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Interview: Meilenstein für die Neutronenforschung

Dieter Richter und Richard Wagner vom Forschungszentrum Jülich äußern sich zu den Perspektiven der Neutronenforschung mit der geplanten Europäischen Spallationsquelle ESS.


Spektrum der Wissenschaft: Wie wird bei der geplanten Europäischen Spallationsquelle für Neutronen ESS die relative Bedeutung der Forschungsgebiete aussehen – Biologie, Physik, Chemie, Materialwissenschaften?

Dieter Richter: Eine solche Vorhersage ist nicht ganz leicht zu machen. Am Institut Laue-Langevin in Grenoble, das die derzeit stärkste Neutronenquelle hat, verteilt sich die Nutzung auf etwa 10 Prozent Biologie mit wachsender Tendenz, 35 Prozent Physik und 20 Prozent Materialwissenschaften; der Rest geht in die Ingenieurs- und Geowissenschaften sowie die Chemie. Berücksichtigt man auf europäischer Ebene alle bereits bestehenden Neutronenquellen, auch die schwächeren, ist beispielsweise die Biologie nicht so stark vertreten, weil sich biologische Fragestellungen mit den heutigen Quellen noch nicht so gut untersuchen lassen. Bei der ESS werden sich sicher komplexe Forschungsbereiche entwickeln, die man heute noch nicht angehen kann.

Spektrum: Welches sind die interessantesten Fragestellungen der Grundlagenforschung mit Neutronen?

Richter: Wenn wir mit der Festkörperphysik anfangen, geht es dort heute beispielsweise um so genannte Quanten-Phasen-übergänge, also Übergänge, die durch quantenmechanische Fluktuationen bewirkt werden: ein sehr abstraktes Gebiet, aber Sie haben mich ja nach Grundlagen gefragt. In der Chemie will man unter anderem den Ablauf von Reaktionen verstehen, in der Biologie ausgewählte Wasserstoff-Positionen in den aktiven Zentren von Enzymen finden, was für die Entwicklung von Arzneimitteln große Bedeutung hat. Geowissenschaftler sind daran interessiert, das dynamische und thermodynamische Verhalten von Magmen und Mineralien unter den Drücken und Temperaturen des Erdmantels zu erforschen; sie stoßen dabei heute an Grenzen, die sie mit der ESS zu überwinden hoffen.

Richard Wagner: In den Materialwissenschaften möchte man diffusionskontrollierte Phasenübergänge in Echtzeit verfolgen, um zum Beispiel etwas über das Verhalten von Mikrostrukturen, die die Eigenschaften von Werkstoffen kontrollieren, unter äußeren Einflüssen wie hohen Temperaturen oder mechanischen Spannungen zu lernen. Ingenieurswissenschaftler wollen Eigenspannungs-Gradienten in sehr kleinen Volumina untersuchen. Daraus erhalten sie unter anderem Informationen über Schädigungs- und Versagensmechanismen in lasttragenden und rotierenden Bauteilen. Für beides reichen die heutigen Neutronenintensitäten nicht aus. In der Nanotechnologie brauchen wir eine immer bessere räumliche Auflösung. Auch dies verlangt eine hellere Neutronenquelle.

Spektrum: Eine Spallationsquelle liefert gepulste Neutronenstrahlung. Was für Vorteile bringt sie gegenüber der kontinuierlichen Strahlung aus Forschungs-reaktoren?

Richter: Zunächst gibt es wohl fast nichts, was man mit gepulsten Neutronen nicht besser machen kann als mit kontinuierlichen. Das liegt daran, dass im hellen Blitz der gepulsten Strahlung Neutronen fast aller Wellenlängen versammelt sind und sich über ihre unterschiedliche Flugzeit zum Detektor trennen lassen, sodass die gesamte Intensität nutzbar ist. Beim kontinuierlichen Strahl müssen Sie dagegen in der Regel eine Wellenlänge auswählen und den ganzen Rest wegwerfen.

Wagner: Auch bei Reaktoren lässt sich der Strahl zwar mechanisch zerhacken. Dabei gehen jedoch etwa 99 Prozent der Intensität verloren.

Spektrum: Weltweit sind bereits einige Spallationsquellen in Betrieb – so Isis am Rutherford-Laboratorium in England – und einige im Bau – wie SNS im amerikanischen Oak Ridge. Außerdem gibt es viele laufende Forschungsreaktoren wie den Höchstflussreaktor am ILL. Wird eine weitere große Einrichtung wie ESS da überhaupt gebraucht?

Richter: In Europa haben wir etwa vier- bis fünftausend Neutronennutzer. Doch deren Anzahl ist im Wesentlichen durch das Angebot beschränkt. Sie wird schon allein dadurch steigen, dass die gepulste Strahlung von ESS Experimente erlaubt, an die heute gar nicht zu denken ist, weil Intensität oder Auflösung dafür nicht ausreichen. Ich glaube deshalb, dass es keine Schwierigkeit geben wird, die ESS auszunutzen. Nehmen Sie das Beispiel England: Bevor Isis gebaut wurde, gab es dort einige hundert Neutronennutzer, danach hat sich deren Anzahl auf 1200 bis 1300 verdreifacht. Zudem ermöglicht die ESS eine neue Qualität von Experimenten, mit denen wir zu neuen Phänomenen und Substanzen vordringen können.

Spektrum: Außer der ESS gibt es in Deutschland noch andere große Forschungsprojekte, die nach Möglichkeit weiterverfolgt werden sollen, so den Elektron-Positron-Collider Tesla bei Desy in Hamburg und ein Schwerionen-Synchrotron bei der GSI in Darmstadt. Nach Aussage des BMBF können wohl nicht alle drei Projekte realisiert werden. Wie beurteilen Sie bei dieser Konkurrenz die Aussichten der ESS?

Wagner: Die ESS ist ja ein gesamteuropäisches Projekt, für das derzeit fünf Standorte diskutiert werden – je zwei in Deutschland und England sowie einer in Schweden. Es wäre schön, die Anlage nach Deutschland – und hier speziell Jülich – zu bekommen. Letztendlich wird es aber eine wissenschafts- und forschungspolitische Entscheidung sein, welche der genannten Großgeräte hier zu Lande realisiert werden sollen. Auch die Amerikaner bemühen sich um eine Tesla-ähnliche Anlage und in Japan wird eine Hadronen-Facility gebaut, die teilweise Experimente mit abdeckt, wie sie an der GSI vorgesehen sind. Insofern sollte bei der Entscheidung die globale Situation berücksichtigt werden.

Spektrum: Inwiefern ergänzen sich die Forschungen mit Neutronen- und mit Röntgenquellen aus Beschleunigern?

Richter: Neutronen haben eine ganze Reihe von Vorteilen gegenüber den heute vorwiegend genutzten Röntgenphotonen, die sie nur deshalb nicht voll ausspielen können, weil es nicht genug Neutronen gibt. Neutronen sehen alle Atome – leichte wie Wasserstoff und schwere – mehr oder weniger gleich gut. Das ermöglicht etwa in der Biologie die Beobachtung der Wasserstoffatome. Neutronen spüren den Magnetismus – die Bestimmung magnetischer Strukturen mit Röntgenstrahlen ist dagegen sehr schwierig und nur indirekt möglich. Außerdem kann man mit Neutronen nicht nur die Positionen, sondern auch die Bewegungen der Atome ermitteln.

Wagner: Die Strukturbestimmung von Proteinen wird heute fast ausschließlich mit Synchrotronstrahlung bei tiefen Temperaturen gemacht. Das setzt aber voraus, dass Sie die Proteine kristallisieren können, was nur bei rund 70 Prozent von ihnen möglich ist. Mit Neutronen kann man die Struktur von Eiweißstoffen unter physiologischen Bedingungen aufklären; außerdem lässt sich die Position von Wassermolekülen und Wasserstoffatomen bestimmen, die für die Funktion der Proteine wichtig sind – ein unschätzbarer Vorteil für die Biologie, Pharmaforschung und Medizin. Solche Untersuchungen verlangen jedoch häufig eine hohe Neutronenintensität, wie sie erst die ESS bieten wird.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 2002, Seite 12
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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