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Metallcluster und magische Zahlen

Untersuchungen an winzigen Metallklümpchen im Übergangsbereich zwischen einzelnen Atomen und makroskopischen Festkörpern können helfen, eine Brücke zwischen Quantenmechanik und klassischer Physik zu schlagen.

Was passiert, wenn man ein kleines Metallstück bis zum Sieden erhitzt und den Dampf durch eine Düse in eine Vakuumkammer strömen läßt? In dem expandierenden Strahl kondensiert das verdunstete Metall zu winzigen Klümpchen aus einigen wenigen bis zu mehreren tausend Atomen. Viel kleiner noch als Nebeltröpfchen oder Staubkörner, bilden diese Cluster – wie die Physiker die Aggregate nach dem englischen Wort für Haufen, Büschel oder Trauben nennen – eine eigene, faszinierende Materieform. Im Übergangsbereich zwischen isolierten Atomen und ausgedehnten Festkörpern oder Flüssigkeiten angesiedelt, überbrücken sie gewissermaßen die grundverschiedenen Welten von Mikro- und Makrokosmos.

Und so nimmt es nicht wunder, daß Cluster eine Vielzahl schwieriger grundlegender Fragen aufwerfen: Warum sind Aggregate einer bestimmten Größe stabiler als andere? Ab wievielen Atomen beginnen Cluster die Eigenschaften makroskopischer Körper anzunehmen? Und wie ändert sich ihre Struktur mit wachsendem Radius?

Außer theoretischen Physikern interessieren sich auch Praktiker für die winzigen Ansammlungen von Atomen. So wissen in der Industrie arbeitende Chemiker aus Erfahrung, daß mikroskopisch kleine Metallkügelchen oft hochwirksame Katalysatoren sind. Und in der Photographie spielen winzige Silbercluster – wenn auch nicht in isolierter Form – eine wichtige Rolle. Die prächtigen Farben von Kirchenfenstern rühren gleichfalls von mikroskopischen Metallclustern her, die durch Reduktion von Metallverbindungen in der Glasschmelze entstanden sind und das Licht bei spezifischen Frequenzen besonders gut absorbieren.

Um die Vorzüge von Clustern optimal nutzen zu können, sollte man möglichst genau verstehen, welche Prinzipien ihrer Bildung und Stabilität zugrunde liegen. Diesem Ziel sind wir im letzten Jahrzehnt sehr viel näher gekommen. Dabei zeigte sich, daß zwei Faktoren eine entscheidende Rolle spielen: die Bildung von elektronischen und von geometrischen Schalen.


Zahlenmagie und Stabilität

Ein Charakteristikum von Clustern, das es zu erklären galt, war das Phänomen, daß sie bevorzugt in bestimmten Größen vorkommen. Als die Chemiker vor etwa 150 Jahren das Periodensystem aufstellten, standen sie vor einem ähnlichen Rätsel: Die Elemente mit den Ordnungszahlen 2, 10, 18, 36 und 54 erwiesen sich als ungewöhnlich beständig: Im Gegensatz zu allen anderen ließen sie sich nicht dazu bringen, eine chemische Reaktion einzugehen, weshalb man sie als Edelgase bezeichnete. In diesem Jahrhundert stellte sich heraus, daß Atomkerne mit 2, 8, 20, 28, 50, 82 und 126 Protonen oder Neutronen – die Physiker sprechen von "magischen Zahlen" – gleichfalls besonders stabil sind. Dazu zählt etwa Blei mit 82 Protonen (ein Isotop dieses Metalls mit 126 Neutronen ist sogar doppelt magisch).

Und auch für Metallcluster hat man solche magischen Zahlen gefunden. Im Jahre 1984 verdampfte eine Forschergruppe an der Universität von Kalifornien in Berkeley Natrium und ermittelte die Häufigkeitsverteilung verschiedener Aggregate in dem heißen Gas. Erstaunlicherweise dominierten Verbände aus 8, 20, 40 oder 58 Atomen; offenbar zeichneten sie sich durch besondere Stabilität aus. Zwar werden auch andere Aggregate gebildet; bei genügend hohen Temperaturen dampfen von ihnen jedoch so lange Atome ab, bis ihre Zusammensetzung einer magischen Zahl entspricht. Weitere Experimente lieferten die Fortsetzung der Folge für heiße Natriumcluster; die nächsten Glieder lauten 92, 138, 198, 264, 344, 442 und 554. Diese magische Stabilität tritt besonders dann auf, wenn die Klümpchen aus Natriumatomen (dasselbe gilt für einige andere Metallcluster) so heiß sind, daß die Atome nicht wie in einem Festkörper eine starre Anordnung haben, sondern sich wie in einer Flüssigkeit relativ frei bewegen können.

Die Tendenz der Cluster, genau in diesen Größen vorzukommen, hängt mit den Gesetzen der Quantenmechanik zusammen. Ebenso wie bei einzelnen Atomen rührt auch bei ihnen die Stabilität gewisser Konfigurationen letztlich daher, daß gebundene Elektronen nur bestimmte Energien haben dürfen. Die Stellung eines Elements im Periodensystem hängt nämlich von der Anzahl seiner Elektronen (und Protonen) ab, die mit der seinerzeit ermittelten Ordnungszahl identisch ist. Die Edelgase haben gerade so viele Elektronen, daß diese in kompakter Anordnung ziemlich nahe am Kern Platz finden. Alle anderen Elemente enthalten zusätzliche Elektronen, die nur relativ lose gebunden sind und sich im Mittel deutlich weiter außen aufhalten. Als sogenannte Valenzelektronen verleihen sie dem jeweiligen Atom seine Reaktionsfähigkeit und bestimmen, welche und wie viele Bindungen es mit anderen Atomen eingehen kann.

In Metallclustern (wie auch in einem makroskopischen Stück Metall) sind diese Valenzelektronen nicht mehr an ihre ursprünglichen Atome gebunden, sondern können sich frei umherbewegen, weshalb man sie als delokalisiert bezeichnet. Da sie von den verbliebenen, positiv geladenen Atomrümpfen angezogen werden, halten sie sich allerdings innerhalb des Clusters oder in seiner unmittelbaren Nähe auf.

Um zu verstehen, warum bestimmte Atomzahlen besonders stabile Aggregate ergeben, müßte man eigentlich die genaue Anordnung aller Atomrümpfe und Valenzelektronen ermitteln. Doch dies ist – zumindest für größere Cluster – praktisch unmöglich. Zum Glück zeigte sich, daß es für eine Reihe brauchbarer Resultate genügt, die Cluster als weichen Gelee oder Pudding zu betrachten, der mit seiner positiven Gesamtladung die Valenzelektronen anzieht. Diese Näherung hat man Gelium-(oder englisch Jellium-)Modell genannt.

Nach den Regeln der Quantenmechanik müssen die Energien der Elektronen quantisiert sein, können also nur bestimmte diskrete Werte und keine Beträge dazwischen annehmen. In einem Atom haben die Energieniveaus der Elektronen unterschiedliche Abstände: Es gibt Gruppen nahe beieinander liegender Niveaus, die durch größere Zwischenräume getrennt sind. Aus historischen Gründen nennt man solche eng benachbarten Gruppen Schalen, obwohl die Elektronen sich nicht wirklich in schalenförmigen Gebieten aufhalten.

Die Plätze in einer solchen Schale sind begrenzt, weil nach einer von Wolfgang Pauli (1900 bis 1958; Physik-Nobelpreis 1945) entdeckten quantenmechanischen Regel jedes Energieniveau nur eine bestimmte Zahl von Elektronen aufnehmen kann. Wenn nun eine oder mehrere Schalen vollständig gefüllt sind, tritt gewissermaßen ein Sättigungseffekt auf: Das Atom hat keine lose gebundenen Valenzelektronen mehr, um mit anderen zu reagieren, und ist somit besonders stabil. Analoges gilt für Metallcluster; auch hier existieren Schalen, und die magischen Zahlen entsprechen der Anzahl von Elektronen, bei der eine oder mehrere davon gerade vollständig gefüllt sind, was den Cluster besonders stabil macht. (Auf die gleiche Weise erklären Protonen- und Neutronen-Energieschalen bei Atomkernen die dort beobachteten magischen Zahlen; vergleiche Spektrum der Wissenschaft, September 1988, Seite 42, und Dezember 1996, Seite 54.)

Die stabilsten Metallcluster sind annähernd kugelförmig. Wenn die vorhandenen Elektronen die höchste Energieschale jedoch nicht vollständig auffüllen, wird das Aggregat flach oder länglich, so daß es etwa einem Pfannkuchen oder einer Zigarre ähnelt; es kann sogar Birnen-, Zitronen- oder Rhomboederform annehmen oder auch gar keine Symmetrie mehr aufweisen. Bei der Verformung spaltet sich die Schale in Subschalen mit teils niedrigerer und teils höherer Energie auf. Indem die Elektronen nur diejenigen mit geringerer Energie besetzen, erniedrigt sich die Gesamtenergie des Systems; der so erzielte Stabilitätsgewinn ist allerdings wesentlich geringer als beim vollständigen Auffüllen der Elektronenschalen. Ähnliche Verformungen kennt man schon lange bei Atomkernen, weshalb die theoretischen Verfahren zur Behandlung deformierter Cluster zum Teil der Kernphysik entlehnt sind.


Superschalen

Obwohl sich die Elektronenschalen von Clustern und die entsprechenden magischen Zahlen also quantenmechanisch vollständig erklären lassen, bleibt eine solche Herleitung für Laien gewöhnlich unbefriedigend; denn die Regeln der Quantenmechanik sind sehr abstrakt und stehen teils in irritierendem Widerspruch zur Alltagserfahrung. Zum Verständnis der magischen Zahlen bietet sich allerdings auch ein anderer Zugang, der intuitiv leichter nachvollziehbar ist.

Grundlage dieses Ansatzes ist die Theorie der periodischen Bahnen, die in den frühen siebziger Jahren als Brücke zwischen Quantenmechanik und klassischer Physik entwickelt wurde. Damit lassen sich die Energien der wichtigsten Schalen in Systemen mit Elektronen oder anderen kleinen Teilchen relativ einfach bestimmen.

Um leichter einzusehen, wie diese Theorie bei Clustern funktioniert, kann man sich die Aggregate als Hohlkugeln vorstellen, in denen die Elektronen mit konstanter Geschwindigkeit auf geradlinigen Bahnen umherschwirren – eine grobe Übersetzung der auf das Innere des Clusters beschränkten, dort aber freien Beweglichkeit der Valenzelektronen in ein klassisches Bild. Wie Billardkugeln an der Bande oder Lichtwellen an einem Spiegel prallen die Elektronen von der Innenwand jeweils unter dem gleichen Winkel ab, unter dem sie aufgetroffen sind. Physikalisch von Interesse sind dabei die periodischen Bahnen, bei denen ein Elektron nach mehreren Wandstößen in die Ausgangssituation zurückkehrt und seinen Umlauf von vorne beginnt.

Diese Bahnen haben die Form gleichseitiger Vielecke (Polygone) – auch sternförmiger mit sich überschneidenden Streckenzügen. Um die Verteilung erlaubter Energieniveaus näherungsweise zu berechnen, braucht man nur die kürzesten und häufigsten Bahntypen in Betracht zu ziehen. Die drei kürzesten sind Diagonalen, Dreiecke und Vierecke, aber aus Symmetriegründen kommen Diagonalen viel seltener vor als die beiden anderen Figuren. (Das hängt damit zusammen, daß es für eine Diagonale nicht so viele Möglichkeiten gibt, sie durch Rotation in eine gleichartige, aber anders orientierte Bahn zu überführen, weil Drehungen um ihre Längsachse die Orientierung nicht verändern.) Verwendet man lediglich die dreieckigen und viereckigen Bahnen zur Berechnung, ergibt sich eine annähernd sinusförmige Energieverteilung, deren Minima gleiche Abstände voneinander haben. Diese Minima entsprechen den Elektronenschalen beziehungsweise den magischen Zahlen.

Genau besehen, ist das Energieverteilungsmuster freilich die Überlagerung zweier Sinuswellen mit leicht unterschiedlichen Frequenzen: einer von den dreieckigen und der anderen von den viereckigen Bahnen (Bild 2). Diese Überlagerung verursacht eine sogenannte Schwebung: eine zusätzliche Modulation der Wellenamplitude mit einer sehr viel längeren Periode, die proportional zur Frequenzdifferenz zwischen den beiden interferierenden Wellen ist. (Solche Schwebungen sind aus der Akustik wohlbekannt und machen sich zum Beispiel unangenehm bemerkbar, wenn zwei Sänger nicht genau denselben Ton treffen.) Die Folge ist, daß die Stabilität der Schalen und damit auch die Bildungswahrscheinlichkeit der verschiedenen Cluster mit der längeren Periode steigt und fällt. Die zwischen zwei Schwebungsminima liegenden Schalen werden zusammenfassend als Superschalen bezeichnet.

Im Prinzip sollten auch Atomkerne Superschalen aufweisen; doch erreichen sie nicht die dazu erforderliche Größe: Erst bei bei einem Verband aus etwa 800 bis 1000 Teilchen tritt die erste Superschalen-Schwebung auf; die schwersten bisher erzeugten Kerne enthalten jedoch nicht einmal 200 Neutronen und 120 Protonen. Bei großen Metallclustern dagegen wurden Superschalen schon ein Jahr nach ihrer theoretischen Vorhersage auch experimentell nachgewiesen – erstmals 1991 bei heißen Natriumclustern von Forschern am Niels-Bohr-Institut in Kopenhagen in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern vom Max-Planck-Institut für Festkörperforschung in Stuttgart. Kurz darauf fanden Physiker am Laboratoire Aimé Corton in Orsay (Frankreich) Hinweise auf Superschalen bei Lithiumclustern, und ein Forscherteam an der Universität Lyon I entdeckte das Phänomen auch beim Gallium.

Nach der Theorie der periodischen Bahnen für das Hohlkugelmodell sollte die dritte Wurzel einer magischen Zahl (sie ist ein ungefähres Maß für den Radius des betreffenden Clusters) von einer Schale zur nächsten um denselben Betrag zunehmen. Tatsächlich ergibt sich eine Gerade, wenn man die Kubikwurzeln der für verschiedene Metallcluster erhaltenen magischen Zahlen gegen die Schalennummer aufträgt (Bild 3 unten). Ihre Steigung von etwa 0,61 stimmt mit dem von der semiklassischen Theorie vorausgesagten Wert (0,603) auf ein Prozent genau überein. Eine quantenmechanische Rechnung mit dem Gelium-Modell für Cluster mit bis zu einigen tausend Atomen liefert sogar exakt den experimentellen Wert.


Ideale Polyeder

Der griechische Philosoph Platon (427 bis 348/47 vor Christus) stellte sich die Grundbausteine der Materie als regelmäßige Polyeder vor, die man ihm zu Ehren seither platonische Körper nennt. Damit hatte er zwar unrecht, doch bei kalten Metallclustern trifft seine Theorie in gewissem Sinne zu. Wenn sich tausend oder mehr Atome bei relativ niedrigen Temperaturen langsam zusammenballen, entstehen winzige starre Partikel mit regelmäßigen geometrischen Formen, in denen die Atome ähnlich dicht gepackt sind wie die Orangen in den aufgeschichteten Pyramiden beim Obsthändler.

Die ersten Hinweise darauf, daß solche kalten Cluster bevorzugt Polyederform annehmen, erhielten Physiker am Max-Planck-Institut für Festkörperforschung 1991, als sie Natriumatome bei tiefen Temperaturen aggregieren ließen. Dabei fanden sie völlig andere Größen für die stabilsten Verbände als im Falle hoher Temperaturen. Demnach mußte eine abweichende Folge von magischen Zahlen gelten. Sie entsprach, wie man bald herausfand, den Atomzahlen, mit denen sich ein idealer Ikosaeder – ein Körper mit 20 dreieckigen Seitenflächen – aufbauen läßt, und entsteht, wenn an die vorhandenen Ikosaeder jeweils eine weitere Atomlage angefügt und so der nächstgrößere Zwanzigflächner gebildet wird (siehe Kasten auf Seite 36).

Während bei den heißen Clustern gefüllte Elektronenschalen für Stabilität sorgen, sind es hier statt dessen Atomschalen, die sich nach dem Zwiebelschalenprinzip übereinanderschichten. Polyederförmige Aggregate sind stabiler als unregelmäßige Strukturen, weil sie weniger Kanten und Ecken aufweisen, an denen die Atome nur wenige Bindungspartner haben und sich deshalb relativ leicht ablösen können. Wie es scheint, schätzt die Natur das ökonomische, energiesparende Bauprinzip platonischer Körper.

Auch bei kalten Metallclustern ergibt sich eine Gerade, wenn man die dritte Wurzel der magischen Zahlen gegen die Schalennummer aufträgt, aber sie hat eine andere Steigung als bei den heißen Aggregaten (Bild 3). Außerdem findet man für verschiedene Arten kalter Cluster unterschiedliche Steigungen – vermutlich weil jeweils andere Polyeder realisiert sind. So beträgt der Wert bei Natrium und Calcium etwa 1,5, was auf Ikosaeder schließen läßt. Dagegen erhält man für Aggregate aus jeweils der gleichen Anzahl von Natrium- und Jod- oder Natrium- und Chloratomen eine Steigung von genau 1,0, was einem Würfel entspricht. Warum der eine oder der andere Polyeder gebildet wird, ist noch weitgehend unklar, muß aber mit den spezifischen Bindungsverhältnissen zwischen den beteiligten Atomen zusammenhängen.

Besonders rätselhaft ist die Steigung, die man bei kalten Aluminium- oder Indiumclustern findet. Mit nur 0,220 liegt sie sowohl deutlich unter dem Wert für stabile Elektronenschalen (0,6) als auch unter dem für diverse platonische Körper wie Tetraeder (0,550), Oktaeder (0,874), Ikosaeder (1,493) und Würfel (1,0). Es gibt überhaupt keinen idealen Polyeder, der beim Wachsen um jeweils eine Atomlage die beobachtete Folge von magischen Zahlen ergäbe.

Das Stuttgarter Team schlug als mögliche Erklärung vor, daß die Aluminium- oder Indiumcluster als Oktaeder wüchsen, wobei aber von einer magischen Zahl zur nächsten nur jeweils eine der dreieckigen Flächen mit einer weiteren Atomlage bedeckt würde (siehe Kasten auf Seite 36). Dadurch käme die beobachtete flache Steigung zustande. So plausibel die Hypothese scheint, läßt sie aber die Frage offen, warum vollständige Oktaeder nicht viel stabiler sind als solche, bei denen nur einzelne Flächen einen zusätzlichen Belag erhalten haben.

Interessanterweise bestimmen die magischen Zahlen für Anordnungen aus dicht gepackten Atomen nicht eindeutig die Form der entsprechenden Polyeder. So gelten für Ikosaeder und Kuboktaeder (Würfel mit abgeschnittenen Ecken) dieselben Werte. Akribische Untersuchungen an kalten Calciumclustern sprechen zwar für die Ikosaederstruktur. Aber da bisher niemand die Aggregate direkt gesehen hat, bleibt ein Rest Ungewißheit. Im Prinzip könnte man größere Cluster zwar mit dem Elektronenmikroskop beobachten; nur müßten sie dazu in Ruhe sein. Freie Cluster bilden sich jedoch in einem Strahl schnell dahinfliegender Atome, und man kann sie nicht anhalten, ohne ihre Form zu ändern.


Konkurrenz der Regime

Bei genügend großen Metallclustern ringen also zwei Systeme darum, Stabilität und Form zu bestimmen: Elektronen- und Atomschalen. Welches sich durchsetzt hängt von Größe und Temperatur der Aggregate ab. Nun läßt sich die Temperatur eines Clusters in einem Teilchenstrahl aber nur sehr schwer messen – man kann sich sogar fragen, ob sie überhaupt eine sinnvolle Größe darstellt. Streng genommen, ist die Temperatur nämlich nur für Systeme aus sehr vielen Teilchen im thermodynamischen Gleichgewicht definiert. Eben diese Bedingung läßt sich bei Cluster-Experimenten aber kaum erfüllen: Jedes Metallklümpchen in einem Teilchenstrahl folgt, unbeeinflußt von den anderen, seiner eigenen Bahn; bei dieser wechselseitigen Isolierung kann sich kein thermodynamisches Gleichgewicht einstellen. Da man an ein so kleines Objekt andererseits aber auch kein Thermometer halten kann, läßt sich die Temperatur nicht ohne weiteres ermitteln.

Dennoch ist die Tendenz klar. Erhitzt man die Düse der Teilchenquelle unter genau kontrollierten Bedingungen, dann scheint sich irgendwann die für ordentlich gepackte Ikosaeder aus kalten Natriumclustern typische Schalenstruktur aufzulösen. Dieser Übergang läßt sich als Schmelzen interpretieren; dabei hängt die scheinbare Schmelztemperatur von der Clustergröße ab.

Bei Aluminiumclustern hat man ähnliche Übergänge gefunden, wenn die Temperatur der Teilchenquelle 500 Kelvin (Celsiusgrade über dem absoluten Temperaturnullpunkt bei -273,15 Grad Celsius) überstieg – was noch weit unter der Schmelztemperatur von normalem, festem Aluminium (933,5 Kelvin) liegt. Trägt man dann die dritte Wurzel der Atomzahlen für stabile Cluster gegen die Schalennummer auf, ergibt sich nicht mehr die Steigung 0,220, die dem Wachstum einzelner Oktaederflächen entspricht; statt dessen erhält man einen Wert von etwa 0,6, wie er für Elektronenschalen typisch ist. Alles spricht somit dafür, daß diese Cluster schon bei einer viel tieferen Temperatur schmelzen als das normale Metall.

Aber vielleicht geht diese Interpretation ebenfalls zu weit; genau wie die Definition der Temperatur ist nämlich – nach der gängigen Auffassung der Physiker und Chemiker – auch der Begriff eines Phasenübergangs bei so winzigen Objekten problematisch. Möglicherweise schmelzen die Cluster nur an der Oberfläche, und dies reicht aus, daß die vom Packungsmuster diktierte Struktur zerstört wird und die Elektronenschalen die Stabilität bestimmen.

Allerdings ist es Forschern an der Universität Freiburg kürzlich gelungen, an warmen Natriumclustern mit etwa 70 bis 200 Atomen kalorimetrische Messungen vorzunehmen, die eine Abgabe beziehungsweise Aufnahme von Wärme zeigen, wie sie für Phasenübergänge typisch ist. Schon früher hatte dieselbe Arbeitsgruppe einen etwas anderen, aber verwandten Übergang beobachtet. Um die Temperatur kleiner Natriumcluster genauer kontrollieren zu können, erdachten sie einen raffinierten Trick: Sie betteten die Cluster in eine Atmosphäre aus dem Edelgas Helium ein, deren Temperatur exakt einstellbar ist. Das Gas bildete dabei eine Art Wärmebad, in dem sich thermodynamisches Gleichgewicht einstellen kann, weil die Natriumcluster immer wieder mit Heliumatomen zusammenstoßen, ohne jedoch chemisch mit ihnen zu reagieren; und solange die Temperatur nicht allzu hoch ist, wird auch die Struktur der Cluster durch die Kollisionen nicht gestört.

Allerdings untersuchte das Freiburger Team nicht magische Zahlen, sondern das Ausmaß, in dem Natriumcluster einer bestimmten Größe das Licht eines durchstimmbaren Lasers über einen gewissen Frequenzbereich hinweg absorbieren (Bild 4). Solche Absorptionsspektren können viel über den physikalischen Zustand der bestrahlten Teilchen verraten; insbesondere unterscheiden sie sich stark für kalte feste Gebilde und heiße flüssige Tröpfchen. Bei Temperaturen unter 100 Kelvin erhielten die Freiburger Forscher Spektren mit vielen spitzen Zacken, wie sie für starre Atomanordnungen typisch sind, während bei 380 Kelvin nur noch zwei breite Höcker auftraten – und zwar exakt an den im Gelium-Modell berechneten Frequenzen.

Bei den kleinsten Clustern, deren Energie stets auch empfindlich von der Anordnung der Atome abhängt, kann man exakte quantenmechanische Berechnungen unter Berücksichtigung aller Elektronen durchführen. Sie liefern die detaillierte Molekülstruktur sowie genaue Aussagen zur Stabilität. Für größere Cluster mit hundert Atomen oder mehr sind solche Abinitio-Rechnungen zu aufwendig und langwierig, weshalb man auf das vereinfachte Gelium-Modell zurückgreift. Cluster mit vielen tausend Atomen schließlich lassen sich überhaupt nicht mehr quantenmechanisch behandeln; hier muß man sich mit der semiklassischen Theorie der periodischen Bahnen begnügen oder indirekt gewonnene Informationen aus den experimentell bestimmten magischen Zahlen heranziehen.

In dem Bemühen, die Serien magischer Zahlen bei Metallclustern und ihre Erweiterung auf immer größere Atomverbände zu verstehen, sind wir seit 1984 ein gewaltiges Stück vorangekommen. Einige Experimente lieferten schon ikosaedrische Natriumcluster aus 21||000 Atomen! Und doch enthält normales festes Natrium keine solchen Polyeder. Man kann mit ihnen ebensowenig einen Festkörper raumfüllend aufbauen wie mit Fünfecken eine Ebene lückenlos und überlappungsfrei überdecken – beide geometrischen Figuren haben dafür die falsche Symmetrie. Somit sind auch in den größten bisher erzeugten Natriumclustern die Atome völlig anders angeordnet als im Kristallgitter makroskopischer Metallstücke.

Einer der Gründe für das Studium von Clustern war der Wunsch, herauszufinden, wieviele Atome ein kleines Materieklümpchen enthalten muß, bis es die Eigenschaften makroskopischer Festkörper annimmt. Nun haben die Physiker mittlerweile zwar eine Menge über winzige Aggregate von Metallatomen und über den Zusammenhang zwischen magischen Zahlen und Stabilität gelernt; doch die Antwort auf die fundamentale Frage nach dem Wann und Wie des Übergangs zum makroskopischen Festkörper steht weiterhin aus. Einstweilen läßt sich nur sagen, daß die bisher betrachteten Cluster aus Metallatomen eine ebenso sonderbare wie einzigartige Materieform darstellen, die sicherlich weitere Überraschungen birgt.


Literaturhinweise

Clusters, Condensed Matter in Embryonic Form. Von Sven Bjørnholm in: Contemporary Physics, Band 31, Heft 5, Seiten 309 bis 324, September 1990.

The Physics of Metal Clusters. Von M. L. Cohen und W. D. Knight in: Physics Today, Band 43, Heft 12, Seiten 42 bis 50, Dezember 1990.

Cluster zwischen Atom und Festkörper. Von K. H. Meiwes-Broer und H. O. Lutz in: Physikalische Blätter, Band 47, Heft 4, Seite 283, April 1991.

The Physics of Simple Metal Clusters: Experimental Aspects and Simple Models. Von Walt A. de Heer in: Reviews of Modern Physics, Band 65, Heft 3, Teil 1, Seiten 611 bis 676, Juli 1993.

Self-Consistent Jellium Model and Semiclassical Approaches. Von Matthias Brack in: Reviews of Modern Physics, Band 65, Heft 3, Teil 1, Seiten 677 bis 732, Juli 1993.

Clusters of Atoms and Molecules. Von Hellmut Haberland. Springer Series in Chemical Physics, Band 52 und 56. Springer-Verlag, Berlin 1994.

Phasenübergänge in kleinen Molekülclustern. Von Udo Buck in: Physikalische Blätter, Band 50, Heft 11, Seite 1052; November 1994.

Shells of Atoms. Von T. P. Martin in: Physics Reports, Band 273, Heft 4, Seiten 199 bis 242, August 1996.

Semiclassical Physics. Von Matthias Brack und Rajat K. Bhaduri. Addison-Wesley, 1997.

Melting in Clusters. Von George Bertsch in: Science, Band 277, Seite 1619, 12. September 1997.


Kasten Seite 36:

Metallcluster sind bei bestimmten, magisch genannten Atomzahlen ungewöhnlich stabil. Haben sie sich bei niedrigen Temperaturen gebildet, ist der Grund dafür oft rein geometrisch. Zum Beispiel zeichnen sich sehr große kalte Natriumcluster durch besondere Stabilität aus, wenn sie gerade so viele Atome enthalten, daß diese sich zu einem dicht gepackten Ikosaeder – einem Polyeder mit 20 dreieckigen Seitenflächen – anordnen können (links). Bei kalten Aluminiumclustern ist die Situation dagegen etwas komplizierter. Sie sind am stabilsten, wenn die Atome sich zu perfekten Oktaedern zusammenlagern können (rechts). Aber auch bei Zwischengrößen treten Stabilitätsmaxima auf. Der Grund könnte sein, daß ein Cluster auch dann besonders stabil ist, wenn nur einzelne Oktaederflächen mit einer zusätzlichen Atomlage (rot, unten) bedeckt wurden. Da vier solche zusätzlichen Schichten genügen, den nächstgrößeren Oktaeder zu erzeugen, gibt es jeweils drei Zwischenmaxima.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1998, Seite 32
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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