die Hälfte der eines Atoms von Uran, des schwersten damals bekannten Elements. Nie zuvor war eine solche Spaltung nach einem Neutroneneinfang beobachtet worden. Das Experiment ließ jedoch keine andere Deutung zu; seine Folgen waren freilich noch nicht abzusehen.
Wenige Tage nach Hahns Messungen erhielt die Physikerin Lise Meitner – langjährige Mitarbeiterin Hahns und nun nach ihrer Flucht aus Nazi-Deutschland in Schweden lebend – Nachricht davon. Sie und ihr Neffe Otto R. Frisch, ebenfalls Physiker, erkannten, daß der Urankern in zwei annähernd gleiche Bruchstücke zerplatzt sein mußte, wobei er mehr Energie freisetzte als jemals zuvor in einer Kernreaktion beobachtet worden war. Diese Neuigkeit machte schnell die Runde, und der dänische Physiker Niels Bohr, in dessen Labor Frisch arbeitete, brachte sie im Januar 1939 in die USA, als er einen Gastaufenthalt am Institute for Advanced Study in Princeton (New Jersey) antrat.
Der Spaltungsprozeß, von Frisch und Meitner Fission genannt, schien von sich aus auch mindestens zwei Neutronen freizusetzen. Wenn diese unter geeigneten Bedingungen zwei weitere Spaltungen auslösten, wären dann vier Neutronen vorhanden; nach einer weiteren Spaltung hätte sich die Neutronenzahl auf acht verdoppelt, und so fort. Damit schien eine sich selbst erhaltende Kettenreaktion möglich (eine Vorstellung, die der aus Ungarn in die USA emigrierte Physiker Leo Szilard bereits seit mehreren Jahren vertreten hatte). Die lange nur hypothetische Möglichkeit, Kernenergie im großen Maßstab freizusetzen, war nun greifbar nahe. Wir alle wußten, daß die Spaltung von Uran – Atom für Atom – millionenmal mehr Energie freisetzen würde als jeder erdenkliche chemische Brenn- oder Explosivstoff.
Die Welt im Krieg
Die Bedeutung dieser Entdeckung für den sich abzeichnenden Krieg war offensichtlich. Nachdem meine Studienfreunde und ich die Neuigkeiten aus Europa vernommen hatten, skizzierten wir – obwohl wir nur eine leise Ahnung von Neutronenphysik hatten – an der Tafel unseres gemeinsamen Büros, wie wir uns die Anordnung für eine Bombe vorstellten. Auch wenn wir nicht alle Einzelheiten verstehen konnten, wußten wir doch, daß dieses Ding – falls es je gebaut werden könnte – fürchterlich sein würde.
Es gibt keine Aufzeichnungen über unsere spontanen Entwürfe, aber aufschlußreiche Briefe unseres Theorie-Mentors, J. Robert Oppenheimer, dessen Büro neben unserem lag. Am 2. Februar 1939 schrieb er einem alten Freund, dem Physiker George E. Uhlenbeck an der Universität von Michigan in Ann Arbor; er faßte die vorerst wenigen bekannten, aber überraschenden Fakten zusammen und schloß mit der Bemerkung: "So halte ich es wirklich nicht für unwahrscheinlich, daß ein Würfel aus Urandeuterid mit einer Kantenlänge von zehn Zentimetern ... die Hölle entfesseln könnte."
Bald darauf sollte genau dies geschehen, auch wenn der Vorgang komplizierter war, als sich jeder zunächst vorstellte. Ich bin mir ziemlich sicher, daß in diesen ersten Wochen des Jahres 1939 die meisten Kernphysiker ähnliche Überlegungen anstellten – sicherlich auch in Deutschland, wo die Kernspaltung entdeckt worden war. Im Herbst 1939 veröffentlichten Bohr und John A. Wheeler in Princeton die erste vollständige Analyse der Kernspaltungsphysik.
Zwischenzeitlich war es im spanischen Bürgerkrieg den von dem nationalsozialistischen Deutschland und dem faschistischen Italien unterstützten nationalspanischen Truppen gelungen, Madrid einzunehmen; das Regime von General Francisco Franco hatte sich etabliert. Und das Deutsche Reich hatte mit dem Überfall auf Polen am 1. September dieses Jahres den Zweiten Weltkrieg begonnen.
Bis zum Frühjahr 1940 wurden mehrere Expertengruppen in nicht weniger als sechs Ländern mit der Erforschung der Kernspaltung betraut: in Deutschland, Frankreich (das kurz darauf deutsche Truppen besetzten), Großbritannien, in der Sowjetunion, den USA und Japan. In all diesen Ländern waren es weder die Politiker noch die führenden Militärs, sondern die Physiker, die sich dafür einsetzten, das Potential der Kernspaltung für Kriegszwecke zu erkunden. In den USA beispielsweise unterschrieb Albert Einstein, gerade als der Krieg begann, den berühmten Brief an Präsident Franklin D. Roosevelt, um ihn zu ermuntern, die Entwicklung von Kernwaffen voranzutreiben.
Ende 1941 befanden sich alle diese Länder sowie Italien im Krieg; Japan hatte China bereits 1937 angegriffen. Auch in den USA wurde die Physik in die plötzlich beginnende Mobilisierung hineingezogen.
Ich war damals Dozent an der Universität von Illinois in Urbana-Champaign. Diese Stelle hatten zuvor nacheinander zwei befreundete Physiker aus Berkeley innegehabt, die jedoch beide für mir nicht bekannte kriegswichtige Arbeiten abgezogen worden waren. Im Jahre 1942 marschierten die meisten männlichen Studenten – solange die Musterungsbehörde sie nicht einzog – wie Soldaten geschlossen und singend in ihre Hörsäle. Das Vorlesungsjahr wurde auf volle zwölf Monate ausgedehnt. Wir Dozenten lehrten mit vollem Einsatz und ließen uns mit großzügiger Unterstützung der Regierung auch auf Kriegsforschung ein.
Eine andere schicksalhafte Stimme kommt mir in Erinnerung. Jedesmal am Erntedankfest treffen sich die Physiker des Mittleren Westens in Chicago; ich fuhr 1942 zu diesen Veranstaltungen. Ein Postdoktorand unserer kleinen Berkeley-Gruppe rief mich an und bat mich, unbedingt bei ihm im Labor in Chicago vorbeizukommen, wo er nun arbeitete. Ich betrat das im gotischen Stil erbaute Physik-Gebäude. Nachdem meine Verabredung von bewaffneten Wachposten überprüft worden war, fand ich meinen Freund Bob Christy still an seinem Schreibtisch sitzend. "Weißt Du, was wir hier machen?" fragte er. Ich gab zu, das sei leicht zu erraten: daß es das geheime Uran-Projekt sein müsse, zu dem so viele andere gegangen waren. "Ja", sagte er in seiner gewohnt ruhigen Art, "wir machen Bomben."
Ich war bestürzt, ja sprachlos, über das ehrgeizige Vorhaben, das ein so unwiderrufliches schreckliches Ziel hatte. Christy und ich unterhielten uns, und eine Frage tauchte auf: Wie sonst könnte unsere Seite den Krieg verlieren, außer wenn es die Deutschen waren, die als erste Kernwaffen entwickelten?
Die Aufgabe war tatsächlich lebenswichtig; jeder Physiker mit entsprechender Erfahrung – und es gab nur wenige – mußte mitmachen. Davon war ich nun überzeugt, meine Frau einverstanden. Nach wenigen Wochen befand ich mich im selben Labor in Chicago und lernte, Enrico Fermi zu assistieren, der im benachbarten Büro arbeitete. Ich hatte mich sozusagen auf unbestimmte Zeit dienstverpflichtet wie vor mir so viele junge Soldaten.
Im Laufe des bitteren Kriegsjahres 1943 entwickelte ich mich zum erfahrenen Neutroneningenieur, testete wieder und wieder detaillierte Modelle der riesigen Reaktoren, die in Hanford (Washington) am Columbia-River gebaut werden sollten. Ich erinnere mich auch an andere Überlegungen, die wir innerhalb unserer geschäftigen Gruppe aus Theoretikern und Ingenieuren um Eugene P. Wigner verfolgten. Es war fast wie eine Offenbarung, als ich erkannte, daß selbst die geringen Konzentrationen an Uran in dem reichlich vorhandenen normalen Granit genug Kernbrennstoff liefern könnten, um den Energieaufwand für seine Gewinnung zu decken und noch zusätzlich einen großen Energieüberschuß zu erzeugen. Selbst heute steht die Praxis der Realisierung dieses Traums entgegen; aber im Prinzip würde das Verfahren, das Gestein der Berge als Energiequelle zu nutzen, den Einsatz aller fossilen Brennstoffe bei weitem überdauern.
Zudem schlug ich (nicht als einziger) einen ausgefeilten Plan vor, etwas über den Stand der deutschen Uranforschung herauszubekommen. Bald darauf wurde ich Fachberater des von General Leslie R. Groves geleiteten neuen Aufklärungsdienstes in Europa – eine aufregende, wenngleich letztlich quälende Nebenbeschäftigung für einen jungen Physiker.
Der Bau der Bomben
In den USA wurden zwei riesige Industriekomplexe aus dem Boden gestampft, die für die Entwicklung nuklearer Sprengsätze ausreichende Mengen zweier verschiedener Spaltstoffe produzieren sollten: Uran-235, das in dem natürlich vorkommenden Element nur zu 0,72 Prozent enthalten ist, und das neu entdeckte künstliche Element Plutonium. Und wir wußten alle, daß irgendwo – an einer verborgenen Einrichtung namens "Site Y"- an Mechanismen gearbeitet wurde, die diese radioaktiven Stoffe zur Explosion bringen sollten.
Aber Mitte 1944, selbst als die Reaktoren zur Produktion von Plutonium am Columbia-Fluß von 40000 Arbeitern fertiggestellt wurden, sah sich "Site Y" einem ernsthaften technischen Problem gegenüber. Das bis dahin bevorzugte Zündverfahren war einfach: Mit einer Art Kanone sollte eine unterkritische Masse aus angereichertem Uran-235 in eine entsprechende Aussparung in einem ebenfalls unterkritischen Uranblock geschossen werden, so daß die gesamte Konfiguration detonieren würde. Messungen an den ersten Plutoniumproben zeigten jedoch, daß diese Methode dafür nicht einzusetzen war; aber der größte Teil der Spaltstoffe, den die USA in den nächsten Jahren herstellen wollten, sollte gerade dieses Element sein. Eine komplizierte und unsichere Konstruktion, die man bereits früher untersucht, aber dann nicht weiterverfolgt hatte, schien nun der einzige Ausweg: Man mußte reines Plutonium – also in metallischer Form – mit einer Sprenglinsen-Anordnung aus gewöhnlichem Sprengstoff für einen kurzen Moment implodieren lassen, das heißt auf hohe Dichte komprimieren.
Im Spätsommer 1944 lebte und arbeitete ich mit vielen anderen Wissenschaftlern und Ingenieuren in "Site Y" inmitten der schönen Landschaft aus Mesas genannten Hochebenen und tiefen Canyons von Los Alamos (Neu-Mexiko). Wir waren von allen weit verteilten Einrichtungen des Manhattan-Projekts hierher geholt worden, um die ursprüngliche Belegschaft des Laboratoriums zu verstärken, zu der zwar hochkarätige Forscher gehörten, die aber einfach zu klein war, um die neuartige Konstruktion des Implosionsmechanismus zu verwirklichen.
Informationen aus deutschen Labors überzeugten uns Ende 1944, daß Nazi-Deutschland uns beim Wettlauf um die Bombe nicht überholen würde. Im Januar 1945 arbeitete ich in Frischs Gruppe, die mittlerweile Erfahrungen gesammelt hatte, wie man unterkritische Massen von Spaltmaterial zu einer überkritischen Anordnung zusammenbringen konnte. Solche Experimente mit Uran nannten wir "den Drachen am Schwanz kitzeln". Wir bauten gewissermaßen eine gezähmte und verkleinerte Version einer Bombe, die wir für jeweils wenige Millisekunden gerade eben überkritisch werden ließen. Der heftige Neutronenschauer, den sie dabei erzeugte, war der erste direkte Hinweis, daß eine explosionsartig anschwellende Kettenreaktion möglich war.
Bis zum Frühjahr hatte das Labor auch eine von Christy ausgearbeitete Konstruktion einer richtigen Plutonium-Implosionsbombe verwirklicht und ihre maßstabsgetreue Erprobung vorgesehen. Zwei von uns aus Frischs Gruppe (der Physiker Marshall G. Holloway und ich) wurden als sogenannte G-Ingenieure abgestellt; der Buchstabe "G" stand dabei für gadget (englisch für Vorrichtung, Ding), den Codenamen des Sprengsatzes. Wir waren für die Herstellung der ersten beiden Kerne aus Plutonium- Metall verantwortlich. Wir mußten ihre Konstruktion exakt festlegen sowie, sobald genügend Plutonium-Verbindungen eingetroffen waren, sie mit den in Los Alamos vorhandenen Mitteln herstellen, ihre Handhabung vorbereiten und bis Juli den ersten Kern für die Erprobung in die anderen Komponenten des komplexen Waffensystems integrieren.
Im Juni war zwar der Krieg in Europa zu Ende, im Pazifik tobte er jedoch um so heftiger. Die Funktion der Bombe war noch immer ungewiß; so arbeiteten wir weiter an ihr, weil wir unserem Land und unserer Regierung loyal ergeben waren – vielleicht zu sehr?
Der Trinity-Test, die erste Erprobung eines nuklearen Sprengkörpers, fand wie geplant am 16. Juli 1945 statt (Bilder 1 und 2). Er brannte sich unauslöschlich meinem Gedächtnis ein. Nichts ist so unvergeßlich wie der kurze Hitzeblitz, den ich – 16 Kilometer vom Explosionsort entfernt – trotz der frühen Morgenstunde in der noch kalten Wüste auf meinem Gesicht verspürte, als die von uns erzeugte falsche Sonne auf- und wieder unterging.
Für die meisten der 2000 Fachleute in Los Alamos – Zivilisten, Soldaten und wehrdienstleistende Studenten – stellte dieser Test den Höhepunkt unserer Anstrengungen dar. Der erschreckende Abwurf der Bombe weniger als einen Monat später erschien gewissermaßen als Tiefpunkt, außerhalb unserer Kontrolle und weit entfernt. Eine deutliche Warnung an die Japaner in Form einer Demonstration über unbewohntem Gelände, auf die ich gehofft hatte, fand nicht statt; der Wandel von der konventionellen Kriegführung zur atomaren wurde vor der Welt geheimgehalten und erst durch die Zerstörung Hiroshimas publik.
Atomkrieg und nukleare Abschreckung
Alle drei im Jahre 1945 gezündeten Kernsprengkörper – der in Alamogordo getestete und die über Hiroshima und Nagasaki abgeworfenen – waren eher notdürftig aus Laborgerät zusammengebastelte Provisorien als zuverlässige Waffen. Schon bald nach dem Test am 16. Juli flogen etwa 60 Leute von uns von Los Alamos in den Nordpazifik, um beim Zusammenbau dieser komplizierten Bomben zu helfen (Bild 3). Ohne unsere besonderen wissenschaftlichen Fähigkeiten und Kenntnisse wären die Tausende von Angehörigen der Luftwaffe auf der Insel Tinian, wo ungezählte Schiffsladungen von Treibstoff und Brandbomben im Hafen eintrafen, damit nicht zurechtgekommen.
Die Uran-Bombe mit dem Spitznamen "Little Boy", als erste vorbereitet, wurde am 6. August 1945 eingesetzt und machte Hiroshima dem Erdboden gleich (Bild 4). Ihre Konstruktion war nicht getestet worden, weil das Kanonenrohr-Prinzip so simpel war, auch wenn man dafür mehr Spaltmaterial benötigte. Das zweite Exemplar der zuvor erprobten Plutonium-Implosionsbombe, "Fat Man" genannt, zerstörte Nagasaki. Kurz darauf war der Krieg zu Ende.
Ich wurde der vorläufigen amerikanischen Einheit zugewiesen, die von unserem Stützpunkt im Pazifik aus noch am ersten Tag der US-Besatzung in Japan eintreffen sollte. Mit dem Gefühl, daß ich damit meine Funktion als Zeuge dieser ganzen Tragödie abrundete, stimmte ich zu.
Gemeinsam mit zwei anderen jungen Amerikanern in Uniform fuhr ich einige Wochen mit der Eisenbahn durch Japan. Die Züge waren mit demobilisierten Truppen überfüllt – entsetzlich erschöpften und ausgehungerten Männern, die sich aber noch immer diszipliniert verhielten. Entlang der Schienenstränge sahen wir große und kleine Städte, die niedergebrannt und verwüstet worden waren; riesige Geschwader von B-29-Bombern hatten diese typischen Narben der konventionellen Luftkriegführung hinterlassen. Die Zerstörungen ähnelten denen, die Hiroshima und Nagasaki durch jeweils eine einzige Kernexplosion und die dadurch verursachten Feuersbrünste zugefügt wurden.
Wir hatten unsere neue Art der Destruktion – gleichsam den ersten Schlag eines atomar geführten Krieges – mit gerade zwei Bomben begonnen. Ein einziges Flugzeug vermochte nun Tod und Verderben über eine mittlere Großstadt mit mehreren hunderttausend Einwohnern zu bringen. Dennoch machte es für die Opfer, die auf schreckliche Weise litten und starben, keinen allzu großen Unterschied, ob das Inferno auf herkömmliche oder nukleare Weise angerichtet wurde. Wir sahen zwar entlang des Bahnsteigs in Hiroshima Hunderte von Leuten liegen, von denen die meisten ihre Verbrennungen oder die Strahlenkrankheit, die wir wie eine neue Seuche über sie gebracht hatten, nicht überlebten; aber in vielen anderen Städten – einschließlich des zerbombten Tokio, wo 100000 oder mehr Frauen, Männer und Kinder beim ersten Feuersturm umkamen – waren viele derjenigen, die den direkten Angriff überstanden hatten, ebenfalls von Verbrennungen und anderen Verletzungen gezeichnet.
Der Effekt der Strahlung ist keineswegs zu vernachlässigen. Doch liegt der Unterschied zwischen den Flächenbombardements japanischer Städte und den Glutbällen von Hiroshima und Nagasaki weniger in der Art oder Größenordnung der menschlichen Tragödien als in dem bestürzenden Faktum, daß es nun viel einfacher war, die Metropolen der Menschheit zu vernichten. Zwei Atombomben hatten ausgereicht, die Anzahl der in Luftangriffen ums Leben gekommen Japaner etwa zu verdoppeln.
Die Kernspaltung und die anschließend entwickelte Kernfusion ermöglichten auf billige Weise das Schlimmste. Es war zwar nicht der Zweite Weltkrieg, der dadurch wesentlich beeinflußt wurde – sondern der nächste, noch bevorstehende würde es sein. Von dieser Gewißheit waren die seither vergangenen fünfzig Jahre beherrscht.
Im Jahre 1945 hatten die USA ungefähr 1000 Langstreckenbomber des Typs B-29 stationiert, in den sechziger Jahren rund 2000 Kampfbomber und in den achtziger Jahren vielleicht 1500 Raketen. Für mehr als vier Jahrzehnte verfügten sie damit über ein strategisches Arsenal, das nach bloßen Zahlen etwa dem entsprach, über das Commander Curtis E. LeMay 1945 verfügte, um Japan zur Kapitulation zu zwingen. Wohl wurden die Waffensysteme immer schneller und zuverlässiger. Jedoch bestand nun deren Nutzlast nicht mehr aus chemischen Explosivstoffen, sondern aus Kernsprengsätzen, die ein Mehrhundertfaches an Todesopfern und Zerstörung zur Folge haben würden. Politiker in Ost und West rüsteten nuklear auf und drohten sogar den Einsatz dieser Waffen an – und damit einen Krieg, der um Größenordnungen schlimmer wäre als jeder zuvor. Indes blieb es bei dieser Drohung; und heute endlich wird der Austrag eines Konflikts großer Mächte oder Bündnissysteme mit Nuklearwaffen als das angesehen, was er ist: gänzlich inakzeptabel.
Als ich Ende September 1945 aus Japan zurückkehrte, erfuhr ich, daß ein junger Mitarbeiter unserer kleinen Gruppe, der im Labor während einer unkontrolliert verlaufenden Kettenreaktion eine hohe Strahlendosis abbekommen hatte, gestorben war. (Er blieb nicht der letzte.) Unsere Verwegenheit, den nuklearen Drachen herauszufordern, hatte schließlich auch in Neu-Mexiko ihren Tribut gefordert. Die Vereinigten Staaten hatten nun Frieden, erlebten aber heftige Diskussionen über die Atombombe. Gegen Ende des Jahres hatten viele Wissenschaftler, zu denen auch ich gehörte, ihre Meinung über die Zukunft der nuklearen Kriegführung deutlich und in teils aufwühlenden öffentlichen Äußerungen klargestellt.
Was wir damals sagten, war – kurz gefaßt – folgendes: Geheimhaltung werde uns nicht schützen, weil spaltbare Atome und wissenschaftliche Erfahrung nicht an ein Land oder eine Ideologie gebunden sind. Keinerlei Schutzmaßnahmen könnten der enormen Energiefreisetzung begegnen. Es werde auch niemals möglich sein, mit Abwehrsystemen jede Bombe abzufangen; und selbst einige wenige Kernexplosionen würden eine schwere Katastrophe hervorrufen. Passiver Schutz sei deshalb wenig wirkungsvoll, weil die Kosten besserer Bunker weit stärker steigen als die der zu ihrer Zerstörung erforderlichen Kernsprengkörper. Auch technische Überlegenheit würde den Vereinigten Staaten keine Sicherheit bieten, weil ihnen selbst eine kleinere Nuklearstreitmacht inakzeptablen Schaden zufügen könnte.
Die Lehren der Bombe
Ich glaube, diese Ansichten sind heute ebenso richtig wie damals im Jahre 1945. Es gibt nur einen Ausweg: ein detailliert ausgearbeitetes, umfassendes internationales Übereinkommen, den Atomkrieg ein für allemal zu ächten. Es verblüfft, daß die Leiter des Manhattan-Projekts nahezu das gleiche bereits am 17. August 1945 äußerten, drei Tage nachdem Japan bedingunslos kapituliert hatte. Aber sie schrieben dies in einem als geheim eingestuften Brief an den US-Kriegsminister, wodurch ihre spontanen Reaktionen für viele Jahre der Öffentlichkeit vorenthalten wurden.
Die neunziger Jahre bieten uns eine historische Chance, die so unerwartet kam wie einstmals die Entdeckung der Kernspaltung. Die USA und die ehemalige Sowjetunion mustern gegenwärtig täglich zwischen acht und zehn Kernsprengköpfe aus; dennoch müssen sie beide erheblich weiter gehen. Nie zuvor waren die Chancen für Frieden so vielversprechend und eindeutig, aber noch gilt es, sie zu nutzen. Erforderlich sind energische und weitreichende Entschlüsse. Die Aufgabe ist nicht einfach, aber gab es je ein wichtigeres internationales Ziel, als die künftigen Generationen vor einem Atomkrieg zu bewahren? Wie konnten wir jemals einen Krieg mit Zehntausenden von Kernsprengköpfen planen? Wußten wir nicht, daß auch die USA in Schutt und Asche liegen würden? Mit Kernwaffen erreicht Krieg eine ultimative, sinnlose Symmetrie der gegenseitigen Zerstörung.
Im Jahre 1963 erinnerte sich Oppenheimer, daß Niels Bohr, als er während des Krieges zum ersten Mal nach Los Alamos kam, seinen Freund und Gastgeber sehr ernst fragte: "Ist sie groß genug?" Oppenheimer wußte, was Bohr meinte: Reichte diese neue Dimension der Kriegführung aus, um die Institution des Krieges überhaupt in Frage zu stellen? "Ich weiß nicht, ob sie es damals war" schrieb Oppenheimer, "aber letztlich wurde sie groß genug." Danach wurde sie auf erschreckende Weise zu groß, und sie ist es immer noch; aber wenigstens wächst sie nicht mehr an. Wir können, wenn wir in unseren Bemühungen nicht nachlassen, dieser unvergleichlichen Bedrohung entkommen.
Literaturhinweise
- A History of Strategic Bombing. Von Lee B. Kennett. Charles Scribners' Sons, 1982.
– Die Atombombe oder die Geschichte des 8. Schöpfungstages. Von Richard Rhodes. Greno, Nördlingen 1988.
– Hiroshima und Nagasaki. Geschichte und Gegenwärtigkeit. Herausgegeben von Bernd W. Kubbig von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung und "Wissenschaft und Frieden". Wissenschaft und Frieden (Sonderausgabe), Band 12, Heft 2, 1995.
– Hiroshima. Geschichte und Aktualität der atomaren Bedrohung. Materialien für die schulische und außerschulische Bildung. Herausgegeben vom Hessischen Institut für Bildungsplanung und Schulentwicklung und vom Hessischen Institut für Lehrerfortbildung in Kooperation mit der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung. Wiesbaden und Fuldatal, 1995.
– Das Zeitalter der Bombe. Die Geschichte der atomaren Bedrohung von Hiroshima bis heute. Herausgegeben von Michael Salewski. Verlag C. H. Beck, München 1995.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1995, Seite 38
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