Medizin und Ethik: Medizinische Ethik und Patientenschutz
Häufig werden medizinische Ethik und Patientenschutz noch nicht im richtigen Verhältnis gesehen. Umfassende ethische Bewertungen ergeben sich schließlich nicht aus der Medizin selbst, sondern die Diskussion um ethische Grundentscheidungen, die unsere ganze Gesellschaft durchzieht, betrifft auch die Medizin. Patienten leben nicht in einem sozialen Vakuum, sondern nehmen an der gesellschaftlichen Entwicklung teil. Sie nutzen zwar die Errungenschaften der modernen Medizin, wehren sich aber gegen negative Begleiterscheinungen.
Mangelnde ärztliche Aufklärung wird häufig als eine juristische Fußangel mißbraucht, und irrationale Patientenverfügungen engen den ärztlichen Aktionsradius über Gebühr ein. Eine aus solchen Konflikten entspringende Entwicklung hin zu einer Art Defensivmedizin gereicht aber nun beiden, sowohl dem Arzt wie dem Patienten, zum Nachteil. Es sollte deshalb unser aller Ziel sein, die Würde und die Selbstbestimmung der Patienten nicht gegen die Verantwortung der Ärzte auszuspielen, sondern konstruktiv miteinander zu verbinden.
Die Diskussion über Medizinethik leidet darunter, daß viel über Medizin, aber kaum über Patienten gesprochen wird. Genau das wäre nötig, denn das persönliche Verhältnis zwischen Arzt und Patient hat sich verändert. Die Maschinenmedizin hat sprachlos gemacht. Das Anamnesegespräch hat seine Bedeutung verloren, die mechanischen und chemischen Diagnosemöglichkeiten und Therapien sind so gut geworden, daß sich die Ärzte mit den Patienten nicht mehr wie früher beschäftigen müssen. Außer dem Gespräch fehlt auch die Behandlung in Form der Berührung, des Handanlegens. Es ist doch paradox, daß den Ärzten der Schulmedizin, die noch nie so gut war wie heute, die Patienten davonlaufen, nicht selten auch zu Scharlatanen, von denen sie sich aber emotional angenommen fühlen.
Medizinische Diagnosen und Therapien sind heute für Patienten belastender und auch gefährlicher geworden. Bei der früheren Verwendung etwa von Schröpfköpfen, um lokal eine bessere Durchblutung der Haut zu erreichen, konnte der Patient kaum Schaden erleiden. Invasive Diagnostik und Chemotherapie sind hingegen nur zwei aktuelle Beispiele für arge Patientenbelastungen. Daß die Medizin für den Patienten auch Gefahren birgt, findet zu wenig Beachtung in der Diskussion: Was für die Ärzte Komplikationen sind, die im Rahmen eines hinzunehmenden Risikos liegen, sind für die Patienten oft Schäden, die nicht wieder gutgemacht werden können.
Die Perforation von Blutgefäßen oder Därmen ist bei laparoskopischen Eingriffen ein normales Operationsrisiko ebenso wie Thrombosen und Embolien bei Thoraxoperationen mit extrakorporaler Kreislaufführung oder Infektionen mit den sogenannten Spitalskeimen. Die Indikation von invasiven Eingriffen und der Umgang mit Komplikationen dürfen nicht leichtgenommen, sondern müssen einer medizinethischen Betrachtung unterworfen werden. Daß ärztliche Aufklärung nicht immer und überall in ausreichendem Maße erfolgt läßt sich zum Beispiel daran ablesen, daß Ärztefrauen, wie die Erfahrung zeigt, weniger Operationen – insbesondere gynäkologischen Eingriffen – unterzogen werden als andere Frauen.
Patientenschäden haben auch deshalb so großes Gewicht, weil eine Schadensgutmachung nach unserem Rechtssystem so schwierig ist. Ein Patient ohne Rechtsschutzversicherung kann kaum einen Prozeß riskieren, weil das Kostenrisiko zu hoch ist.
Es heißt oft, die Nazi-Ärzte hätten ihre Menschlichkeit schon in dem Augenblick verloren, als sie Menschen zu Abstraktionen, zu Nummern degradierten. Nun möchte ich selbstverständlich keinen direkten Vergleich anstellen; aber reden unsere Ärzte nicht auch von Fällen, vom Appendix, vom Ulcus und nicht vom kranken Menschen?
Nach einer Studie aus Kiel von H. Speidel haben Medizinstudenten zu Beginn ihres Studiums noch eine sehr große Fähigkeit zur Zuwendung und ein starkes soziales Bewußtsein – vergleichbar mit Theologiestudenten. Am Ende ihres Studiums dann rangieren Medizinstudenten mit diesen Werten hinter den Betriebswirten. Sie verlieren diese Eigenschaften während des Studiums, vielleicht auch deshalb, weil sie zu viel an Leichen und zu wenig mit Menschen arbeiten.
Erst 50 Jahre nach den Nürnberger Ärzteprozessen, welche die Untaten von Ärzten im Nationalsozialismus zum Gegenstand hatten, beginnen wir mit der Ausbildung in Medizinethik. Die Situation ist in Österreich nicht besser als etwa in Deutschland. Wir haben nur einen Vorteil: Wir sprechen in Österreich von Patienten und nicht wie in Deutschland von Verbrauchern. Patienten sind Leidende, Verbraucher sind Teil des Wirtschaftslebens, wo die Fürsorge einen anderen Stellenwert oder gar keinen Platz hat.
Welche Inhalte muß das Ethikstudium haben?
Zwei ethische Leitmotive – der Nutzen des Patienten und die Verantwortung des Arztes – lassen sich durch die Jahrhunderte der Medizin verfolgen; ihre Grundlage ist der dem griechischen Arzt Hippokrates (460 bis 370 vor Christus) zugeschriebene hippokratische Eid, das Gelöbnis der Ärzte, ethisch zu handeln. Und dennoch: Der hippokratische Eid ist keine zeitlos gültige Aussage über eine unwandelbare medizinische Ethik, sondern ein Spiegelbild bestimmter historischer und gesellschaftlichkultureller Bedingungen. Daran vermag auch der Umstand nichts zu ändern, daß dieser Eid – weil er später mit den Lehren des Christentums verknüpft wurde – allgemeine Geltung erfuhr.
Wie schwankend der Grund ist zeigt sich daran, daß sich ein Hauptangeklagter der Nürnberger Ärzteprozesse von 1947 diese auf konkrete gesellschaftliche Zustände bezogene Relativität des Eides zunutze machen wollte. Karl Brandt, Begleitarzt Hitlers und einer der Hauptverantwortlichen für die Euthanasie-Verbrechen, sagte in dem Prozeß aus, er sei überzeugt, daß Hippokrates seinem Eid eine andere Fassung gegeben hätte, wenn er zu dieser Zeit gelebt hätte. Verbrechen konnte Brandt mit dieser Ansicht zwar nicht rechtfertigen; zugleich aber erwies sich, daß der hippokratische Eid allein als Maßstab für eine Urteilsfindung nicht ausreichte.
Der Ärzte-Eid ist ein promissorischer Eid, der ein Verhalten in der Zukunft bestimmen soll. Damit wird eine Ethik mit normativen Grundsätzen formuliert. Angesichts der ethischen Unsicherheit unserer Zeit ist es indes fraglich, ob ärztliche Eide und Gelöbnisse noch ihre Funktion erfüllen können – etwa dann, wenn Ethik sich auf eine konkrete Situation beziehen muß, die sich nicht normieren läßt, oder wenn ein gesellschaftliches Bewußtsein vorherrscht, welches dazu verleitet, Gelöbnisse und Normen nicht mehr zu respektieren. Abgesehen davon reichen meines Erachtens heute die Berufskodizes der Ärzte nicht mehr aus, um die Einhaltung ethischer Grundprinzipien zu garantieren. Sie gehen vielfach an den Wünschen und Bedürfnissen der Patienten vorbei.
Medizinische Ethik läßt sich verstehen als die systematische Besinnung auf verantwortliches Handeln, und zwar im Hinblick auf Humanität und auf ein bestimmtes Menschenbild, das hinter Werten und Normen steckt. Wer sie auf diese Weise definiert, muß jedoch bedenken, daß die Situation und die Umwelt, in denen Menschen existieren, sich ständig ändern und weiterentwickeln. Menschenbild und Ethik müssen darum dynamisch bleiben, um neue Probleme bewältigen zu können.
Außerdem gibt es immer auch Interessen mit dem Ziel, ethische Normen und ethisches Verhalten zu beeinflussen. Der Einfluß kann so weit gehen, daß wir von einer Ethik der Interessen sprechen müssen. Alle beteiligten Personen haben ihre eigenen Interessen; dabei wird demjenigen Verhalten der Vorzug gegeben, das möglichst viele Präferenzen berücksichtigt. Diese Form von Ethik paßt sich den jeweiligen Machtkonstellationen und Herrschaftsansprüchen an. Beispiele für eine Ethik der Interessen finden wir etwa in der Hirntod-Theorie und der gesetzlichen Widerspruchsregelung für Organentnahmen.
Diese nichtnormative Ethik ist eine Dienerin vieler Herren: Von den Interessen der Gesellschaft über die der Wissenschaft und Forschung bis zu individuellen Interessen der Beteiligten in der Medizin nimmt sie jeweils andere Regeln an. Besonders deutlich tritt sie in der medizinischen Forschung in Erscheinung; denn gerade hier stellt sich stets die brisante Frage, ob das reine Forschungsinteresse oder die individuellen Belange des betroffenen Patienten im Vordergrund stehen sollen.
Im Nürnberger Kodex hatte das Gericht, das sich 1947 mit der Rolle der Ärzte im Nationalsozialismus befaßte, zunächst zehn Prinzipien entwickelt; 1962 hat der Weltärztebund (die World Medical Association) dann in der Deklaration von Helsinki eine neue Kodifizierung der ethischen Prinzipien des Rechts in der klinischen Forschung formuliert und damit den Nürnberger Kodex überholt. Die internationale Vereinbarung zur medizinischen Forschung unterscheidet sowohl in der ursprünglichen als auch in der 1975 revidierten Fassung von Tokio zwei Kategorien von Experimenten am Menschen, nämlich "klinische Versuche mit diagnostischem oder therapeutischem Ziel im Interesse des Patienten" und "klinische Versuche mit rein wissenschaftlichem Ziel ohne unmittelbaren diagnostischen oder therapeutischen Wert für die Versuchsperson". Dazu wird allerdings festgehalten, daß das Interesse der Wissenschaft und der Gesellschaft niemals Vorrang vor den Erwägungen haben sollte, die das Wohlbefinden der Versuchspersonen betreffen.
Damit werden in der medizinischen Forschung für bestimmte Interessen Grenzen gezogen. In Fällen, wo das Interesse an der Forschung und die Interessen der davon betroffenen Menschen im Einklang sind – wenn Wissenschaft also dem Menschen, nicht nur einem noch unsicheren, abstrakten künftigen Wohl der Menschheit dient –, werden Fragen der Ethik nicht sehr schwer zu beantworten sein. Aber leider liegen die Dinge nicht immer so einfach. Eine medizinische Ethik der Interessen reicht nicht aus, um alle Beteiligten gleichermaßen und gerecht zu berücksichtigen, denn die Interessen stehen vielfach in Konflikt zueinander.
Ethische Grundsätze dürfen nicht nur an bestimmten Interessen gemessen werden, ihre Richtschnur muß die Menschenwürde sein. Hinter allen Werten und Normen muß der Mensch sichtbar bleiben. Es ist notwendig, den derzeitigen Stand und die Entwicklung der Medizin mit dem Menschenbild in Verbindung zu bringen, an dem wir uns orientieren wollen. Die Ethik der Interessen muß daher hinter einer Ethik der Menschenwürde zurücktreten.
Aber auch dieser Grund ist schwankend. Die Möglichkeiten der Gentechnik werden uns in Zukunft möglicherweise dazu verleiten, von einem anderen Menschenbild auszugehen. Umwelteinflüsse und Sozialisation werden vielleicht weniger bedeutsam, die Ursachen für Krankheiten können eventuell durch die neuen technischen Möglichkeiten individualisiert werden. Die Quintessenz dieses schleichenden Wandlungsprozesses könnte sein, daß wir nicht mehr die negativen Umwelteinflüsse verändern werden, sondern den Menschen, der an ihnen leidet.
Eine Ethik der Würde hat bereits der Philosoph Immanuel Kant (1724 bis 1804) formuliert. In seiner Sittenlehre mit dem kategorischen Imperativ beschrieb er die Verpflichtung, die Menschheit in der Person des anderen wie im eigenen Selbst niemals bloß als Mittel zu betrachten, sondern stets zugleich als Zweck an sich anzuerkennen. In dieser Formel vom Selbstzweck ist die Mahnung enthalten, daß kein Mensch einem anderen gegenüber einen vollständigen Verfügungsanspruch erheben dürfe. Jedoch kann auch helfendes Handeln die Form verfügender Herrschaft annehmen. Wir finden sie in der Medizin im paternalistischen Prinzip sanktioniert.
Erst wenn wir beachten, daß die Ethik der Würde dominieren muß, können Existenz und Wirksamkeit von Interessen akzeptiert werden. Unser kulturelles Paradigma und unsere Rechtsordnung begrenzen die Durchsetzung von Interessen dort, wo die Würde, die Integrität und die Freiheit anderer tangiert werden.
Was können wir tun, bis das Ethikstudium greift?
Patienten sind keine einheitliche Spezies; überwiegend sind sie, sofern es sich nicht um chronische Krankheiten handelt, nur vorübergehend in der Lage des Kranken und Behandlungsbedürftigen. Patienten haben keine Lobby, keine Gewerkschaft, sie sind eine schweigende, leidende Masse. In der Praxis korreliert ihre überwiegende Untertanenmentalität, hervorgerufen durch ihre grundsätzlich schwächere Position und die für die meisten unverständliche Komplexität der modernen Medizin, mit einer von den Ärzten häufig und meist gern in Anspruch genommenen Obrigkeit.
Die europäischen Gesundheitsminister haben im November 1996 auf ihrer Konferenz in Warschau angesichts dieses Konfliktpotentials zwischen Arzt und Patient vorgeschlagen, in Streitfällen Patienten-Ombudsleute als Vermittlungseinrichtungen zu bestellen. Wir haben in Österreich schon seit längerem eine solche Einrichtung, nämlich die Patientenanwälte.
Die Stadt Wien hat schon in den frühen neunziger Jahren im Zuge der Diskussion um eine Gesundheits- und Spitalsreform Patientenrechte normiert und zur Wahrung der Rechte und Interessen der Patienten in allen Bereichen des Gesundheitswesens die Wiener Patientenanwaltschaft per Gesetz als staatliche, unabhängige und weisungsfreie Einrichtung geschaffen. Patientenanwälte haben Beschwerden zu prüfen, Mängel und Mißstände im Gesundheitswesen zu klären und Empfehlungen zu erteilen, um diese abzustellen. Sie haben das Recht, alle dokumentierten Vorgänge einzusehen, niemand kann sich ihnen gegenüber auf das Amtsgeheimnis berufen. Der Wiener Patientenanwalt ist Mitglied der Ethikkommissionen und gilt ein wenig als das Gewissen der Wiener Medizin.
Ein großer Teil der Arbeit besteht darin, eine außergerichtliche Regelung von Patientenschäden anzustreben und dabei kostenlos Hilfe zu leisten. Entsprechende Prozesse sind nämlich langwierig, kostspielig und risikoreich und zerstören das Verhältnis zwischen Arzt und Patient. Die Wiener Patientenanwaltschaft hat in den fünf Jahren ihres Bestehens mehr als 20 Millionen Schilling außergerichtlich entschädigt und an der Beendigung von Prozessen durch außergerichtliche Vergleiche mitgewirkt.
Der große deutsche Rechtslehrer Rudolf von Ihering (1818 bis 1892) hielt im Jahre 1872 in Wien einen Vortrag mit dem Titel "Der Kampf ums Recht" und unterstellte ihn dem Motto: "Im Kampf sollst du dein Recht finden." Nach diesem Motto erfolgt auch heute noch überwiegend die Lösung von Konflikten und die Durchsetzung von Rechten. Patienten haben in diesem Kampf ihr Recht nur selten gefunden. Mehr noch als in Österreich sind in Deutschland alle Fragen um ärztliche Kunstfehler und ärztliche Aufklärungspflicht eine riesige Spielwiese für Juristen.
Die Bemühungen der Wiener Patientenanwaltschaft sind hingegen darauf gerichtet, in allen Bereichen des Gesundheitswesens in Wien ein Bewußtsein zu schaffen, daß Patientenrechte als Menschenrechte prinzipiell zu achten sind und ein Klima erreicht wird, in dem die Lösung von Konflikten nicht in Feindschaft, sondern in Befriedung endet. Diesem Ziel dient auch die Anordnung, daß alle extremen Patientenschädigungen von den Spitälern sofort dem Wiener Patientenanwalt zu melden sind, um den Angehörigen garantieren zu können, daß der Vorfall objektiv geklärt, nichts verschwiegen und Hilfestellung gewährt wird.
Die Fürsorge für Patienten darf nicht beim Spitalstor enden. Sie umfaßt auch finanzielle Hilfe bei Patientenschäden in Härtefällen, ohne daß die Schuldfrage langwierig geklärt werden müßte. Dafür stellt die Stadt Wien pro Jahr etwa 10 Millionen Schilling, umgerechnet rund 1,4 Millionen Mark, zur Verfügung. Die Auszahlung erfolgt über Empfehlung einer Kommission unter dem Vorsitz des Wiener Patientenanwaltes.
Literaturhinweise
Ethische und rechtliche Aspekte der ärztlichen Aufklärungspflicht. Von Helga Willinger. Peter Lang, Frankfurt 1996.
Das Arzt-Patienten-Verhältnis in der Geschichte und heute. Von Edward Shorter. Picus, Wien 1991.
Lexikon Medizin, Ethik, Recht. Herder, Freiburg 1989.
Grenzen des medizinischen Fortschritts in ethischer Sicht. Von Wolfgang Huber. In: Mitteilung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie 5/1994.
Mitteilung über die Baltic Sea Conference on Psychosomatic Medicine. Von H. Speidel. Riga 1996.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1998, Seite 50
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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