Mangelernährung, Armut und geistige Entwicklung
Unzureichende Nahrung im Kindesalter kann die kognitiven Leistungen Heranwachsender dauerhaft einschränken. Daran ist nicht unbedingt eine irreversible Hirnschädigung schuld, vielmehr ein kompliziertes Ursachengeflecht. Dessen unheilvolle Wirkung läßt sich denn auch durch alsbaldige ausgewogene Ernährung und intellektuelle Förderung mildern.
Schockierend viele Kinder bekommen nicht genug zu essen: derzeit weltweit fast 195 Millionen im Alter unter fünf Jahren. Am augenfälligsten ist dieses Elend in den Entwicklungsländern, wo es oft dramatische Formen annimmt; Bilder von abgezehrten Leibern in Hunger- oder Krisenregionen sind uns auf tragische Weise vertraut geworden. Doch häufiger ist der Mangel weniger drastisch – gerade auch in Industrieländern. In den USA etwa erhielten 1992 schätzungsweise zwölf Millionen Kinder deutlich weniger Nährstoffe, als die Nationale Akademie der Wissenschaften für ausreichend hält.
Unterernährung hat für Kinder schlimme, oft bleibende Folgen. Sie magern nicht nur extrem ab, sondern werden auch anfälliger für Infektionen; im schlimmsten Falle sterben sie gar. Besonders gefährdet sind sie in den ersten Lebensjahren, wenn der sich rasch weiter aufbauende Körper am dringlichsten regelmäßige Mahlzeiten mit ausreichenden Nährstoffen (Proteinen, Fetten und Kohlenhydraten) sowie Salzen, Vitaminen und Spurenstoffen, dazu auch stets genügend Flüssigkeit braucht.
Außerdem kann eine in Menge und Zusammensetzung unzulängliche Kost die kognitive Entwicklung (die der Denk-, Wahrnehmungs- und Lernleistungen) hemmen – nicht ausschließlich dadurch, wie man früher meinte, daß das Gehirn dauerhaft strukturell geschädigt wird, sondern auf subtilere und komplexere Weise. Deshalb lassen sich auch bereits bestehende Entwicklungsdefizite teilweise kompensieren. Diese neuen Erkenntnisse haben wichtige Konsequenzen für die Förderung unterprivilegierter Kinder.
Wissenschaftlich wurde der Zusammenhang zwischen Mangelernährung und geistiger Leistung erstmals zu Beginn dieses Jahrhunderts untersucht, aber erst Jahrzehnte später wandte man sich dem Problem ernsthaft zu. Als sich in den sechziger Jahren die Anzeichen für Fehlernährungen von Kindern und Jugendlichen in den Industrienationen mehrten und zugleich die Völkergemeinschaft schwere Nahrungsmängel in den Entwicklungsländern deutlicher wahrnahm, begann man auch, Langzeitauswirkungen zu erforschen. In Lateinamerika, Afrika und den USA schnitten permanent mangelernährte Kinder bei Intelligenztests schlechter ab als ausreichend ernährte mit gleichem sozioökonomischem Status. Diese Erhebungen hatten zwar gewisse methodische Schwächen, aber später wurde zweifelsfrei nachgewiesen, daß davon, was und wieviel Kinder zu essen bekommen, ihre langfristige intellektuelle Entwickung mit abhängt (Bild 1).
Das monokausale Modell
Viele Jahre lang unterstellte man, schlechte Ernährung sei hauptsächlich ein Problem in der Zeit der Schwangerschaft (weil ein ausgemergelter mütterlicher Organismus den Fötus nicht ausreichend versorgen kann) und bis zum Ende des zweiten Lebensjahres, während das Gehirn etwa 80 Prozent seiner Endgröße erreicht. In dieser kritischen Phase, so meinte man, bremse jede Art von Mangelernährung die Hirnentwicklung und verursache dadurch schweren dauerhaften Schaden.
Doch wie sich nach und nach herausstellte, ist dieses monokausale Modell allzu simpel. Insbesondere wurden die Effekte in den ersten beiden Lebensjahren überschätzt. Das Hirnwachstum mag dann gehemmt sein; mit angemessener Ernährung etwa ab einem Alter von drei Jahren kann es sich aber wieder fast normalisieren. Umgekehrt treten Hirnschädigungen mitunter noch dann auf, wenn das Kind erst nach den ersten beiden Lebensjahren unter Nahrungsmangel zu leiden beginnt – ein Zeichen dafür, wie wichtig adäquate Ernährung während der gesamten Kindheit für die kognitive Entwicklung ist.
Außerdem vermag das monokausale Modell nicht ausreichend zu erklären, warum weniger krasse Mängel die intellektuellen Fähigkeiten unterschiedlich beeinträchtigen. In den sechziger Jahren fand man aber, daß Kinder aus mittleren oder oberen Einkommensschichten, die aus medizinischen Gründen etwas unterernährt waren, nicht im selben Maße geistig zurückblieben wie ebenso geringfügig unterernährte Kinder aus verarmten Milieus. Würde sich ein solches mäßiges Hungern allein auf die Hirnstruktur auswirken, hätten beide Gruppen im Test gleich schlecht abschneiden müssen. Offensichtlich vermögen Umweltfaktoren wie sozialer Status der Familie und Erziehung die schädlichen Folgen schlechter Ernährung je nachdem zu mildern oder zu verschlimmern.
Ein multikausaler Ansatz
Dem gingen in den siebziger Jahren David A. Levitsky und Richard H. Barnes von der Cornell-Universität in Ithaca (US-Bundesstaat New York) in Tierversuchen nach. Unterernährte Nager, so folgerten sie, schnitten bei Orientierungstests in Labyrinthen nicht etwa aufgrund einer Hirnschädigung schlechter ab, sondern weil sie zu geschwächt waren, um sich überhaupt mit Artgenossen und den Objekten ihrer Umgebung zu beschäftigen; außerdem verhätschelten die Muttertiere solche Kümmerlinge, hinderten sie also auch durch ihre übermäßige Fürsorge in ihrer Entwicklung zur Selbständigkeit.
Auf den Menschen übertragen, eröffnete dieser Befund eine optimistischere Perspektive: Wenn verminderte Interaktion mitverantwortlich für kognitive Defizite ist, sollten sich diese durch soziale und intellektuelle Hilfsmaßnahmen einigermaßen kompensieren lassen.
So überzeugend diese Idee wirkte – sie war nicht an Menschen überprüft. Erst eine neue Untersuchung von einem von uns (Pollitt) erhärtete den multikausalen Erklärungsansatz; beteiligt waren Reynaldo Martorell von der Emory-Universität in Atlanta (Georgia), Kathleen S. Gorman von der Universität von Vermont in Burlington, Patrice L. Engle von der Polytechnischen Staatsuniversität von Kalifornien in San Luis Obispo sowie Juan A. Rivera vom Ernährungswissenschaftlichen Institut von Mittelamerika und Panama (Instituto de Nutrición de Centro América y Panamá, INCAP) in Guatemala-Stadt.
Das umfangreiche Projekt fußte auf einer früheren Langzeitstudie mit mehr als 2000 schwangeren Frauen und Kindern bis zum Alter von sieben Jahren in Guatemala. Zwischen 1969 und 1977 hatte das INCAP mit Unterstützung verschiedener US-Regierungsstellen und privater Stiftungen zu klären gesucht, wie sich ernährungsbedingten Gesundheitsschäden am besten vorbeugen lasse. Die Annahme war, der wichtigste Nährstoff, der in Entwicklungsländern fehle, sei Protein; deshalb erhielten in zwei Dörfern die Mütter und Kinder acht Jahre lang Atole, eine proteinreiche Maisgrütze; die Kontrollgruppe in zwei anderen Orten bekam Fresco, ein Süßgetränk mit Fruchtgeschmack, aber ohne Protein und mit nur einem Drittel so viel Kalorien wie Atole. Beide Nahrungsmittel enthielten zudem Vitamine und Mineralien.
Den regelmäßigen medizinischen Untersuchungen zufolge verbesserten beide Zusätze die Gesundheit der Kinder, aber Atole wirkte stärker. So sank die Kindersterblichkeit in den Dörfern, in denen die Maisgrütze ausgeteilt wurde, um 69, in den anderen beiden nur um 24 Prozent.
In der 1988 und 1989 durchgeführten Nachfolgestudie wollten wir feststellen, ob und wie die Zusatznahrung die intellektuelle Entwicklung langfristig beeinflußt hatte. Mehr als 70 Prozent der nun zwischen 11 und 27 Jahre alten Teilnehmer des INCAP-Projekts waren zur Mitarbeit bereit. Insbesondere konzentrierten wir uns auf die rund 600 Jugendlichen, deren Mütter während der Schwangerschaft und die selber in den ersten beiden Lebensjahren Atole oder Fresco bekommen hatten. Wir machten mit ihnen nun Tests zur Rechtschreibung, zum Wortschatz und Leseverständnis und prüften ihre Allgemeinbildung; außerdem absolvierten sie einen Rechentest und einen nonverbalen Standard-Intelligenztest. Dann bestimmten wir, wie Erziehung sowie wirtschaftliche und gesellschaftliche Umstände (Qualität der Wohnung, Beruf des Vaters und Ausbildung der Mutter) mit den Ergebnissen korrelierten.
Die Probanden, die in frühester Kindheit zusätzlich Protein erhalten hatten, schnitten bei den meisten Tests deutlich besser ab. Den stärksten Effekt hatte Atole bei den Ärmsten der Armen: Sie bestanden die Tests ebenso gut wie die privilegierteren Altersgenossen im selben Dorf (siehe Kasten auf Seite 59).
Freilich waren alle untersuchten Jugendlichen in großer Armut aufgewachsen und erreichten nicht das Leistungsniveau von Gleichaltrigen aus dem Mittelstand in besseren Wohngegenden Guatemalas. Mithin vermag angemessene Ernährung allein die durch Armut bedingte Behinderung der intellektuellen Entwicklung ein wenig, aber nicht völlig auszugleichen.
Immerhin schien zusätzliches Protein den Nutzen der Schulbildung verstärkt zu haben: Mit jedem Jahr wuchsen die Leistungsunterschiede zwischen den Jugendlichen, die Atole, und denen, die lediglich Fresco bekommen hatten. Außerdem wiesen ein von mir (Pollitt) geleitetes Team in einer Studie in Peru und Sally Grantham-McGregor von der Universität der Westindischen Inseln in Bridgetown auf Barbados in einer anderen Untersuchung auf Jamaika nach, daß regelmäßiges Frühstücken vor der ersten Schulstunde die Lernfähigkeit fördert – vor allem bei Kindern, die nahezu unterernährt sind.
Langzeiteffekte der Ernährung auf die geistige Kapazität sind wohl größtenteils indirekter Art. Zum Beispiel wuchsen die Jugendlichen, die beim INCAP- Projekt in der ersten Lebensphase nur Fresco bekommen hatten, langsamer und erholten sich schwerer von Infektionen. Deswegen lernten sie durchweg auch etwas später krabbeln und laufen als die mit Atole gefütterten Kinder. So ist zu vermuten, daß dadurch der Erwerb kognitiver Fähigkeiten, die sich im Umgang mit Menschen und Dingen herausbilden, verzögert wurde.
Kinder, die für ihr Alter besonders klein und schmächtig sind, werden auch von Erwachsenen behandelt, als wären sie jünger. Sie bleiben also in ihrer geistigen Entwicklung unterfordert, erwerben einen geringeren Wortschatz, weil sie nicht mitreden dürfen, und sind länger unselbständig. Zwar ist nicht auszuschließen, daß sie von Mangel- und Unterernährung eine gewisse Hirnschädigung davontragen; doch die Befunde unserer Nachfolgestudie zum INCAP-Projekt sprechen dafür, daß insbesondere das soziale Umfeld wichtig ist.
Unsere Ergebnisse stimmen zudem mit der gängigsten Vorstellung vom Zusammenhang zwischen Ernährung, häuslichen Verhältnissen und Bildungsmöglichkeiten überein. Ein gesundes, wohlgenährtes Kind vermag sich gewiß reger zu tummeln, um Anregungen zu folgen, aber eine karge Umwelt bietet oft wenig Anreize dafür; und obwohl die Schule der natürlichen Neugier und dem Wissensdrang des Kindes entgegenkommt, kann früh erlittener Mangel ihm den Elan nehmen. Vor allem Fehlernährung, so demonstriert die Studie, schmälert auf diese Weise die intellektuellen Leistungen bis ins Erwachsenenalter.
Bei dem INCAP-Projekt sollte speziell der Nutzen von Protein für die körperliche Entwicklung untersucht werden. Unsere darauf aufbauende Studie erwies, wie wichtig es auch für die intellektuelle Reifung ist. Die Ergänzungskost enthielt indes außerdem Kohlenhydrate, Vitamine und Mineralien; darum müßte man eigentlich deren Effekte gleichfalls berücksichtigen – das war aber, weil außer Atole nur ein weiteres Präparat getestet wurde, kaum möglich.
Gewisse Anhaltspunkte ergeben sich jedoch aus anderen Untersuchungen, zum Beispiel aus der von Pollitts Team auf West-Java: Die Forscher versorgten 12 bis 18 Monate alte Kleinkinder, die an Eisenmangel-Anämie litten, mit Eisenpräparaten. Daraufhin verbesserte sich, wie spätere Tests erwiesen, ihre geistige und motorische Leistung erheblich. Allerdings macht eine Eisenmangel-Anämie auch empfindlicher für Bleivergiftung, die wiederum besondere neuronale Schädigungen verursacht und so ihrerseits die kognitive Entwicklung stört. Folglich sind Unterschicht-Kinder doppelt gefährdet: Sie haben ein höheres Risiko, durch einseitige, mineralarme Kost anämisch zu werden, und leben häufiger auf bleiverseuchtem Gelände.
Gegenmaßnahmen und Vorsorge
Aufgrund all dieser neueren Erkenntnisse schlägt einer von uns (Brown) zusammen mit vielen anderen Fachleuten vor, Hilfe entsprechend auszurichten: Wenn schon die sozioökonomischen Verhältnisse sich schwerlich ändern lassen, muß man wenigstens für angemessene Nahrung in frühester Kindheit und danach sorgen, um die durch Armut verursachten kognitiven Defizite zu mildern (siehe Kasten auf Seite 61). Wo immer möglich sollten selbstverständlich Eltern oder andere Bezugspersonen ermuntert und angeleitet werden, die sozialen Fähigkeiten des Kindes zu fördern. Neue Studien haben erwiesen, daß bessere Erziehungsangebote in ärmlichen Gemeinden oft manche Probleme mildern, die von früher Mangelernährung herrühren.
Deutliche Erfolge zeitigen freilich nur umfassende und langfristige Maßnahmen. Die meisten unterernährten Kinder können keine ordentliche Schule besuchen und werden, wenn sie erkranken, oft nur schlecht oder gar nicht medizinisch versorgt; selten haben die Eltern feste und ausreichend entlohnte Arbeit.
Den Folgen frühkindlicher Fehl- und Mangelernährung vorzubeugen ist sicherlich die beste Strategie – nicht nur aus moralischen, sondern gerade auch aus wirtschaftlichen Gründen. Die immensen Ausgaben für das Bildungswesen, die reiche Nationen für sich und über die Entwicklungshilfe für die Dritte Welt aufbringen, sind großenteils verschwendet, wenn durch Fehlernährung intellektuell zurückgebliebene Kinder zur Schule kommen. Ernährungsprogramme und breit angelegte Begleitmaßnahmen müssen als eminent wichtige Zukunftsinvestition anerkannt werden. Sind viele junge Menschen in ihrer Lernfähigkeit beeinträchtigt, bleibt nicht nur ihnen selbst Lebensqualität vorenthalten – die Konkurrenz- und Überlebensfähigkeit der ganzen Gesellschaft steht dann auf dem Spiel.
Literaturhinweise
- Nutrition and Behavior. Herausgegeben von J.R. Galler. Plenum Press, 1984.
– Growth and Nutritional Requirements of Children. Von P. M. Queen und R. R. Henry in: Pedriatric Nutrition. Herausgegeben von R. J. Grand und anderen. Butterworth, 1987.
– The Effects of Improved Nutrition in Early Childhood: The Institute of Nutrition of Central America and Panama (INCAP) Follow-up Study. Herausgegeben von Reynaldo Martorell und Nevin S. Scrimshaw. Ergänzungsheft zu: Journal of Nutrition, Band 125, Heft 4S, April 1995.
– The Relationship between Undernutrition and Behavioral Development in Children. Herausgegeben von E. Pollitt. Ergänzungsheft zu: Journal of Nutrition, Band 125, Heft 8S, August 1995.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1996, Seite 56
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