Mathematisches Denken. Vom Vergnügen am Umgang mit Zahlen.
Aus dem Englischen von Michael Basler. Birkhäuser, Basel 1998. 712 Seiten, DM 68,–.
Eine ganze Weile habe ich ernsthaft geglaubt, ich sei im falschen Buch. Der Mathematikprofessor Tom Körner, der seinem deutschen Namen zum Trotz in Cambridge (England) arbeitet, schreibt nicht über mathematisches Denken im allgemeinen, wie der Titel vermuten läßt; sondern er führt es vor – an sehr speziellen Beispielen, die nicht entfernt die Breite mathematischen Denkens abdecken.
Da könnte man auf die Idee kommen, Mathematiker befaßten sich im wesentlichen mit Schiffeversenken. Nicht die auf dem Kästchenpapier, sondern echte, in der U-Boot-Schlacht auf dem Atlantik im Zweiten Weltkrieg. Wie viele Handelsschiffe hätten die Briten von wie vielen Kriegsschiffen im Konvoi eskortieren lassen sollen, um die Verluste durch deutsche U-Boote so gering wie möglich zu halten? Die Antwort auf diese und ähnliche Fragen verlangt reichlich Mathematik, und zwar nicht nur den Umgang mit Formeln, sondern vor allem die Modellierung: den Übergang von der Realität zu den Formeln.
Das ist das Gebiet, in das sich manch „reiner“ Mathematiker nicht hineintraut, weil da die klare Trennung zwischen wahr und falsch verschwimmt. Die Gebiete, über die Körner schreibt, behandelt er in vorbildlicher Weise. Er schildert realistisch die Kriegssituationen, zu denen es eine mathematische Abstraktion zu finden gilt, und spart nicht mit Details über Personen. So erzählt er die bemerkenswerte Lebensgeschichte von Lewis Fry Richardson (1881–1953), den ich nur als Namensgeber eines wenig bedeutenden numerischen Verfahrens kannte.
Zur mathematischen Modellierung und dem abstrakten Problem, das sich daraus ergibt, liefert Körner stets eine ausgearbeitete Lösung – in Form von Übungsaufgaben. Sie sind gut portioniert, stellen zunächst das Handwerkszeug bereit (dem man seinen Zweck in diesem Moment normalerweise nicht ansieht; aber das ist üblich) und führen dann den Leser am Händchen einen zuweilen recht langen Rechenweg entlang.
Aufbau und Formulierung atmen unverkennbar den Geist langer Vorlesungspraxis an der Universität. Aber Körner glaubt allen Ernstes, daß „genügend beharrliche Vierzehnjährige einen Großteil des Buches verstehen können“. Es mag ja sein, daß es einen so beharrlichen Vierzehnjährigen gibt; aber wenn er einen Großteil des Buches verstanden hat, ist er wahrscheinlich ein Wunderkind – oder bis dahin nicht mehr vierzehn.
Das Übergewicht der militärischen Themen wird im Verlaufe des Buches etwas gemildert durch Kapitel über Sortier- und andere Algorithmen sowie die Ausbreitung von Epidemien. Wieder militärisch, aber inhaltlich erstklassig ist der Abschnitt über die Entschlüsselung der deutschen Chiffriermaschine „Enigma“ durch die polnischen Kryptologen unter Marian Rejewski im Zweiten Weltkrieg (Spektrum der Wissenschaft, Juni 1999, S. 26). Erst ganz zum Schluß kommt, was zum Titel paßt: sehr lesenwerte Gedanken darüber, was ein Mathematiker tut und warum er es tut.
Man erkennt, daß Körner den adlergleichen Überblick über seine Themen und langjährige Lehrerfahrung eingebracht hat. Einige unverständliche Stellen fallen so aus diesem Bild heraus, daß ich Übersetzungsfehler vermute.
Dies ist ein stark von den persönlichen Vorlieben seines Autors geprägtes, aber für sich genommen höchst reichhaltiges und sehr sorgfältig geschriebenes Buch. Man darf sich nur nicht durch den Titel irreführen lassen.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1999, Seite 111
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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