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Migrationspolitik als Zitadellen-Politik


Jede ethnisch-kulturell vielfältige Gesellschaft birgt ein erhebliches Konfliktpotential, das vor allem von der Politik als zentraler Regulierungsinstanz bewältigt werden muß. Besonders gilt dies zu Zeiten, in denen wie gegenwärtig ein schneller ökonomischer Wandel auch tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen nach sich zieht und neue Integrations- und Desintegrationsprobleme sowohl für Minderheiten wie für die jeweilige Mehrheit aufreißt.


Erschwernisse der Integration

Vieles deutet darauf hin, daß die Integration zugewanderter Menschen in das gesellschaftliche System des Aufnahmelandes, die vor allem über Arbeit stattfindet, immer unsicherer wird; einzelne Gruppen werden oft sogar auf Dauer ausgeschlossen. Zwar betrifft diese Ausgrenzung zunehmend auch Angehörige der Mehrheit, weil Jugendliche keinen Ausbildungsplatz finden und bislang Berufstätigen gekündigt wird; aber Minderheiten wie die von Migranten befinden sich zudem noch politisch und zum Teil rechtlich außerhalb des gesellschaftlichen Systems.

Ist ihre Integration in solcher Weise prekär gefährdet, gewinnen kulturelle oder religiöse Muster innerhalb der jeweiligen Minderheit an Bedeutung: Die soziale Einbindung in die eigene ethnische Gemeinschaft wird verstärkt, die gesamtgesellschaftliche Integration mithin um so mehr erschwert.

Je unnachgiebiger die Frontstellung der Mehrheit ist, desto größer wird die Gefahr, daß eine ethnische Minderheit in eine Abkehrhaltung gedrängt wird. Sie sucht dann ihre Identität rigoros zu behaupten, indem sie ihre kulturelle Andersartigkeit betont oder auch den Anspruch auf Überlegenheit ihrer Religion – wie zum Beispiel extremer Spielarten des Islam – erhebt. Diese Verhaltensmuster und Gegenstrategien sind besonders geeignet, die Mitglieder einer solchen Minderheit zu mobilisieren, weil damit hochsensible Identitätsgefährdungen angesprochen werden.

So sehr von generellen Einstellungen abhängt, ob die Kluft zwischen Mehr- und Minderheit sich einebnet oder vertieft – grundlegend sind die staatliche Verfassung und die offizielle Politik sowie die Möglichkeiten des Zugangs zu sozialen Teilsystemen, außer zum schon genannten Arbeitsmarkt insbesondere zum Rechtssystem und zu Bildungseinrichtungen, sowie zur Teilhabe an politischen Entscheidungen. Die gegenwärtigen Schwierigkeiten in vielen gesellschaftlichen Bereichen machen dabei ein schwerwiegendes Dilemma besonders sichtbar:

Einerseits besteht eine paradoxe Tragik darin, daß eine Politik, die gerade auf Angleichung von Minder- und Mehrheit abzielt, nicht die erhoffte soziale Befriedung herbeiführt, sondern die Konflikte eher verschärft, wenn gleichzeitig die Konkurrenz um knappe Güter zunimmt, weil sich ökonomisches Wachstum mit Arbeitsplatzabbau verbindet. Denn wenn Angehörige der Minderheit sozial aufsteigen, tragen sie dazu bei, daß sich die Unterschichtung in der Gesellschaft auflöst. Zugleich hat erstmals in der Nachkriegsgeschichte ein Großteil der nächsten Jugendgeneration der Mehrheitsgesellschaft einen sozialen Abstieg gegenüber der Elterngeneration zu gewärtigen. Verteilungskämpfe und die Konkurrenz um Statuspositionen werden jedoch um so härter, je größer die Gefahren der Desintegration sind, die besonders von der zunehmenden Arbeitslosigkeit ausgehen.

Andererseits verfestigt eine Politik der Tatenlosigkeit die soziale Ungleichheit, etwa wenn Minderheiten politische Rechte verweigert werden. Ein Beispiel ist, daß im Lande geborene Kinder von Migranten nicht wie die der Einheimischen automatisch Staatsbürger werden. Mittelfristig resultiert daraus vor allem in den Großstädten eine problematische Segmentierung: Durch die demographische Entwicklung verschieben sich die Relationen der gesellschaftlichen Gruppen zugunsten der Minderheiten, und damit erhöhen sich deren Wettbewerbschancen. In vielen Ländern mit erheblichem Anteil an Zuwanderern hat sich diese Kombination aus einer verweigernden Frontstellung der Mehrheit und wachsenden Minderheiten als hochgradig konfliktanreizend erwiesen. Die Folgerung kann nur sein, daß es darauf ankommt, aktiv und ideenreich den sozialen Frieden zu gestalten.

Verdrängung der Probleme

Einfache wirkungsvolle Strategien dafür sind offenbar nicht vorhanden – und schon gar keine billigen; bloße Aufforderungen zu mehr Toleranz verpuffen. Um so mehr ist die Politik aufgerufen, weitsichtige konzeptionelle Überlegungen anzustellen und mutige Entscheidungen zu treffen, um zumindest eine Konfliktbalance zu erreichen. Diese müssen sowohl auf die Systemintegration, also auf individuelle Zugänge zum Arbeits-, Bildungs-, Rechts- und Politiksystem, als auch auf die Sozialintegration ausgerichtet sein, indem zum Beispiel Gemeinschaften von Minderheiten, die sich der Gesellschaft öffnen, unterstützt werden.

Lehrreich sind Entwicklungen in der größten Migrantengruppe in Deutschland, bei den Türken. Wo sie bereits in abgesonderten Stadtteilen und Wohnquartieren dominieren, bauen sie eine eigene Infrastruktur mehr und mehr aus. Diese aktive Segregation dient der ökonomischen Unabhängigkeit wie auch dem Bedürfniss nach kultureller Sicherheit, und sie erleichtert es den Bewohnern, Diskriminierungen leichter auszuhalten. Ein solcher Ausbau der eigenen ethnischen Gemeinschaft bei sozialräumlicher Abgrenzung ist so lange relativ unproblematisch, wie die individuelle funktionale Anpassung an die deutsche Gesellschaft – etwa durch Spracherwerb und Bildungsantrengungen – als sinnvoll angesehen wird, dadurch der Zugang zu wichtigen Funktionssystemen (wie Schulbesuch, berufliche Aus- und Weiterbildung, Arbeit, Umgang mit Behörden) ermöglicht ist und die Teilhabe daran nicht prinzipiell aufgekündigt wird.

Nun werden aber die Schließungstendenzen durch die Mehrheit deutlicher, und die Distanz zwischen Gruppen wird größer. Die Folge ist, daß sich die Ambivalenz der Integration durch Segregation in Richtung Desintegration verschiebt: Ausgrenzung (Fremdethnisierung) und eigene Abschottung (Selbstethnisierung) erheblicher Teile der Migranten-Minderheit verstärken sich gegenseitig. Charakteristisch dafür ist, daß sich die ethnisch-kulturelle Mischung in den Wohnvierteln immer mehr auflöst, der Kontakt zwischen Deutschen und Türken abnimmt, türkische Kinder und Jugendliche weniger und schlechter Deutsch lernen und türkische Bewohner häufiger eigene Gemeinschaften wie Sportvereine gründen.

Diese Entwicklung ist sehr problematisch, weil dadurch die Gefahr besteht, daß ein Großteil der dritten Migranten-Generation, also der heutigen türkischen Jugendlichen, in eine strukturelle Falle hineinmanövriert wird. So genügt ihre schulische Qualifikation dann immer weniger den wachsenden Anforderungen der Wirtschaft, etwa was Sprachkompetenz angeht. Als Reaktionen auf diese mißliche Lage besonders der dritten Migranten-Generation ergab eine von mir geleitete Untersuchung:

- Es gibt einen deutlichen Zusammenhang von Desintegration und islamisch-fundamentalistischen Orientierungen; je geringer ihre beruflichen und sozialen Chancen in der deutschen Gesellschaft sind, desto mehr neigen türkische Jugendliche dazu.

- Diejenigen, die sich derart stark religiös ausrichten, verweilen in besonders hohem Maße innerhalb der eigenen ethnischen Gemeinschaft.

- Und wer sich besonders gut von islamistischen Gruppen vertreten fühlt, bedient sich auch türkischer Medien, die wiederum diese Haltung stärken.

Die Verweigerung einer weitreichenden rechtlichen und politischen Systemintegration von Migranten ist unverantwortlich angesichts des bereits heute erkennbaren Staus von Angst, Wut und auch Kraft unter den jungen Inländern mit ausländischem Paß. So warnte kürzlich die Interessenvertretung "Türkische Gemeinde in Deutschland" davor, irgendwann würden junge Ausländer ohne deutsche Staatsangehörigkeit anfangen zu rebellieren.

Die Fronthaltungen schaffen die Voraussetzung für Konflikte, wie der Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington von der Harvard-Universität in Cambridge (Massachusetts) sie voraussagt: Nicht politische, ideologische oder wirtschaftliche Auseinandersetzungen würden den Zündstoff für künftige Konflikte oder Kriege abgeben, sondern die Gegensätze von Kulturen und Religionen.

Die fronthaltende Politik bedient sich wiederum der Huntington-Prognose, um sie gerade als Legitimation ihrer Strategie der Ausgrenzung zu nutzen. Damit ist allerdings die These Huntingtons widerlegt; denn von einer Konfrontation starrer, also essentieller Kulturen kann nicht die Rede sein: Es hat sich gezeigt, daß es die dominierende Politik der Fronthaltung selbst ist, die erst diese Konfrontation erzeugt.

Das Beispiel jener jungen Türken aus unserer Untersuchung zeigt es. Eine überwiegende Anzahl hält die Verbindung von Islam und moderner Gesellschaft für möglich; die Frage ist allerdings, unter welchen Bedingungen und wie lange angesichts der herrschenden Politik. Die Antwort ist offen, denn in zahlreichen Großstädten zeichnen sich vor dem Hintergrund der Ungleichheit weitreichende Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur ab (Bild 2), die sich noch verstärken werden, weil sich langfristig wirksame demographische Trends weitgehend einer kurzfristigen politischen Steuerung entziehen.

Eine Politik, die sich nicht der Tatsache stellt, daß ökonomische Desintegration und die Reaktivierung kultureller wie religiöser Modi der Integration in die jeweilige ethnische Gemeinschaft kontraproduktiv zusammenwirken können, und die zudem die demographischen Entwicklungen verdrängt, leistet mittelfristig der Bildung von strikt separierten Quartieren Vorschub: Sie nimmt in Kauf, daß sich die privilegierten Gruppen gleichsam in komfortable Zitadellen zurückziehen (müssen) und andere Gruppen von Mehrheit und Minderheit ihrem Schicksal überlassen werden. Auch in den übrigen Ländern Europas deutet vieles darauf hin, daß die ehedem als "Integrationsmaschine" apostrophierte Stadt in eben dieser Funktion versagt, weil sie sich gegenwärtig strukturell auf den Entwicklungsstand des 19. Jahrhunderts mit scharfen Spaltungen in bessere und heruntergekommene Viertel zurückbewegt.

Insgesamt ist festzustellen, daß sich Gesetzgeber, Regierung und Administration durchaus noch nicht mit konzeptioneller Entschiedenheit den Problemen der Migration zugewendet haben – im Gegenteil: An Einstellungen und Unterlassungen der Mehrheit und ihrer Organe lassen sich erhebliche Verdrängungsleistungen erkennen. Das Zusammenwirken von ökonomischer Desintegration und innerethnischer Abschottung, fronthaltender Politik mit entsprechenden Gesetzen sowie demographischer Entwicklung baut sozialen Druck auf, den nur eine weitsichtige neue Integrationsdebatte mindern könnte.

Wird die immer noch von vielen Politikern vertretene Position, Deutschland sei kein Einwanderungsland, weiterhin starr aufrechterhalten, sind riskante Konflikte zu gewärtigen – zumal sich eben diese Politik von der Steuerung des Arbeitsmarktes, einer zentralen Schleuse für Systemintegration, so gut wie zurückgezogen hat. Dies bedeutet auch, daß nun die Wirtschaft nicht mehr beim Thema Migration auf Versäumnisse der Politik verweisen kann, sondern künftig für Konflikte selbst mitverantwortlich gemacht werden muß.

Andererseits dürfen sich die Interessenverbände der Migranten nicht mehr nur darauf beschränken, eine Veränderung des Staatsbürgerrechts einzufordern. Die alltäglichen Konflikte zwischen Mehrheit und Minderheit verringern sich nicht durch Personalausweise – Frankreich, Großbritannien und die USA belegen dies unmißverständlich. Vernachlässigen liberale Interessenvertreter zugewanderter Minderheiten die gewöhnlichen Lebensumstände, geben sie eher integrationsfeindlichen Gruppen – etwa solchen islamisch-fundamentalistischer Ausrichtung – Aktionsraum. Diese bauen bereits mit großem Sendungsbewußtsein eine Infrastruktur nach ihren Vorstellungen aus. Letztlich ist jedoch nicht die Stärke solcher Gruppen das größte Problem, sondern die Schwäche der herrschenden Politik, das Desinteresse von Multikulturalisten am Alltag in den Stadtvierteln und auch die zu geringe öffentliche Präsenz liberaler Migrantengruppen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1997, Seite 64
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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