Massenimpfung mit Nahrungsmitteln?
Kürzlich konnten genmanipulierte Pflanzen erzeugt werden, deren Verzehr gegen Krankheitserreger immunisiert.
Generationen von Schulkindern haben unter dem Motto "Schluckimpfung ist süß, Kinderlähmung ist grausam" schon frühzeitig das Prinzip der aktiven Immunisierung am eigenen Leib erfahren. Man nimmt eine harmlose Variante oder eine charakteristische Oberflächenstruktur des Krankheitserregers, führt sie dem menschlichen Organismus zu und läßt das Immunsystem am ungefährlichen Abbild seines Gegenspielers für den Ernstfall trainieren. Nach wenigen Wochen steht so eine hochwirksame Abwehrwaffe bereit: Spezifische Antikörper (Immunglobuline) sorgen dafür, daß der Erreger nach dem Eintritt in den Körper umgehend außer Gefecht gesetzt wird.
Aber trotz der einfachen Vorgehensweise und der Vielzahl von Seren werden breite Bevölkerungsschichten gerade dort immer noch zu selten frühzeitig geimpft, wo aus klimatischen und hygienischen Gründen Krankheitserreger besonders verbreitet sind (Spektrum der Wissenschaft, Januar 1989, Seite 114). Viele unterentwickelte Länder können sich selbst eine so elementare Gesundheitsvorsorge nicht leisten. Außerdem fehlt in ländlichen Regionen der Dritten Welt oft die medizinische Infrastruktur, um empfindliche Impfstoffe zu verteilen und zu verabreichen.
Bei der Suche nach Lösungen für dieses Problem liegt es nahe, sich der Möglichkeiten der modernen Gentechnik zu bedienen. Immerhin tut man das schon seit längerem bei der Herstellung von Vakzinen (Spektrum der Wissenschaft, April 1983, Seite 78). Dazu wird das genetische Informationsmaterial für besonders prägnante Oberflächenmoleküle oder für gefährliche Eiweißgifte von dem Pathogen auf harmlose Mikroorganismen übertragen. Aus Großkulturen dieser transgenen Bakterien kann man dann das gewünschte Molekül in ausreichender Menge isolieren, ohne befürchten zu müssen, daß infektiöse Reste des Krankheitserregers das Präparat verunreinigen. Diese saubere und ergiebige Methode zur Impfstoffgewinnung ist allerdings mit erheblichen Kosten verbunden, da die Vermehrung der gentechnisch manipulierten Mikroben einen hohen apparativen Aufwand erfordert.
Ließe man die Impfstoffe statt von Bakterien von Pflanzen herstellen, entfiele das Anlegen einer Großkultur. Dem steht allerdings entgegen, daß sich fremde Gene in Pfanzen mit ihrer undurchlässigen Zellwand sehr viel schlechter einführen lassen als in Mikroben. Außerdem ist bei einem komplizierten höheren Organismus, der sich aus vielen Zellen mit unterschiedlichen Funktionen zusammensetzt, weitaus schwerer zu erreichen, daß ein eingeführtes Gen in dem gewünschten Gewebe auch wirklich in das zugehörige Protein umgesetzt wird.
Doch vor einem Jahr haben es Charles Arntzen und seine Mitarbeiter an der Texas-A&M-Universität in Houston tatsächlich geschafft, die Erbinformation für einen wichtigen Teil des hitzeempfindlichen Enterotoxins, welches aus dem ansonsten harmlosen Darmbakterien Escherichia coli einen ernstzunehmenden Krankheitserreger macht, aus dem Mikroorganismus auf Tabakpflanzen und Kartoffeln zu übertragen und die Pflanzen so quasi zu Impfstoffproduzenten umzufunktionieren ("Science", Band 268, Seite 714). War dies bereits ein großer Erfolg, so verfolgten die Wissenschaftler aber noch weiterreichende Absichten: Sollte es nicht möglich sein, die Pflanzen außer als Fabrikanten zugleich auch als Darreichungsform des Impfstoffs zu verwenden? Dann brauchte man ihn nicht einmal mehr zu isolieren.
Dies ist keineswegs selbstverständlich, weil ein Protein normalerweise nur dann von der Körperabwehr registriert und bekämpft wird, wenn es mit Immunzellen in Berührung kommt, was normalerweise im Blut geschieht. Ein Eiweißstoff in der Nahrung wird jedoch vom Verdauungsapparat in seine Bestandteile zerlegt, und nur diese können durch die Darmwand ins Blut gelangen. Allerdings beweist das Auftreten von Lebensmittelallergien, daß Inhaltsstoffe der Nahrung in bestimmten Regionen des Magen-Darm-Traktes auch direkt mit dem Immunsystem in Kontakt treten und zum Teil heftige Immunreaktionen auslösen können.
Um zu testen, ob eine Immunisierung auf diesem Wege möglich ist, mischten die Forscher Mäusen regelmäßig Extrakte aus den Blättern der transgenen Tabakpflanzen ins Futter oder gaben ihnen mehrfach rohe Stücke der Kartoffeln. Tatsächlich ließen sich nach etwa einem Monat im Blut und auf der Schleimhaut der Tiere spezifische Antikörper gegen das Enterotoxin nachweisen. Obwohl ihre Konzentration in den Nagern relativ niedrig war, konnten sie die Wirkung des Giftes bei Experimenten im Reagenzglas deutlich reduzieren. Damit war nicht nur bewiesen, daß sich mit transgenen Nahrungspflanzen Impfstoffe herstellen lassen, sondern auch, daß genießbare Teile davon ein einfaches und unempfindliches Vehikel darstellen können, um die Vakzine zu verabreichen.
Arntzen und seine Mitarbeiter hatten Tabak und Kartoffeln als Versuchsobjekte gewählt, weil man mit der Genmanipulation bei diesen Pflanzen bereits sehr gute Erfolge erzielt hat (was wiederum daran liegt, daß hier mit dem Agrobacterium tumefaciens ein erprobtes Vehikel zum Gentransfer existiert; siehe Spektrum der Wissenschaft, August 1983, Seite 36). Nun gehören aber Tabakblätter und rohe Kartoffeln nicht unbedingt zum üblichen Speiseplan des Menschen. Deshalb haben sich Wissenschaftler der Thomas-Jefferson-Universität in Philadelphia eine andere Pflanze ausgesucht. Sie übertrugen die Erbinformation für ein Hüllprotein des Tollwutvirus in Toma-ten ("Bio/Technology", Band 13, Seite 1484). Vorher hatten sie bereits gezeigt, daß das isolierte Viren-Eiweiß bei oraler Aufnahme Immunität gegenüber dem Erreger zu erzeugen vermag.
Versuche mit Waschbären, in Nordamerika ein gängiges Wirtstier für Tollwutviren, sind nun im Gange. Sie sollen erweisen, ob transgene Tomaten die Grundlage einer billigen Vakzine gegen Tollwut sein können. Dies macht einen weiteren Vorteil einer (fr)eßbaren Massenmedizin deutlich. Bei Seuchen, die nicht nur den Menschen betreffen, könnten transgene Pflanzen auch an Wildtiere verfüttert werden. Damit ließe sich der Erreger in seinem natürlichen Reservoir dezimieren und die Ansteckungsgefahr für den Menschen stark verringern.
Die Chancen stehen jedenfalls gut, daß ohnehin für Nahrungszwecke angebautes und obendrein gesundes Gemüse zugleich als unproblematischer Massenimpfstoff dienen kann. Dann hätten Eltern noch mehr Grund, ihre Kinder zu ermahnen: "Eßt doch jetzt bitte euren Tomatensalat!"
Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1996, Seite 22
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben