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Evolution: Menschwerdung durch Kraftnahrung

Lange behaupteten Ernährungsforscher, Zivilisationskrankheiten würden deshalb überhand nehmen, weil wir uns anders ernähren als die Jäger und Sammler der Altsteinzeit. Jetzt wird klar, dass die Lage komplexer ist.


Der Mensch ist ein sonderbarer Affe. Er geht auf zwei Beinen und trägt dabei schwer an seinem großen Gehirn. Doch mit dieser Ausrüstung hat er jeden Winkel der Erde erobert. Wieso sich die Menschenlinie von der Primatennorm so grundlegend abhebt, möchten Anthropologen seit langem verstehen. Die verschiedensten Deutungsvorschläge kamen auf. Doch zunehmend schält sich ein Faktor als wegweisend heraus, der während der menschlichen Evolution wohl stets beträchtlichen Einfluss nahm: die Nahrung. In Abwandlung eines gängigen Spruchs darf man sagen: Der Mensch ist, was er einst aß. In unserer Vorzeit wirkte die natürliche Selektion offenbar dahin, dass unsere Vorfahren sich mit immer weniger Aufwand immer hochwertigere, energiehaltigere Nahrung beschafften. Der Hintergrund dürfte gewesen sein, dass sich für unsere Vorfahren während ihrer Evolution das Angebot an Essbarem fortwährend wandelte.

Darum unterscheiden wir uns auch hinsichtlich unseres Essens von allen anderen Primaten. Im Vergleich zu den Menschenaffen ist unsere Kost wesentlich gehaltvoller an Energie liefernden Nährstoffen – an Kohlenhydraten, Proteinen und Fetten. Das gilt für menschliche Kulturen mit ganz unterschiedlichen Ernährungsgewohnheiten – für Bevölkerungen, die fast rein von Pflanzenkost leben, ähnlich wie für solche mit überwiegendem Fleischkonsum. Wann schlugen unsere Vorfahren diesen Sonderweg ein? Und vor allem, wie kam es dazu? Um entscheiden zu können, ob wir uns heute richtig ernähren, interessiert auch, wie sehr unser Speiseplan von dem der Menschen früherer Zeiten abweicht.

Diese Frage beschäftigt Ernährungsforscher verstärkt seit Mitte der 1980er Jahre. 1985 erschien in der Wissenschaftszeitschrift »New England Journal of Medicine« ein Artikel über Ernährung in der Altsteinzeit, der Furore machte. Die Autoren, die Anthropologen S. Boyd Eaton und Melvin J. Konner von der Emory-Universität in Atlanta (Georgia), behaupteten, Zivilisationskrankheiten wie Fettsucht, Bluthochdruck, Arteriosklerose oder Altersdiabetes würden deswegen überhand nehmen, weil die Menschen heutzutage nicht mehr das Gleiche essen wie die Jäger und Sammler des Paläolithikums. An solche Kost seien sie durch ihre Evolution aber eigentlich angepasst. Inzwischen sehen Wissenschaftler dies allerdings differenzierter. Hierzu trugen Studien bei, in denen die Ernährung von Menschen traditioneller Kulturen mit der von tierischen Primaten verglichen wurde. Ihnen zufolge können wir bei recht unterschiedlichen Speisezetteln gesund leben. In seiner Evolution hat sich der Mensch keineswegs fest darauf eingestellt, sich genau so ernähren zu müssen wie in der Altsteinzeit.

Betrachten wir die energetische Seite dieser Evolution aus Sicht des Einzelnen. Es kommt darauf an, wie viel Energie für Ernährungszwecke – für Nahrungssuche und Nahrungsaufnahme – aufgewendet werden muss und wie viel in der Bilanz gewonnen wird, einerseits um sich am Leben zu erhalten und gesund zu bleiben, andererseits für Wachstum und Nachwuchs. Gerade bei Säugetiermüttern ist der Aufwand für Schwangerschaft und Milchproduktion beträchtlich.

Die Größe dieser Posten hängt auch von der Umwelt ab. So benötigt der Organismus in kälterem Klima mehr Stoffwechselenergie. Doch auch unter harschen Bedingungen sollte möglichst einiges an Überschuss bleiben, der der Fortpflanzung und Nachkommenschaft zugute kommt. Bei Tieren spiegelt sich evolutionärer Wandel oft darin, wie sie sich Nahrungsenergie verschaffen und diese dann verwenden. In der menschlichen Evolution war das nicht anders.

Aufrecht gehen hilft Energie sparen

Die typischen Merkmale des Menschen entstanden nacheinander. Zuerst trat der aufrechte Gang auf. Viel später begann das Gehirn größer zu werden. Und da erst eroberte der Mensch andere Kontinente. Warum geht der Mensch aufrecht? Die heute lebenden Affen, auch die Menschenaffen, laufen auf dem Boden gewöhnlich auf allen vieren. Deswegen ist anzunehmen, dass sich auch der letzte gemeinsame Vorfahre von Mensch und Schimpanse auf dem Boden vierfüßig fortbewegte. Wann genau dieser Primat lebte, ist nicht bekannt. Afrikanische Vormenschen, die Australopithecinen, gingen anscheinend vor ungefähr vier Millionen Jahren schon aufrecht.

In der Paläontologie kursieren zahlreiche Erklärungen für die Entstehung des aufrechten Gangs. So meinte C. Owen Lovejoy von der Kent State University (Ohio) schon 1981, der Hintergrund sei gewesen, dass die Arme zum Tragen von Kindern und Nahrung frei wurden. Etwas jünger ist die These von Kevin D. Hunt von der Indiana University in Bloomington, die aufrechte Haltung habe zunächst dem Nahrung-sammeln gedient, denn die Primaten konnten nun vom Boden aus zu Pflanzen hinaufreichen. Peter Wheeler von der Liverpool John Moores University (England) wiederum vermutet, dass der aufrechte Gang dazu verhalf, der sengenden afrikanischen Sonne weniger Körperoberfläche auszusetzen und so die Hitze besser auszuhalten.

Die Liste an Thesen ließe sich fortsetzen. Doch wahrscheinlich entstand der aufrechte Gang nicht allein aus einem einzigen Grund. Vielmehr dürften sich bei seiner Evolution vielerlei Vorteile ausgewirkt haben. Auf eine mögliche Ursache stießen meine Frau Marcia L. Robertson und ich, als wir die energetischen Kosten von zweibeiniger und vierbeiniger Fortbewegung ermittelten. Wir verglichen den Energieaufwand bei verschieden großen Tieren. Dabei kam heraus, dass das Gewicht und die Geschwindigkeit die Fortbewegungskosten allgemein am besten anzeigen. Erstaunlicherweise ist zweibeiniges Gehen für einen Primaten unseres Gewichts bei Gehgeschwindigkeit ökonomischer als Vierbeinigkeit.

Die Art, wie sich Menschenaffen auf dem Boden vorwärts bewegen, ist dagegen ausgesprochen unökonomisch. Schimpansen, die auf den Fingerknöcheln laufen, verbrauchen dabei 35 Prozent mehr Energie als ein typisches vierbeinig laufendes bodenlebendes Säugetier gleicher Größe, etwa ein großer Hund. Wahrscheinlich fällt bei den Menschenaffen eine solche Energieverschwendung nicht sehr ins Gewicht, zumal sie vorzüglich klettern und hangeln können. Wie schon ihre Vorfahren bewohnen sie dichte Wälder, die ihnen auf wenig Raum vergleichsweise viel Nahrung bieten. Nur selten sind sie gezwungen, eine längere Strecke auf dem Boden zurückzulegen. Über den Tag verteilt mögen das zur Nahrungssuche höchstens ein oder zwei Kilometer sein. Manche Menschenaffen, wie Orang-Utans, überbrücken größere Distanzen möglichst im Geäst.

Für die Menschenaffen hätte es sich energetisch wenig gelohnt, eine effektivere Art der Fortbewegung am Boden zu entwickeln. Bei den Vorfahren der ersten aufrechten Hominiden trieb offenbar ein Klimawandel die Revolution im Körperbau an, der sich auch später in der menschlichen Evolution noch verstärkte. Der Selektionsdruck auf eine effektive Fortbewegungsart dürfte generell immer dann besonders groß sein, wenn Lebewesen weit umherstreifen müssen. Im Pliozän, das vor rund 5 bis 1,8 Millionen Jahren lag, wurden weite Gebiete Afrikas immer trockener. Die Wälder gingen zurück, und an ihrer Stelle breiteten sich Savannen mit lichtem Baumbestand und zunehmend Grasflächen aus. Die Nahrung war in diesem Lebensraum weitflächiger verteilt. Um satt zu werden, mussten die frühen Hominiden größere Strecken am Boden zurücklegen.

Da zahlte sich eine kostengünstige Gehweise aus. Die Zweibeinigkeit gehörte in der Evolution der menschlichen Ernährung wohl zu den ersten Strategien, auf die veränderten Umweltbedingungen zu reagieren. Die Energie, welche diese Primaten dadurch sparten, konnten sie anderweitig verwenden, vor allem auch für Nachwuchs. Das beste heute verfügbare Modell für ihre Lebensweise in dieser Hinsicht bieten neuzeitliche Jäger und Sammler. Sie wandern oft zehn Kilometer am Tag oder mehr, nur um genügend zu Essen zu finden.

Großes Gehirn – energetischer Luxus

Kaum hatten die Hominiden den aufrechten Gang perfektioniert, begann das Gehirn an Größe zuzunehmen. Zunächst geschah dies kaum merklich. Die Australopithecinen besaßen wohl zu keiner Zeit beträchtlich größere Gehirne als die heutigen Menschenaffen. Schimpansengehirne messen, um grob zu vergleichen, im Durchschnitt knapp 400 Kubikzentimeter. Auch die frühen Australopithecinen hatten vor vier Millionen Jahren erst Hirnvolumina von um die 400 Kubikzentimeter. Dies steigerte sich bis vor zwei Millionen Jahren langsam auf rund 500 Kubikzentimeter. Erst mit der menschlichen Gattung Homo, die vor mehr als zwei Millionen Jahren erschien und noch eine Zeit lang neben den letzten Australopithecinen lebte, begann die rasante Größenzunahme. Das Gehirn von Homo habilis vor zwei Millionen Jahren maß bereits 600 Kubikzentimeter, das des frühen Homo erectus nur 300000 Jahre später schon 900 Kubikzentimeter.

Das größere Gehirn machte eine beträchtliche Ernährungsumstellung notwendig, denn es brauchte insgesamt viel mehr Energie. Pro Gewichtseinheit setzt Hirnmasse 16-mal so viel Energie um wie Muskelgewebe. Der Körper des Menschen verbrennt im Ruhezustand nicht mehr Energie als der anderer gleich schwerer Säugetiere. Trotzdem ist unser Ruhestoffwechsel höher, weil unser Gehirn einen größeren Anteil der Nahrungsenergie verwertet. Bei Affen sind es acht bis zehn Prozent des Ruheumsatzes, beim Menschen zwischen 20 und 25 Prozent. Bei anderen Säugetieren entfallen im Ruhezustand auf den Gehirnstoffwechsel nur drei bis fünf Prozent der verbrauchten Energie. Welchen Anteil des Ruheumsatzes forderten die Gehirne früher Hominiden? Um dies zu berechnen, verwendeten meine Frau und ich die Schätzungen von Henry M. McHenry von der Universität von Kalifornien in Davis zu deren Körpergröße. Demnach dürfte ein typischer, unter vierzig Kilogramm schwerer Australopithecine für sein 450 Kubikzentimeter großes Gehirn elf Prozent des Ruheumsatzes aufgewendet haben. Homo erectus, der bereits an die sechzig Kilogramm wog, brauchte für sein doppelt so großes Gehirn schon 17 Prozent.

Wie konnte ein so kostspieliges Organ entstehen? Dean Falk von der Florida State University in Tallahassee vertritt die These, dass der aufrechte Gang eine bessere Kühlung des Gehirns durch den Blutfluss ermöglichte. Vorher habe das besonders hitzeempfindliche Gehirn nicht größer werden können. Es gibt auch andere Erklärungsversuche – doch wiederum dürften vielerlei Faktoren mitgewirkt haben. Meines Erachtens konnte das Gehirn jedoch fast mit Sicherheit nicht zunehmen, bevor eine energetisch gehaltvollere Ernährung seine Versorgung gewährleistete.

Ein Zusammenhang zwischen Gehirngröße und Nährstoffversorgung besteht schon bei anderen Primaten (siehe SdW 10/1993, S. 68). Arten mit vergleichsweise größeren Gehirnen fressen reichhaltigere Kost. Im Grunde stellt der Mensch nur das Extrem des Spektrums dar. Viel Energie, auf die Menge bezogen, liefern – und lieferten vor allem damals – tierische Nahrungsmittel. Auch Früchte enthalten mehr verwertbare Energie als Blätter oder Gras. So ergeben hundert Gramm mageres Fleisch mindestens 800 Kilojoule (ungefähr 200 Kilokalorien). Hundert Gramm Früchte bringen nur 200 bis 400 Kilojoule ein, die gleiche Portion Blätter lediglich vierzig bis achtzig Kilojoule.

Das eher zierliche Gebiss von Homo habilis

Nach neuen Untersuchungen von Loren Cordain von der Colorado State University in Fort Collins beziehen heutige Jäger-und-Sammler-Völker durchschnittlich vierzig bis sechzig Prozent ihrer Nahrungsenergie aus Fleisch und anderen tierischen Produkten. Schimpansen dagegen fressen zwar auch gern erbeutete kleinere Säugetiere sowie Insekten. Immerhin gewinnen sie auf diese Weise fünf bis sieben Prozent ihrer Nahrungsenergie. Dass sich die Vertreter von Homo mit zunehmender Größe ihres Gehirns auch zunehmend Nahrung mit hohem Energiegehalt suchten, ist anzunehmen.

Ihr wachsender Fleischverzehr lässt sich auch durch den Vergleich von anatomischen Merkmalen der verschiedenen Vor- und Frühmenschen ermessen (siehe Bilder oben). Die Australopithecinen – auch wenn sie sicherlich hin und wieder gern Fleisch fraßen – besaßen allesamt noch Schädel, Kiefer und Zähne, die sich sehr gut für zähe, wenig gehaltvolle Pflanzenkost eigneten. Sie hatten eine kräftige Kaumuskulatur und breite Backenzähne. Besonders ausgeprägt war dieses Wesensmerkmal bei den so genannten robusten Arten, die noch zu Zeiten von Homo habilis lebten. Ihrem Aussehen nach konnten die Hominiden mit ihrem Gebiss faserreiche Pflanzen gut zermahlen. Dagegen waren die frühen Angehörigen der Gattung Homo, Nachfahren von so genannten grazilen Australopithecinen, zwar um einiges größer als ihre Vorfahren, trugen aber viel kleinere Gesichter und zierlichere Kiefer, hatten weniger Kaumuskulatur und schwächere Backenzähne.

Offenbar bot wiederum der Klimawandel den Rahmen für die Veränderungen. Hatten sich die ersten Hominiden noch überwiegend von relativ gut zerkaubaren Pflanzenteilen ernähren können, wenn sie nur ausgiebig genug umhersuchten, so schränkte die fortschreitende Austrocknung nun das Angebot an leicht essbarer vegetarischer Kost stark ein. Die Hominiden reagierten darauf in zwei unterschiedlichen Weisen. Zum einen entstanden die robusten Australopithecinen. Diese Arten entwickelten anatomische Anpassungen, dank derer sie von der verfügbaren harten, schwer kaubaren Pflanzenkost leben konnten.

Die Gattung Homo schlug einen völlig anderen Weg ein. Sie begann das Fleischangebot der Savannen zu nutzen. Die Graslandschaften, die jetzt aufkamen, ernährten zahlreiche Weidegänger wie Antilopen und Gazellen. Mit Homo erectus entstand erstmals eine Jäger-und-Sammler-Gesellschaft, die sich zu einem nicht unerheblichem Maße von erlegtem Wild ernährte und die zusammengetragene Nahrung unter den Mitgliedern der Gemeinschaft aufteilte. Archäologische Funde weisen auf die Revolution im Verhalten hin. Bei den Lagerstätten der Frühmenschen mehren sich nun Tierknochen, die erkennen lassen, dass man die Tiere mit Steinwerkzeugen zerlegte. Zu reinen Fleischessern wurden diese Menschen deswegen nicht. Aber schon indem sie ihren Speisezettel um nennenswerte Mengen tierischer Nahrung ergänzten, werteten sie ihre Versorgung auf. Hinzu kam das Teilen des vorhandenen Essens untereinander, ein für Jäger und Sammler typisches Verhalten. Beides verhalf dazu, dass die Ernährung besser und zuverlässiger wurde.

Warum Afrika zu eng wurde

Sicherlich erklärt sich die Zunahme der Gehirngröße nicht allein durch die reichere, konzentriertere Nahrung. Doch es erscheint plausibel, dass die Ernährung in dieser Evolution eine entscheidende Rolle spielte. Nachdem die Größenzunahme erst einmal eingesetzt hatte, trat wahrscheinlich ein synergistischer Effekt ein: Wachsende Nahrungsqualität und Gehirnzunahme bedingten gegenseitig eine weitere Steigerung: Größere Gehirne befähigten zu komplexerem sozialen Verhalten, was wiederum die Taktiken der Nahrungsbeschaffung verbesserte; und indem die Ernährungslage immer günstiger wurde, konnte auch das Gehirn noch größer werden. Gleich zu Beginn seines Auftretens setzte Homo erectus gewissermaßen auch den dritten Meilenstein in der menschlichen Evolution. Er entstand vor rund 1,8 Millionen Jahren in Afrika, doch einige seiner Artgenossen verließen schon bald diesen Kontinent. Lange hatten Anthropologen angenommen, dass dieser frühe Homo zunächst einige hunderttausend Jahre auf seinem Heimatkontinent blieb, bevor er sich in andere Gefilde der Welt wagte und sich dort gemächlich ausbreitete. Nach älteren Auffassungen erlaubten erst vor etwa 1,4 Millionen Jahren die verbesserten Werkzeugtechnologien der Acheuléen-Industrie, vor allem die Erfindung des Faustkeils, solche Unternehmungen.

Doch nach heutiger Kenntnis scheint sich Homo erectus, kaum hatte er die Bühne betreten, sogleich auf den Weg gemacht zu haben. Die ältesten Fossilien dieser Menschen außerhalb Afrikas stammen vom Südrand des Kaukasus und aus Indonesien. Sie sind zwischen 1,7 und 1,8 Millionen Jahre alt. Offenbar war Homo erectus sozusagen der geborene Wanderer. Und auch für diese Neuerung scheint die Nahrung die Antriebskraft gewesen zu sein. Die Größe des Streifgebiets oder Territoriums eines Säugetiers bestimmt sich weitgehend durch das, was es frisst. Raubtiere beanspruchen meist viel größere Reviere als gleich große Pflanzenfresser, weil ihnen dieselbe Fläche weniger Nahrungsenergie bietet. Wahrscheinlich benötigte Homo erectus nicht nur wegen des gestiegenen Fleischbedarfs, sondern auch wegen seiner viel höheren Körpergröße wesentlich mehr Raum als die kleinen Australopitecinen, die überwiegend von Pflanzenkost lebten.

Schon bei einem gering höheren Fleischverzehr hätte Homo erectus schätzungsweise acht- bis zehnmal so große Gebiete beansprucht wie die Australopithecinen. Das errechneten Susan C. Antón von der Rutgers Universität, meine Frau und ich anhand von Daten für heutige Affen und Jäger-Sammler-Völker. Wurde Afrika dem frühen Menschen plötzlich zu eng? Ob allein dieser Anschub durch den Ernährungszwang die Menschen schließlich bis in fernste Gefilde getragen hätte, ist ungewiss. Vielleicht ließen die Auswanderer sich außerdem von wandernden Tierherden bis in entlegene Winkel der anderen Kontinente locken.

Vielfältige Ernährung bei Wildbeutern und Viehhaltern

In Eurasien stieß der Mensch schließlich auch weiter in den Norden vor – und wurde hinsichtlich Ernährung neuerlich herausgefordert. Zu den ersten Bewohnern arktischer Lebensräume gehörten die Neandertaler. Sie entstanden im eiszeitlichen Europa, und es ist so gut wie sicher, dass ihr Energiebedarf in dieser Umwelt besonders hoch war. Welche Mengen an Nahrungsenergie die Neandertaler benötigt haben mögen, lassen heutige Völker arktischer Breiten erahnen, die noch in traditioneller Weise leben. Nehmen wir die Evenki, sibirische Rentierhalter, die ich zusammen mit Peter Katzmarzyk von der Queens Universität in Ontario (Kanada) und Victoria A. Galloway von der Universität Toronto (beides Kanada) untersuchte. Schon der Ruhestoffwechsel dieser Menschen ist um rund 15 Prozent höher als der gleich großer Personen, die in gemäßigtem Klima leben. Gleiches gilt für die Inuit Nordkanadas. Das anstrengende Alltagsleben, das diese Völker auf sich nehmen, macht den Unterschied im Energiebedarf noch größer.

Ein gut siebzig Kilogramm wiegender typischer Städter der USA verbraucht täglich knapp 11000 Kilojoule (2600 Kilokalorien). Ein Evenki, der kleiner ist und nur 55 Kilogramm wiegt, benötigt 12600 Kilojoule (3000 Kilokalorien). Nach Berechnungen von Mark Sorensen von der Northwestern University in Evanston (Illinois) und mir müssten die schwer gebauten, massiven Neandertaler am Tag fast 17000 Kilojoule (4000 Kilokalorien) umgesetzt haben. Dass sie es verstanden, sich mit solchen Mengen an energiereicher Nahrung zu versorgen, spricht für ihre Fertigkeit als Jäger. Sich gehaltvolle Mahlzeiten zu beschaffen, gelang dem Menschen im Verlauf seiner Geschichte immer besser. Er erfand das Kochen, die Landwirtschaft und schließlich die moderne Fertignahrung. Der Erfolg dieser Errungenschaften spiegelt sich seit Jahrtausenden im Bevölkerungswachstum.

Kochen erhöht den Nährwert von Wildpflanzen, weil sich die in ihnen enthaltenen Nährstoffe nun leichter aufschließen lassen (siehe Kasten Seite 34). Seit der Mensch Pflanzen kultiviert, versucht er, ihre Eigenschaften zu seinem Nutzen zu verändern. Er züchtet ertragreichere, besser bekömmliche und nahrhaftere Sorten. Im Grunde macht er die Pflanzenprodukte tierischen Nahrungsmitteln ähnlicher. Dies setzt sich heute in gezielten genetischen Eingriffen fort, wenn etwa Früchte oder Getreide auf diesem Wege mit für den Menschen wichtigen Inhaltsstoffen angereichert werden. Auch der Trend zu Energiedrinks und Energieriegeln als Ersatz für ganze Mahlzeiten führt eigentlich nur die Entwicklung zu immer konzentrierterer Kraftnahrung weiter, die in grauer Vorzeit begann. Von Anfang an hatte der Mensch das Bestreben, mit geringstmöglichem Aufwand aus einer kleinstmöglichen Nahrungsmenge die größtmögliche Nährstoffausbeute zu gewinnen.

An sich ist diese Strategie offensichtlich sehr erfolgreich. Noch nie gab es so viele Menschen wie heute. Die Bedeutung energiekomprimierter Kost in der menschlichen Evolution spiegelt sich aber wohl am deutlichsten darin, dass weltweit ein Großteil der modernen Gesundheitsprobleme mit dem Nährstoffangebot zusammenhängt. Bei Unter- wie Überernährung weichen die Zustände von der Energiedynamik ab, die unsere Vorfahren einst etablierten.

Neue Fettsucht in der Dritten Welt

Viele Kinder aus ländlichen Gebieten der Dritten Welt erhalten minderwertige Kost. Darum bleiben sie im Wachstum zurück, und auch die dadurch bedingte Kindersterblichkeit ist hoch. Diese Kinder bekommen besonders in der Zeit des Abstillens und danach kein so nährstoffhaltiges, energiereiches Essen, wie sie es gerade in diesem Alter starken Wachstums bräuchten. Als Neugeborene waren sie meist ebenso groß und wogen ebenso viel wie Kinder aus wohlhabenden Ländern. Aber mit drei Jahren sind sie viel kleiner und zarter, vergleichbar den untersten zwei bis drei Prozent der Kinder aus Industrieländern.

Dagegen steigt in unserer Überflussgesellschaft nicht nur der Prozentsatz stark übergewichtiger Erwachsener, sondern auch der fettsüchtiger Kinder schnell an. Unser natürliches Verlangen nach Nahrungsmitteln von hohem Energiegehalt – besonders auch das nach Zucker und Fett – können wir leicht und zudem preiswert stillen. Nach Einschätzung von Ärzten ist in Deutschland jedes zehnte bis zwanzigste Kind zu dick. Von den Erwachsenen sind über die Hälfte der Männer und vierzig Prozent der Frauen übergewichtig, davon etwa jede fünfte Person stark.

Schweres Übergewicht tritt neuerdings auch in der Dritten Welt häufig auf. Noch vor weniger als einer Generation kam es dort fast nicht vor. Der Hintergrund ist, dass Menschen aus ländlichen Gebieten, die als Kind unterernährt waren und später in die Stadt zogen, dort viel mehr und kräftiger essen können. Übergewicht bis hin zur Fettsucht – wie verschiedene andere Zivilisationskrankheiten – ist gewissermaßen die Folge des uralten Bestrebens, Energie aus der Nahrung in möglichst kompakter Form mit möglichst wenig Aufwand zu beziehen. Wir sind Opfer unseres eigenen evolutionären Erfolgs. Wir schmachten nach Kalorienbomben, aber die körperliche Arbeit, den Bewegungsaufwand, den frühere Menschen dafür leisten mussten, ersparen wir uns geflissentlich.

Fleisch oder Kohlenhydrate – egal

Wie groß dieses Missverhältnis ist, zeigen heutige Kulturen mit traditioneller Lebensweise. Die Evenki Sibiriens beziehen über vierzig Prozent ihrer täglichen Nahrungsenergie aus Fleisch. Das ergaben Studien, die ich in Zusammenarbeit mit Michael Crawford von der Universität von Kansas in Lawrence und Ludmilla Osipova von der russischen Akademie der Wissenschaften in Nowosibirsk durchführte. US-Amerikaner decken weniger als einen halb so großen Anteil ihres Energiebedarfs mit Fleisch. Zwar kommen in kleinerer Menge andere tierische Produkte hinzu. Dennoch ist der Unterschied deutlich (siehe Tabelle Seite 36). Es sollte nachdenklich stimmen, dass die Männer der Evenki um zwanzig Prozent magerer sind als amerikanische Männer und einen dreißig Prozent niedrigeren Cholesterinspiegel haben.

Zum einen hängt das mit dem Fettanteil der Kost zusammen. Bei Amerikanern beträgt der Energieanteil aus tierischen und pflanzlichen Fetten 35 Prozent, bei den Evenki nur zwanzig Prozent, denn ziehende Rentiere weisen einen geringeren Körperfettgehalt auf als Hausvieh. Außerdem setzt sich das Fett von frei lebenden Tieren günstiger zusammen: Es enthält weit weniger gesättigte und mehr mehrfach ungesättigte Fettsäuren. Zum anderen ist bei einem Kulturenvergleich zu beachten, dass ein Evenki bei seiner Lebensweise viel mehr Energie verbrennt als der Durchschnittsamerikaner.

Doch dass verschiedene Gesundheitsprobleme zunehmen, ist nicht den heutigen Ernährungsgewohnheiten allein anzulasten. Vielmehr passen Ernährung und Lebensweise oft schlecht zusammen. Auch wenn wir anders essen als unsere Vorfahren: Es gibt für den Menschen nicht die eine natürliche Ernährung – genauso wenig, wie Lebensmittel an sich gut oder schlecht sind. In diesem Sinne halte ich auch die Diskussionen darüber für zu einseitig, ob man bei einer Schlankheitsdiät besser auf Kohlenhydrate oder auf Fette verzichten sollte.

Wollte man unsere Spezies auf eine optimale Kost festlegen, wäre dies viel zu grob vereinfacht. Das Bemerkenswerte am Menschen ist gerade die außerordentliche Vielfalt und Verschiedenartigkeit der Ernährung. Homo sapiens kann sich in fast jedem Ökosystem der Erde behaupten. Manche Bevölkerungen extremer Lebensräume essen hauptsächlich tierische Nahrung – wie viele Bewohner arktischer Lebensräume –, andere fast nur Pflanzenkost, wie die Menschen in den hohen Anden, die weitgehend von Knollen und Getreide leben. Das Besondere der menschlichen Evolution war, dass unsere Urahnen mannigfaltige Wege fanden, unsere ureigenen Stoffwechselbedürfnisse zu befriedigen. Der Trend, der Natur energiereiche Nahrung immer effizienter abzuringen, setzt sich bis heute fort. Allerdings besteht die Herausforderung heute darin, nicht mehr zu essen, als wir auch verbrennen.

Literaturhinweise


Dispersal from Africa. Von Susan C. Antón, William R. Leonard und Marcia L. Robertson in: Journal of Human Evolution, Bd. 43, S. 773 (2002).

Ecology, Health and Lifestyle Change among the Evenki Herders of Siberia. Von W. R. Leonard et al. in: Human Biology of Pastoral Populations. Von W. R. Leonard und M. H. Crawford (Hg.). Cambridge University Press, 2002.

Human Biology: An Evolutionary and Biocultural Approach. Von Sara Stinson et al. (Hg.). Wiley-Liss, 2000.

Evolutionary Perspectives on Human Nutrition: The Influence of Brain and Body Size on Diet and Metabolism. Von W. R. Leonard und M. L. Robertson in: American Journal of Human Biology, Bd. 6, S. 77 (1994).


In Kürze


- In der menschlichen Evolution wurden energetisch konzentrierte Nahrung und Effizienz der Nahrungsbeschaffung zunehmend wichtig. Beides ermöglichte die Vergrößerung des Gehirns – was wiederum die Nahrungsqualität noch mehr erhöhte.
– Heutige traditionelle Kulturen ernähren sich extrem verschieden. Ursache von Zivilisationskrankheiten ist nicht, wie oft verlautet, eine gewissermaßen unnatürliche Kost. Vielmehr stehen Energiezufuhr und verbrauch nicht im Einklang.


Die Küche des frühen Menschen – Heizte Kochen die Evolution zum Jäger an?


Nicht nur tierische Nahrung eignet sich, um energiereich zu essen. Richard Wrangham von der Harvard Universität in Cambridge (Massachusetts) und seine Kollegen vermuten, dass die Hominiden zunächst ihren zunehmenden Energiebedarf deckten, indem sie stärkehaltige Pflanzenteile, hauptsächlich Knollen, erhitzten. Kochen macht pflanzliche Nahrung einerseits weicher und so leichter kaubar. Es schließt vor allem aber manche komplexen Kohlenhydrate (wie Stärke) auf, die sich dann viel besser verdauen lassen und somit im Ganzen mehr Energie liefern.Nach Wrangham könnte Homo erectus bereits vor 1,8 Millionen Jahren das Kochen erfunden haben. Nach seiner Ansicht wurden dadurch die Backenzähne kleiner und das Gehirn größer. Erst die zusätzlichen Kalorien erlaubten dem Menschen, mehr als vorher Tiere zu jagen, ein Energie zehrendes Unterfangen. Energetisch erschiene dieses Szenario einleuchtend. Allerdings ist fraglich, ob der Mensch das Feuer schon so früh beherrschte. Wrangham und sein Team nennen Koobi Fora und Chesowanja. Die beiden ostafrikanischen Fundstätten sind 1,6 beziehungsweise 1,4 Millionen Jahre alt und weisen Feuerspuren auf. Doch ob Menschen diese Feuer entfachten und unterhielten, ist umstritten. In Europa zumindest gelang das wohl erst sehr viel später. Hier sind die ältesten eindeutigen Anzeichen für den kontrollierten Gebrauch von Feuer 200000 Jahre alte Steinherde und verkohlte Tierknochen. Dass die Kunst zu Kochen die menschliche Ernährung wesentlich verbesserte, steht fest. Die Frage ist nur, wie alt diese Fertigkeit ist.


Die Kost der Neandertaler – Rekordverdächtiger Fleischkonsum


Um die Ernährungsgewohnheiten früherer Menschen herauszufinden, verwenden Anthropologen heute neben den bewährten anatomischen und archäologischen Verfahren auch chemisch-physikalische Methoden. Sie nutzen dabei die Erkenntnis, dass verschiedenartige Nahrungsmittel die chemischen Elemente jeweils in bestimmter Isotopenzusammensetzung enthalten, Fleisch beispielsweise in einer anderen als Pflanzenkost. Dies spiegelt sich langfristig in den Knochenproteinen. Michael Richards von der Universität Bradford (England) und seine Kollegen maßen kürzlich Isotopenverhältnisse von Kohlenstoff und Stickstoff unter anderem in den 29000 Jahre alten Neandertalerfossilien aus der Vindija-Höhle in Kroatien. Sie bestimmten dazu Werte für das gerüstbildende Kollagen, das in Knochen die Hauptproteinmasse ausmacht. Dabei kam heraus, dass die Neandertaler als Proteinquelle fast nur Fleisch verzehrt haben müssen. Das Kollagen ihrer Knochen wies ähnliche Stickstoffwerte auf wie bei Raubtieren nördlicher Regionen, etwa Füchsen und Wölfen. Richards sieht damit die Ansicht widerlegt, die Neandertaler seien auch deswegen untergegangen, weil sie sich nicht genügend Nahrung zu beschaffen verstanden. Vielmehr hält er sie – bei den Fleischmengen, die sie offenbar aßen – für versierte Jäger. Auch sonst finden Anthropologen und Archäologen immer mehr Hinweise darauf, dass die Fähigkeiten der Neandertaler bisher unterschätzt wurden (siehe SdW 6/2000, S. 42).

Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 2003, Seite 30
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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Unsere Vorfahren kletterten von den Bäumen und liefen allmählich auf zwei Beinen. Dieses Szenario war unter Fachleuten lange unstrittig. Doch inzwischen ist klar: So simpel lief es nicht ab, wie Fossilien und neue Grabungen an den berühmten 3,66 Millionen Jahre alten Fußspuren von Laetoli ergaben.

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