Genetik: Mäuse sind auch nur Menschen
Genetiker haben nun auch das Erbgut der Maus komplett entziffert. Wie sich zeigte, ist es dem Genom des Menschen erstaunlich ähnlich. Damit eröffnet es die große Chance, genetisch bedingte menschliche Krankheiten genauer zu ergründen.
Um den Menschen zu verstehen, reicht der Mensch nicht aus. Die Wissenschaftler des Human-Genom-Projektes erkannten dieses Paradox schon vor Jahren: Um den Text unserer Erbinformation nicht nur buchstabieren zu lernen, sondern auch seinen Inhalt zu erfassen, machten sie sich früh daran, für Vergleichszwecke zusätzlich die einfacheren Genome anderer Tiere zu entziffern. Dabei sind sie jetzt einen bedeutenden Schritt vorangekommen. Mehrere hundert Forscher konnten die komplette DNA-Sequenz der Maus vorlegen – und umgehend interessante Schlussfolgerungen für den Menschen ziehen. Zum Beispiel gelang es, jene Gene zu identifizieren, die wahrscheinlich beim Down-Syndrom eine Rolle spielen.
Die neuen Ergebnisse sind so wichtig, weil die Maus das bedeutendste Tiermodell für alle denkbaren biologisch-medizinischen Untersuchungen darstellt. Seit hundert Jahren beschäftigen sich Wissenschaftler mit dem Nager. In dieser Zeit gab es praktisch kein Gebiet der Biologie oder Medizin, auf dem er sich nicht unentbehrlich gemacht hat. Gleich ob Genetik, Pharmakologie oder Psychologie – Studien an der Maus und die Resultate daraus lieferten stets wichtige Erkenntnisse. Nun hat die Laborkarriere des putzigen Tierchens wohl einen neuen Höhepunkt erreicht. Denn der Vergleich zwischen dem Erbgut von Mus musculus und Homo sapiens ermöglicht weitreichende Einblicke in die Biologie des Menschen. Während Wissenschaftler früher zehn bis fünfzehn Jahre benötigten, um zehn mögliche krankheitsrelevante Gene ausfindig zu machen, haben sie dank der Maus-Sequenz nach wenigen Monaten schon weit über hundert neue solche Erbfaktoren in den Händen.
Der Mensch im Spiegel der Maus
Hinter der vergleichenden Genomik steht ein simpler Gedanke: Je mehr Erbgut-Sequenzen man einander gegenüberstellt, umso deutlicher tauchen aus dem endlosen Buchstaben-Wirrwarr sinnvolle Passagen auf. Wenn die Biologen einen bestimmten Abschnitt in ganz ähnlicher Form sowohl im Erbgut der Maus als auch in dem des Menschen finden, muss er wichtig sein und stellt daher wohl ein Gen dar. Sonst hätte die Natur dieses Teilstück während der Evolution nicht vor drastischen Veränderungen oder dem kompletten Verlust bewahrt.
Einer von über tausend Erbfaktoren, die durch den Vergleich zwischen Mensch- und Maus-Genom entdeckt wurden, ist APOA V. Wie sich zeigte, gehört er zu einer schon länger bekannten Gen-Familie. Die Abkürzung APO steht für Apolipoprotein, einen Eiweißstoff, der Bedeutung im Fettstoffwechsel und bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen hat. Der Neuzugang ist umso überraschender, als man die APO-Familie seit langem für vollständig hielt. Funktionsstudien mit dem Protein zeigten, dass es bei der Regulation der Konzentration an Triglyceriden im Blut mitwirkt. Diese Neutralfette sind den Medizinern wohl bekannt und allen Sterblichen ein Übel – zumindest bei zu hoher Konzentration: Sie erhöhen das Risiko für Erkrankungen der Herzkranzgefäße.
Das internationale »Mouse Genome Sequencing Consortium« um den Sequenzierungsexperten Eric Lander vom Massachusetts Institute of Technology in Cambridge präsentierte den ersten Entwurf des entzifferten Maus-Genoms nur etwa eineinhalb Jahre, nachdem entsprechende Daten für den Menschen vorgelegt worden sind (Nature, Bd. 420, S. 520). Der Begriff Entwurf bedeutet, dass etwa 96 Prozent des Erbgutes erfasst wurden.
Was sich früher schon andeutete, ist nun Gewissheit geworden: Dass wir die Krone der Schöpfung sein sollen, schlägt sich nicht unmittelbar in einem genetischen »Größer-schöner-besser« nieder. Maus und Mensch haben ungefähr die gleiche Anzahl Gene: rund 30000. Dabei ist das Erbgut der Nager etwa 14 Prozent kleiner als das des Menschen, weil es – so vermuten Lander und seine Mitstreiter – im Verlauf der Stammesgeschichte Abschnitte verloren hat.
Während dieses Ergebnis wohl nur für Evolutionsgenetiker interessant ist, dürfte ein anderer Befund auch Laien verblüffen: Obwohl die Maus im Tierreich keineswegs zu unseren nächsten Verwandten zählt, lässt nur etwa ein Prozent ihrer Gene jede Spur von Ähnlichkeit mit unserem Erbgut vermissen. Der Mensch weicht genetisch also viel weniger von der Maus ab als vermutet. Natürlich sind die 99 Prozent gemeinsamer Erbfaktoren in beiden Arten nicht völlig identisch, sie unterscheiden sich sehr wohl in den Details. Aber grundsätzlich verfügen wir über fast den gleichen Satz an Genen. Forscher glauben sogar, bei uns die Anlage für ein Schwänzchen erkannt zu haben.
Nach der Bäckerhefe Saccharomyces cerevisiae, dem Kugelfisch Fugu rubripes, der Taufliege Drosophila melanogaster und dem Fadenwurm Caenorhabditis elegans ist die Maus der fünfte Modellorganismus, dessen Erbsequenz bestimmt wurde. Auch die anderen vier Organismen lieferten per vergleichender Genomik bereits aufschlussreiche Ergebnisse und halfen bei der Identifizierung neuer Erbfaktoren mit. Doch Mus musculus übertrifft sie alle. Denn die Maus hat einen weiteren Vorteil: Sie erlaubt es, auch regulatorische Sequenzen zu ermitteln – also diejenigen Elemente, die darüber entscheiden, wann und wo »ruhende« Gene angeschaltet und abgelesen werden.
Bewahrenswerter Ballast
Mit einem Anteil von etwa zwei bis drei Prozent machen die Erbanlagen selbst nämlich nur einen Bruchteil in unserem Genom aus. Sie verschwinden fast in einem Wust von »nicht-codierenden« Bereichen, die keine Bauanleitung für ein Protein darstellen. Deren Sinn und Zweck ist bisher unklar. Das Credo der Genetiker lautete: Diese Abschnitte bergen keinerlei lebenswichtige Informationen, sodass sie sich während der Evolution ziellos verändern können.
Doch das ist wohl ein Trugschluss. Was lange Zeit mehr oder minder als Schrott galt, enthält anscheinend doch – zumindest teilweise – wichtige Informationen. Beim Vergleich von Maus und Mensch erkannten Lander und seine Kollegen nämlich, dass die Evolution nicht nur die zwei bis drei Prozent Gene bewahrt hat. Vielmehr sind bei immerhin fünf Prozent des Erbguts keine großen Unterschiede feststellbar. Folglich verbergen sich in den nicht-codierenden Abschnitten bisher unentdeckte, aber eben wichtige regulatorische Elemente. Die Maus-Sequenz bietet die Chance, ihnen auf die Spur zu kommen.
Auch zwei Veröffentlichungen anderer Forscherteams unterstreichen, welch hohen Wert das Nager-Genom für vergleichende Analysen hat. Mit seiner Hilfe gelang es, die genetischen Grundlagen des Down-Syndroms genauer zu erforschen. Diese erblich bedingte Störung beruht darauf, dass die betroffenen Menschen in ihren Körperzellen drei anstatt der üblichen zwei Exemplare des Chromosoms 21 haben, weshalb man auch von Trisomie 21 spricht. Ein tieferes Verständnis dieser Krankheit erfordert, für jedes Gen auf dem betreffenden Chromosom herauszufinden, in welchem Gewebe und in welchem Stadium der Körperentwicklung es angeschaltet wird und damit zum Einsatz kommt – Genetiker sprechen von Expression.
Aus nahe liegenden Gründen können die Experimente nicht am Menschen selbst ausgeführt werden. Die mittlerweile bekannte Maus-Sequenz bot da eine willkommene Ausweichmöglichkeit. Die Forscher führten an dem Nager so genannte Expressionsstudien durch. Dabei verfolgten sie die Aktivität von 158 Genen in ausgewählten Stadien der Embryonalentwicklung. Die Methode ist recht raffiniert. Wenn ein Gen angeschaltet wird, bildet die Zelle eine kleinere, gebrauchsfertige Abschrift davon: eine so genannte mRNA. Nach ihr suchen die Biologen mit einer markierten Sonde, die jeweils nur diese eine Abschrift erkennt. Findet die Sonde ihr mRNA-Molekül, bindet sie sich daran und verrät durch ihre Markierung, dass die Abschrift vorhanden, das Gen also angeschaltet ist.
Gen für mongoloide Gesichtszüge
Aus den Ergebnissen von weit über 6000 solchen Experimenten erstellten die Wissenschaftler einen »Expressionsatlas«. Darin ist für die erwähnten 158 Gene verzeichnet, wann und wo sie während der Entwicklung des Organismus in der Gebärmutter in Aktion treten. Eines davon namens Adamts5 enthält die Bauanleitung für ein Enzym aus der Gruppe der so genannten Disintegrin-Metalloproteasen.
Den diversen Vertretern der Adam-Familie schreiben die Biologen verschiedene Funktionen bei der Zell-Zell-Kommunikation zu. Wie sich nun herausstellte, wird Adamts5 während der Gesichtsentwicklung und vorübergehend im ventralen Mittelhirn angeschaltet. Dieses verräterische Verhalten deutet darauf hin, dass das Gen für die gestörte geistige Entwicklung und die typische »mongoloide« Gesichtsform von Menschen mit Down-Syndrom mitverantwortlich sein könnte. Bei den Missbildungen am Herzen fiel der Verdacht auf insgesamt fünf Gene. Eines davon namens Sh3bgr ist etwa zehn Tage nach der Befruchtung im Herzen des Embryos aktiv.
Auch echte Überraschungen gab es. Zum Beispiel glaubte man bisher, dass der Erbfaktor Tsga2 ausschließlich im Hoden eine Rolle spielt. Den Expressionsstudien nach kommt er aber auch in bestimmten Gehirnbereichen zum Einsatz und wirkt bei der Ausbildung des Rautenhirns mit. Insgesamt ergab sich ein raumzeitliches Muster differenzierter Gen-Aktivität, das alle beim Down-Syndrom betroffenen Gewebe umfasst.
Auf den ersten Blick mag der Wert dieser Ergebnisse nicht spektakulär erscheinen. Schließlich untersuchten die Forscher »nur« die Maus. Allerdings wissen sie, welchen menschlichen Genen die 158 beim Nagetier entsprechen. Die Befunde lassen daher Rückschlüsse auf den Menschen zu und legen den Grundstein für verfeinerte Einzeluntersuchungen mit den humanen Sequenzen.
Wie bei derartigen Arbeiten üblich, formulieren die Autoren ihre Artikel sehr vorsichtig. Sie legen sich nicht fest, ob die identifizierten Erbanlagen nun die Alleinschuld an der Entwicklung des Down-Syndroms tragen und welchen Anteil an der Erkrankung sie haben; auch noch völlig unbekannte Faktoren schließen sie nicht aus. Aber in einem Punkt sind sich Lander und seine Kollegen einig: Die Maus-Genom-Daten bilden ein vielseitig einsetzbares Werkzeug für die weitere Forschungsarbeit. Das gilt nicht nur für das Down-Syndrom, sondern auch für viele andere Erkrankungen mit genetischem Hintergrund sowie generell für die Entschlüsselung des menschlichen Erbguts, die mit der Sequenzierung erst angefangen hat.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 2003, Seite 10
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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