Manatis - Seekühe aus der Neuen Welt
Einst konnten Sirenen aus dem Amazonasgebiet ihre verwandten Konkurrenten aus der Alten Welt ausstechen: Sie hatten den besseren Kauapparat für harte Pflanzen. Nun liegt es in der Hand des Menschen, ob er ihnen eine Lebensmöglichkeit erhält.
Es war einmal ein junges Mädchen, das badete eines Tages am Ufer eines Flusses. Als plötzlich Männer nahten, erschrak es, sprang in die Wellen und bedeckte schamhaft seine Blöße mit einem Palmblatt. Die Scheu wurde ihm aber zum Verhängnis. Das Mädchen verwandelte sich in eine Sirene – das Blatt wurde zum fächerförmigen, breiten Schwanz – und mußte fortan für immer im Wasser leben.
Dieses Märchen aus Mali in Westafrika erzählt vom Ursprung der Seekühe, jener merkwürdigen Säugetiere der Meere und Flüsse, die Seefahrer von weitem oft für Menschen hielten, wenn sie im seichten Wasser grasten oder zum Luftholen auftauchten. Antike Sagen und die Geschichten von Seejungfrauen mögen in solch verwirrenden Beobachtungen ihren Ursprung haben, und auch bei den eingeborenen Völkern Afrikas und Amerikas ranken sich um sie unzählige Legenden.
Der Wissenschaft aber enthüllen die sanften Monster sich erst in jüngster Zeit. Vieles an ihnen ist eigenartig: so die Mahlzähne zum Zerkleinern der Pflanzennahrung, die bei manchen Arten bis ins hohe Alter ersetzt werden, wenn sie abgenutzt sind, und der besonders niedrige Stoffwechsel, der ihnen ermöglicht, monatelang zu fasten – Anpassungen an ihre vegetarische Lebensweise im Wasser. Der einzige wirkliche Feind der plumpen, schwerfälligen Tiere ist der Mensch.
Die Säugetierordnung der Seekühe oder Sirenia entstand wahrscheinlich zu Beginn des Tertiär – vor rund 50 Millionen Jahren – in der Alten Welt im Gebiet des damaligen Tethys-Meeres, von dem das heutige Mittelmeer ein Rest ist. Sie stammt von den gleichen urtümlichen Huftieren ab wie die Elefanten, die gut hasengroßen Schliefer und vielleicht auch die Erdferkel.
Wir wissen nicht, aufgrund welcher Selektionskräfte die Gruppe ihre ökologische Nische als große marine Pflanzenfresser fand. Aber vorstellbar ist diese Entwicklung schon, wenn man etwa sieht, wie domestizierte Schafe auf den Inseln vor Schottland bei Ebbe ins Wasser gehen und Algen abweiden, ja sogar zu den Beeten hinschwimmen, oder wie auf den Tokelau-Inseln im Südpazifik Schweine an den Korallenriffen äsen und dabei ohne weiteres lange mit dem Kopf unter Wasser bleiben.
Heute leben noch vier Arten von Sirenen, von denen die größeren gut vier Meter lang werden und mindestens einige hundert Kilogramm wiegen. Drei – die Manatis – bilden die Familie der Rundschwanz-Seekühe (Trichechiden); die vierte ist der Dugong, eine Gabelschwanz-Seekuh (Familie Dugongiden). Noch vor 200 Jahren kam im Bering-Meer eine dem Dugong verwandte, aber mit acht Metern Länge und mehreren tausend Kilogramm Gewicht doppelt so große Art – die Stellersche Seekuh – massenhaft vor. Sie wurde erst 1741 entdeckt und war schon 1768 vom Menschen ausgerottet. Insbesondere den Rundschwanz-Seekühen (Bild 1 und Titelbild) gilt mein Forschungsinteresse, und hauptsächlich von ihnen soll dieser Artikel handeln.
Konkurrenz der Gebisse
Dem Fossilbefund zufolge kamen die ersten Sirenen vor mehr als 35 Millionen Jahren, im Eo- oder Oligozän, nach Südamerika, damals ein isolierter Kontinent. Das waren die Vorfahren der heutigen Rundschwanz-Seekühe: Der erste echte Manati, von dem Relikte zeugen, hat vor 13 bis 16 Millionen Jahren im mittleren Miozän gelebt. Allerdings war sein Gebiß noch nicht so konstruiert wie bei den modernen Arten.
Die tropischen und subtropischen Regionen der Alten Welt, aber auch der westliche Atlantik und die Karibik waren bis ins späte Miozän Lebensraum von Vertretern der altmodischeren Dugongs, die in Seegraswiesen weideten. Die Manatis fraßen zwar sowohl Süß- als auch Salzwasserpflanzen, aber weideten damals lediglich in den Flüssen und Mündungsgebieten Südamerikas. Heute hingegen lebt die eine Dugongart nur noch in warmen, seichten Gewässern des Indischen Ozeans und des Westpazifik; offensichtlich wurde die Gruppe im Gebiet des Atlantik – auch an der afrikanischen Westküste – vor ungefähr einer Million Jahren von den sich damals ausbreitenden Manatis der Neuen Welt verdrängt. (Zu der Zeit existierte die mittelamerikanische Landbrücke bereits.) Wie der Paläontologe Daryl P. Domning von der Howard-Universität in der Bundeshauptstadt Washington überzeugend darlegte, gewannen diese den Wettbewerb mit der konservativen Verwandtschaft wegen ihres fortschrittlicheren, hocheffektiven Kauapparates.
Den Manatis wachsen lebenslang neue Zähne nach, soviel immer sie benötigen. Zwar haben sie nur vordere und hintere Backenzähne, davon aber jeweils eine lange Reihe. Die vordersten, abgekauten fallen aus, und von hinten schieben neue nach – um etwa ein bis zwei Millimeter im Monat. Gleichzeitig baut sich der Knochen um die Zahnhöhlen immerfort um. So verfügen selbst die ältesten Tiere stets über junge, kräftige Mahlzähne.
Offenbar waren die Manatis während ihrer Evolution auf harte Pflanzennahrung angewiesen, welche die Zähne stark beanspruchte, und sie haben sich daran angepaßt. Eine solche Herausforderung für Vegetarier stellten die echten Gräser dar, die sich verhältnismäßig spät mit den Savannen ausbreiteten. Wegen des hohen Kieselsäuregehalts schleifen sie Zähne wie Schmirgelpapier ab. Bei den Pferden entwickelten sich zum Schutz Backenzähne mit sehr hohen, besonders harten Kronen; für alle heutigen Rundschwanz-Seekühe, die sich ebenfalls zumeist von echten Gräsern ernähren, hat die Natur das Problem derart gelöst, daß sie fortlaufend ihr Gebiß verjüngen. Hingegen frißt der streng marine Dugong vorwiegend weichere Pflanzen. Wahrscheinlich taten dies auch die frühen karibischen Gabelschwanz-Seekühe.
Nach Domnings Ansicht dürften echte Gräser schon bald nach ihrem Aufkommen im Miozän nach Südamerika vorgedrungen sein. Dann sank während der Vereisungen im Plio- und Pleistozän der Meeresspiegel. Durch den Klimawandel nahm die Erosion der Landoberfläche zu, so daß sich auch auf dem Seegras viel scheuernder Sand ablagerte, den die Tiere beim Fressen mit aufnahmen. Den Manatis mit ihrem leistungsfähigeren Gebiß machte dies weniger aus als den Dugongs; sie erweiterten ihre Futternische um die Seegräser und verdrängten in der Karibik und im Atlantik die Gabelschwanz-Sirenen.
Im Amazonasgebiet hatte es, als sich die Gebirge aufschoben, im späten Miozän vorübergehend ein geschlossenes Becken gegeben. Von den dort isolierten Rundschwanz-Sirenen entwickelte sich der heutige Amazonas- oder Fluß-Manati (Trichechus inunguis), die mit knapp drei Metern kleinste der heutigen Arten, deren Lebensraum noch jetzt diese Region ist.
Der Karibische oder Nagel-Manati (Trichechus manatus; er hat noch Reste von Hufnägeln) ist offensichtlich ein wenig veränderter Abkömmling küstenbewohnender südamerikanischer Formen aus der Zeit des Übergangs vom Plio- zum Pleistozän. Gegenwärtig werden zwei Unterarten unterschieden, eine bei den Antillen und die andere im Gebiet rund um Florida.
Eine ähnliche Form muß mit Meeresströmungen über den Atlantik nach Westafrika gelangt sein. Dies geschah erst in entwicklungsgeschichtlich jüngster Zeit, frühestens wohl im späten Pliozän, also vor wenigen Millionen Jahren. Von dieser Linie stammt der heutige Westafrikanische Manati (Trichechus senegalensis) ab.
Konfrontation mit dem Menschen
Manatis haben seit langem enge Berührung mit dem Menschen: Die speckgepolsterten Kolosse – ein besonders schweres Exemplar von Florida wog mehr als eineinhalb Tonnen – wurden seit jeher wegen ihres Fleisches, ihres Fettes und ihrer Haut gejagt. In Westafrika lockt man sie mit Maniok in Kastenfallen, ersticht sie mit Speeren von Stegen aus, fängt sie in Netzen, tötet sie mit beköderten Selbstschußgeräten, die Harpunen auslösen, oder schneidet ihnen bei Ebbe mit Zäunen den Rückweg aus den Weidegründen ab. Südamerikanische Indios legen zu gleichem Zweck bei hohem Wasserstand Baumstämme quer über Flußläufe.
Die Eingeborenen verbinden mit den friedlichen walzenförmigen Säugern, die oft gelassen an den Ufern auftauchen, Vorstellungen von Ungeheuern und binden sie in ihre Mythen ein. Die Malinesen etwa halten die Seekühe im Niger für böse Geister, und einige ältere Männer jedes Stammes hüten die Beschwörungsformeln, die beim Jagen und Abschlachten gesprochen werden müssen, um die Jäger vor dem Verrücktwerden oder vorzeitigem Tod zu bewahren. Das Fleisch eines erlegten Tieres wird gemäß dem sozialen Status verteilt, wobei wiederum besondere Vorschriften zu befolgen sind. Würde zum Beispiel eine Schwangere bestimmte Stücke verzehren, drohte ihrem Kind, daß es sich charakterlich schlecht entwickelt. Aber Haut und Fett lassen sich auch zu vielen Arzneien verarbeiten, und aus den Rippen bereitet man Heiltränke.
In Ecuador, im Quellgebiet des Amazonas, erzählte uns ein Schamane der Siona, wo die Seekühe der Legende nach herkommen: Ein Tapir hatte einen Gott heimtückisch überlistet und in eine Falle gelockt und setzte ihn den grausamen Angriffen von Piranhas aus. Aber der Gott entkam. Aus Rache verfluchte er eine Tochter des Tapirs – sie mußte von nun an im Wasser leben.
Die Menschen an den Küsten und Flüssen Mittelamerikas, des nordöstlichen Südamerika und der Karibik preisen das Fleisch der Manatis und die Medizin, die sie aus ihnen gewinnen. Eine Seekuh im Orinoco vom Einbaum aus zu harpunieren erfordert außerordentliche Gewandtheit und großen Mut; deshalb werden die winzigen Mittelohrknochen der Tiere als Amulette getragen, die vor dem Bösen und vor Krankheiten schützen. Bei den Piraoa in Venezuela dagegen ist die Jagd auf Seekühe und Flußdelphine tabu. Wer das Fleisch verzehrt, muß nach ihrem Glauben sterben, weil diese Tiere verhexte Menschen sind, die in Unterwasserstädten am Grunde des Orinoco wohnen.
Ein neues Handelsgut
Als erste Europäer, im Jahre 1493, bekamen Christoph Kolumbus und seine Crew in der Neuen Welt Manatis zu Gesicht. Sie hielten diese Lebewesen noch für Meerjungfrauen. Erst in den folgenden Jahrzehnten lernten die Eroberer sie näher kennen. Um sich vor den Armbrustgeschossen der Weißen zu schützen, benutzten die Indianer Schilde aus Seekuh-Haut.
Der englische Seeräuber William Dampier (1651 bis 1715) verpflegte seine Leute Ende des 17. Jahrhunderts mit Bootsladungen voll Manati-Fleisch, das er in Panama von den Miskitos erhielt. Später wurde das Fleisch auch kommerziell genutzt. Die Arbeiter an südamerikanischen Grenzposten verpflegten sich damit, und konserviert setzte man es auf fernen Märkten ab. Im 17. und 18. Jahrhundert schaffte man aus Guyana, Surinam und Brasilien ganze Schiffsladungen voll zu den Westindischen Inseln. Mit dem Export war erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts Schluß, als es nicht mehr genug Seekühe gab. In Brasilien waren Jagd und Fleischhandel trotzdem noch bis 1973 legal. In den Spitzenjahren vor 1960 sind im Amazonasgebiet jährlich wohl bis zu 7000 Tiere abgeschlachtet worden.
Unterdessen war das Überleben der Manatis auf andere Weise zunehmend gefährdet. Wie in den siebziger Jahren klar wurde, kommen immer mehr Tiere – wenn auch unbeabsichtigt – zivilisationsbedingt um. Seit die billigen synthetischen Wandnetze in den Tropen zum Fischen beliebt wurden, haben viele der Tiere sich darin verfangen und sind erstickt. Auch ihre Weidegründe verkommen, weil die Pflanzen im trüben, verschmutzten Wasser von Flüssen und Mündungsgebieten – eine Folge von Entwaldung und Bodenerosion – nicht mehr genügend Licht haben.
Besonders bedroht sind die Seekühe dort, wo die Menschen sich konzentrieren. So ist die Einwohnerzahl Floridas zwischen 1900 und 1980 von einer halben Million auf fast zehn Millionen gestiegen, und noch immer ziehen täglich schätzungsweise 800 bis 1000 Amerikaner in den Seniorenstaat; viele siedeln an der Küste in ehemaligen Feuchtgebieten, die nun drainiert und von sterilen Kanälen durchfurcht werden – komplett ist ein Haus erst mit Boot und Anschluß an das Wasserwegenetz. Die Wasserqualität hat sich indes so verschlechtert, daß etwa in Tampa Bay schon 80 Prozent der Seegrasweiden verschwunden sind. Die wenigen übrigen Tiere werden allzuleicht Opfer der Schrauben von Sport- und Fischerbooten, die den arglosen Riesen grausige Wunden schlagen. Mit der drastisch gestiegenen Zahl an registrierten Wasserfahrzeugen in den achtziger Jahren hat sich die Zahl der so umgekommenen Manatis verdoppelt (Bild 4).
Erste Forschungen
Es war offensichtlich, daß die amerikanischen Seekühe ohne Schutzmaßnahmen bald gänzlich ins Reich der Legende gehören würden. Allerdings wußte man noch vor wenigen Jahrzehnten so wenig über ihre Lebensgewohnheiten und ihre ökologischen Ansprüche, daß es fast unmöglich war, entsprechende Konzepte zu entwickeln. In den siebziger Jahren wurden dann durch die Verfügung der US-Regierung zum Schutz der Meeressäuger und die zum Schutz gefährdeter Arten Forschungen angestrengt, die sich gerade auf Florida konzentrierten.
In einem der Projekte seziert man systematisch angetriebene Kadaver, wobei frühere anatomische Erkenntnisse bestätigt und vertieft sowie neue darüber gewonnen wurden, wie die Rundschwanz-Seekühe an das Leben im Wasser angepaßt sind (Bild 3).
Wir erwähnten schon, daß ihr Gebiß für starke Abnutzung eingerichtet ist. Die Schwimmtiefe regulieren sie durch den Füllungsgrad der Lungen. Die beiden Lungenflügel bestehen nur aus je einem Lappen und erstrecken sich flach über der Leibeshöhle so weit nach hinten, daß das Tier im Wasser mühelos horizontal liegen kann. Als besondere Anpassung gegen den Auftrieb haben Manatis schwere, dichte Knochen; nur die Rückenwirbel enthalten etwas Mark zur Bildung von roten Blutkörperchen. Der Verdauungstrakt ist auffallend lang, besonders der Dickdarm, in dem Mikroorganismen die Zellen der pflanzlichen Nahrung aufschließen. In einer Aussackung des Magens, geschützt vor seinem hart scheuernden Inhalt, liegt eine Drüse mit spezialisierten sekretorischen Zellen.
Die großen, borstigen Lippenwülste eignen sich gut zum Abrupfen von Pflanzen, die sich die Tiere mit den langen, paddelförmigen Vorderflossen freßgerecht halten können. Auf den Flossen vermögen sie sich auch fast schwebend am Grund entlang zu bewegen. Aus den Wachstumsschichten von Strukturen im Ohrbereich ist zu schließen, daß Manatis etwa sechzig Jahre alt werden.
Ein Team um Catherine A. Beck vom Staatlichen Biologischen Dienst der USA in Gainesville (Florida) hat den Mageninhalt von Kadavern analysiert. Offenbar ernähren sich die Manatis vielseitig; sie fressen nicht nur die meisten der in ihrem Lebensraum vorkommenden Wasserpflanzen, sondern beispielsweise auch Eicheln von überhängenden Zweigen. Allerdings verschlucken sie zudem fast jeglichen Abfall, der ihnen unterkommt, sogar Plastikreste, Kondome, Angelschnüre und selbst Stahlhaken – mitunter war dies die Todesursache.
Seit den siebziger Jahren untersucht man zudem Manatis, die in Gefangenschaft gehalten werden. Verblüffend sind besonders die Befunde zum Energieumsatz. Die Stoffwechselrate eines Säugetieres steht in Relation zum Sauerstoffverbrauch und hängt vom Gewicht ab. Kleine Tiere benötigen in der Regel relativ mehr Energie als große, um eine gleichbleibende Körpertemperatur zu erhalten, weil bei ihnen das Verhältnis von Oberfläche (über die sie Wärme verlieren) zu Volumen ungünstiger ist. Ordnet man verschiedenste Arten von der Maus bis zum Elefanten entsprechend diesen Daten, nehmen die meisten Meeressäuger die zu erwartende Position ein. Die Manatis aber passen überhaupt nicht in das Schema, wie Blair Irvine vom amerikanischen Dienst für Fische und Wild sowie C. James Gallivan und Robin C. Best vom brasilianischen Nationalen Institut für Amazonas-Forschung in Manaus herausgefunden haben: Die Amazonas-Seekühe verbrauchen nur 36 Prozent der Energie, die man für Säuger dieser Größe veranschlagen würde; die von Florida kommen sogar mit lediglich 15 bis 22 Prozent der zu erwartenden Menge aus.
Wozu könnte dies gut sein? Ein offenkundiger Nutzen, der zumindest für Amazonas-Manatis zutrifft, ist, daß die Tiere notfalls außergewöhnlich lange hungern können, was in ihrem Lebensraum unerläßlich ist.
Wie wohl schon früher in der Evolution der Sirenen überfluten der Strom und seine Nebenflüsse alljährlich weite Gebiete, wobei riesige treibende Wiesen aus Gras und anderer Vegetation entstehen (Spektrum der Wissenschaft, Mai 1993, Seite 50). Die Manatis schwimmen dann zwischen den noch herausragenden Baumkronen herum und äsen. Wenn das Wasser wieder abfließt, kann es vorkommen, daß sie monatelang in Seen oder Tümpeln gefangen sind, die bald kaum mehr Nahrung bieten. Ähnlich wie Säuger kälterer Zonen, die sich zum Winter Fettpolster zulegen, fressen sie sich in der Zeit des Überflusses reichlich Energiereserven an. Best berechnete, daß der Amazonas-Manati fast sieben Monate lang fastend durchhält.
Über ähnliche Anpassungen der anderen Arten wissen wir noch nichts. Hingegen ist für die Populationen bei Florida gut belegt, daß der niedrige Stoffwechsel ihre Verbreitung beschränkt. Die nördlichste Region, in der sie noch ganzjährig vorkommen, ist die Küste Georgias. Wegen des trägen Stoffwechsels können sie nicht rasch genug ausreichend Energie umsetzen, um die hohen Wärmeverluste in kalten Gewässern auszugleichen; deshalb sind sie anscheinend auf subtropisches Klima angewiesen. Die Sirenen haben zeit ihrer Evolution fast alle in warmen Regionen gelebt. Eine der Ausnahmen war die Stellersche Seekuh des Bering-Meeres.
Beinahe jedes Jahr werden Manatis jedoch auch nördlich ihres eigentlichen Verbreitungsgebiets gesichtet, einzelne selbst noch im Unterlauf des Potomac. Ich vermute, daß die angeblichen Seeungeheuer, die in der Chesapeake-Bucht in den siebziger und achtziger Jahren gesehen wurden, verirrte Seekühe aus Florida waren. Diese Sommer-Vagabunden ziehen im Herbst wieder gen Süden; wenn nicht, gehen sie ein, und die Kadaver werden im späteren Winter oft bis hinauf nach Virginia angespült. Ihre Fettablagerungen sind dann aufgezehrt, und an den verendeten Tieren finden sich auch weitere Anzeichen für Unterkühlung.
Sogar die Wintertemperaturen Floridas setzen den Manatis zu. Sie sammeln sich dann entweder an der wärmeren Südspitze der Halbinsel oder suchen laue Wasserstellen auf, wie sie durch artesische Quellen entstehen – etwa bei Crystal River am Golf von Mexiko – oder durch die Abwässer von Fabriken und Kraftwerken; in der kältesten Zeit können sich dort jeweils einige hundert Tiere einfinden. Diese Massenvorkommen boten jahrelang den einzigen Einblick in das Leben von Manatis in Freiheit.
Satellitenverfolgung
Anfang der fünfziger Jahre bemerkte Joseph C. Moore vom Everglades-Nationalpark in Florida, daß Individuen sich an Narben unterscheiden lassen, die ihnen meist Schiffsschrauben zugefügt haben. So konnte er erste grundlegende Verhaltensbeobachtungen machen. Daran schlossen in den sechziger Jahren die Studien von Daniel Hartmann an, der damals noch an der Cornell-Universität in Ithaca (New York) studierte. Er spürte bei Crystal River einzelnen Weibchen und ihren Jungen nach. Heute führt der Staatliche Biologische Dienst der USA ein Computerverzeichnis, in dem die Narbenmuster von Hunderten von Florida-Manatis aus dem gesamten Verbreitungsgebiet niedergelegt sind.
Inzwischen hat man Dutzende von Weibchen mindestens zehn Jahre lang observieren können, manche sogar zwei oder zweieinhalb Jahrzehnte, und Wichtiges über die Fortpflanzung erfahren. Schon mit drei Jahren werden sie geschlechtsreif und können dann mehr als 20 Jahre lang Junge bekommen. Sie haben alle zwei bis drei Jahre ein Kalb, gelegentlich auch Zwillinge.
Die sozialen Kontakte von erwachsenen Tieren scheinen vorwiegend auf die Fortpflanzung bezogen zu sein, ansonsten sind Manatis ausgesprochene Einzelgänger. Ein brünstiges Weibchen aber ist bald von einer Horde drängender, rempelnder Bullen umringt – meist kämpfen mindestens sechs, mitunter zwanzig, um den Vortritt, von denen offenbar mehrere zur Paarung kommen. Rund ein Jahr später sucht das Weibchen sich zum Werfen eine abgeschiedene Gegend. Mindestens zwölf Monate lang erhält das Kalb Milch. Mutter und Kind halten während dieser Zeit durch leises Quieken Kontakt.
Einige Weibchen hat man bis zu einem Jahr nach der Entwöhnung mit dem Jungen zusammen gesehen. Es ist gut möglich, daß sie sich noch viel länger erkennen. Manchmal nimmt ein Muttertier sogar ein fremdes Kalb an und nährt es. Gelegentlich nämlich schließen sich Tiere vorübergehend zu lockeren Verbänden zusammen, wobei es beliebig zu sein scheint, wer dazustößt oder wieder seiner Wege zieht.
Im Jahre 1978 wurden endlich für die Gebiete, in die sich winters besonders viele Tiere flüchten, Geschwindigkeitsbegrenzungen für den Bootsverkehr eingeführt. Aber in der übrigen Zeit und auch andernorts fielen den Schiffsschrauben immer noch sehr viele Tiere zum Opfer. Für sinnvolle, weitreichende Schutzbestimmungen benötigte man mehr Informationen über die Verteilung der Individuen und die Wanderungen. Solche Daten lassen sich mit applizierten Sendern gewinnen. Seit den achtziger Jahren ist die Technik so ausgefeilt, daß man einzelne Seekühe selbst auf weiten Wanderrouten radiotelemetrisch verfolgen kann.
Die ersten Messungen wurden in den siebziger Jahren in Binnengewässern Brasiliens und Floridas unternommen. Der Sender hing an einem um die Taille zwischen Schwanz und Rumpf gelegten Gürtel, der allmählich verrottete und nach Ende des Projekts abfiel. An der Küste ließ sich das Verfahren allerdings nicht einsetzen, weil Salzwasser die Übertragung von Radiowellen behindert.
Um Wanderungen im Meer aufzeichnen zu können, entwickelten deshalb meine Mitarbeiter Galen B. Rathbun, James P. Reid und James A. Powell einen schwimmenden Sender, der mit einer zwei Meter langen flexiblen Nylonschnur am Haltegürtel befestigt ist. Die Leine hat Drehgelenke, um Verspannungen gering zu halten, und Verbindungsglieder, die bei starkem Zug reißen, so daß die Tiere leicht freikommen, falls das Gerät sich irgendwo verfängt. Der Sender ist so in den Schwimmkörper eingebaut, daß er bei den meisten Aktivitäten der Manatis, die sich mit Vorliebe im Seichten oder an der Oberfläche aufhalten, aus dem Wasser ragt. Vom Ufer und von Booten aus können wir die Tiere noch in rund 15, von Sportflugzeugen aus sogar in nahezu 50 Kilometer Entfernung orten.
Dann löste Bruce Mate von der Staatsuniversität von Oregon in Corvallis trickreich ein viel schwierigeres Problem. Er wollte Wale auf offener See verfolgen, und er versah sie mit Sendern, die zur Ortung von Wetterballons und im Meer treibenden Instrumentenkapseln entwickelt worden waren. Ihre Ultrahochfrequenz-Signale werden von Satelliten aufgefangen, so daß weiträumige Beobachtungen möglich sind. Der Wissenschaftler kann sich die Daten von der Empfangszentrale per Telephonleitung auf seinen Tischcomputer übermitteln lassen. Das funktionierte auch bei den Walen; spätestens wenige Stunden nach Signaleingang beim Satelliten kannte Mate ihre jeweilige Position (Kasten auf Seite 86).
Dieses Verfahren machten auch wir uns zunutze. Der erste Manati mit einem solchen Sender schwamm 1985 vor Florida im Golf von Mexiko. Die Signale vermitteln Satelliten der amerikanischen National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA). Seitdem haben wir mehr als 100 Seekühe auf ihrem Weg verfolgt, die meisten über Satellit. Das Ministerium für Umweltschutz von Florida hat die Methode übernommen; auch wird sie in Puerto Rico angewandt und ebenso in Australien, um Dugongs zu beobachten.
Außer der Position des Tieres – in einem Radius von 100 Metern – codiert das Signal auch die Wassertemperatur und zeigt an, wie oft der Sender ruckt oder kippelt, so daß man auf die Aktivität des Trägers schließen kann. Die Daten von Florida werden mit Karten vom Meeresforschungsinstitut des Ministeriums für Umweltschutz in St. Petersburg verglichen, auf denen Seegraswiesen und andere Ressourcen für Manatis sowie warme Wasserzonen verzeichnet sind.
Bislang hatte man geglaubt, die Seekühe Floridas vagabundierten recht langsam umher. Bei der Peilung stellte sich aber heraus, daß sie ziemlich rasch vorankommen – manchmal legen sie 50 Kilometer am Tag zurück – und die jahreszeitlichen Wanderungen durchaus zielgerichtet sein können. Zum Beispiel weiden manche Weibchen jeden Sommer ungefähr in derselben Gegend und ziehen Winter für Winter zu denselben warmen Stellen, und der Nachwuchs scheint diese Gewohnheiten zu übernehmen.
Im allgemeinen sind Manatis in der Wahl ihres Habitats allerdings sehr flexibel. Wir haben Individuen beobachtet, die vom südlichen Georgia und nordöstlichen Florida aus in nicht einmal fünf Tagen zum Merritt-Island-Nationalpark an der Ostküste Floridas auf der Höhe von Orlando schwammen. Sie wechselten also aus einer Marsch – wo die Hauptnahrung salztolerante Gräser sind, die bei Flut unter Wasser stehen und nur dann für die Tiere erreichbar sind – in ein Gebiet, wo sie fast nur typische Wasserpflanzen finden. Diese Gegend ist ein Paradies für Watvögel, Meeresschildkröten, Tümmler und Alligatoren (die manchmal die Sender zu packen kriegen und abbrechen). Nach diesem Aufenthalt ziehen manche Manatis noch weiter gen Süden und verbringen die kältesten Wochen an der Küste vor Fort Lauderdale oder Miami.
Unsichere Zukunft
Daß die Seekühe in Florida anscheinend mit vielen ökologischen Bedingungen zurechtkommen, könnte verhalten optimistisch stimmen – sofern es gelänge, sie wirksam zu schützen. Sie vermehren sich jedenfalls genug; und behördliche Auflagen für den Bootsverkehr sollten auch helfen.
Aus wiederholten Beobachtungen von bekannten Individuen haben wir mit neuen statistischen Verfahren hochgerechnet, wie viele erwachsene Tiere jedes Jahr überleben. Die Zahlen sind für Gebiete wie bei Crystal River, wo seit längerem strenge Schutzbestimmungen gelten, ermutigend; die dortige Population, die vor 20 Jahren ungefähr 60 Tiere betrug, ist auf fast 300 angewachsen. Anderswo sieht es weniger günstig aus.
Im letzten Winter hat man aus der Luft rund um ganz Florida 1856 Manatis gezählt. Wie viele Tiere übersehen wurden, ist nicht abzuschätzen. Somit bleibt fraglich, ob die Population insgesamt wächst. Klar ist aber, daß noch verstärkt energische Anstrengungen unternommen werden müssen, sie und ihre Existenzgrundlagen zu schonen. Bleiben unvorhersehbare Katastrophen aus, könnten die Seekühe Floridas eines der bisher wenigen Beispiele für gelungenen Artenschutz werden.
Was Tiere letztlich rettet, ist öffentlich wirksame Fürsprache. Im Falle der Manatis läßt hoffen, daß sie mittlerweile geradezu populär sind – selbst in der Klasse meiner kleinen Tochter ist auf der Tafel mit dem Alphabet neben den Buchstaben "M" ein Manati gemalt worden.
Allerdings ist die Situation anderwärts nicht so günstig. Die meisten der gut 40 Länder, in denen Rundschwanz-Seekühe leben, schützen sie zwar offiziell, sorgen aber nicht hinreichend dafür, daß die Bestimmungen eingehalten werden; und weit mehr als bisher müßte für den Erhalt ihrer Habitate getan werden.
Immerhin hat Guatemala schon vor 30 Jahren das weltweit erste Reservat für Manatis eingerichtet. Zwar bekommt man die heimlichen Tiere auch dort höchst selten zu Gesicht, aber das Projekt wird fortgeführt. Sogar entlang der panamaischen Nordküste, wo Dampier einst seine Mannschaften mit Proviant eindeckte, leben heute noch Restbestände von Seekühen in den Flüssen der Region um Bocas del Toro, und lokale Naturschutzverbände bemühen sich um sie. So schwierig es auch ist – überall in den Tropen und Subtropen setzt sich eine neue Generation von Biologen für die Umwelt ein, und manche engagieren sich besonders auch für die Seekühe. Gerade dieses Frühjahr fand an der Universität von Florida in Gainesville der erste internationale Kongreß über Manatis und Dugongs statt, wo solcher Enthusiasmus zu spüren war.
Die Warauno, die ihr Territorium am Orinoco-Delta in Venezuela haben, nennen die Milchstraße "Straße der Seekuh". Ich lasse mir die Hoffnung nicht nehmen, daß die Sirenen weiterhin ihre Unterwasserstraßen in den Meeresbuchten und Flußmündungen bevölkern und künftige Generationen zum Staunen bringen.
Literaturhinweise
- Ecology and Behavior of the Manatee (Trichechus manatus) in Florida. Von Daniel S. Hartman in: American Society of Mammalogists, Special Publication, Heft 5, 27. Juni 1979.
– Distribution, Status, and Biogeography of the West Indian Manatee. Von L.W. Lefebvre, T.J. O'Shea, G.B. Rathbun und R.C. Best in: The Biogeography of the West Indies: Past, Present, and Future. Herausgegeben von C.A. Woods. Sandhill Crane Press, 1989.
– Manatees and Dugongs. Von J.E. Reynolds III and D.K. Odell in: Facts on File, 1991.
– Waterborne Recreation and the Florida Manatee. Von T.J. O'Shea in: Wildlife and Recreationists: Coexistence through Management and Research. Herausgegeben von Richard L. Knight und Kevin J. Gutzwiller. Island Press, Covelo, Calif. (im Druck).
Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1994, Seite 82
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