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Mikroelektronik wider die Inkontinenz

Querschnittgelähmte vermögen häufig ihre Blase nicht mehr kontrolliert zu entleeren, moderne Elektronik kann natürliche Funktionen zumindest teilweise ersetzen.


Wieviel langsamer müßten die umjubelten Formel-1-Piloten ihre Boliden um Haarnadelkurven steuern, würden ihnen die elektronischen Hilfsmittel im Fahrzeug fehlen. Hoch- entwickelte Sensorsysteme nehmen die Flut von Informationen über Funktionszustand und Lage des Fahrzeugs auf, Prozessoren bewerten diese Daten, eine vollelektronische Steuereinheit sorgt in Sekundenbruchteilen für die optimale Austarierung des Gefährts. Derartige Regelsysteme begleiten längst auch den Alltag, messen den Wasserfüllstand der Waschmaschine oder Winkelbeschleunigungen des Pkw.

Und der Mensch selbst? Ist er nicht ein noch komplexeres Regelwerk? Wie sinnvoll wäre es, kämen diese wunderbaren Errungenschaften moderner Technik auch jenen zugute, deren System aus dem Tritt geraten ist, beispielsweise Querschnittgelähmten mit einer gestörten Harnblasenfunktion.

Tag für Tag durchspülen mehr als 1500 Liter vom Herzen kommendes Blut die Nieren. Sie filtrieren Nützliches heraus und belassen giftige Endprodukte des Stoffwechsels im Harn. Der gelangt tröpfchenweise in die Blase, einem Hohlmuskel aus glatten Muskelzellen, und wird dort gesammelt.

Das Entleeren der Blase ist – im Normalfall – ein teils über mehrere Reflexbögen kontrollierter, teils bewußter Vorgang. Dehnungsrezeptoren messen den Füllstand und melden ihn über sensorische Fasern den zugehörigen Nervenzellen des Rückenmarks, dem sakralen Miktionszentrum ("sakral" bezeichnet die Kreuzbeingegend, "Miktion" ist der Fachbegriff für die Blasenentleerung). Das sendet Steuersignale zurück, die eine Kontraktion der Harnblase und ein Erschlaffen des Schließmuskels am Zugang zur Harnröhre bewirken. Dieser Reflexbogen steht in Konkurrenz mit einem zweiten, der mit zunehmender Dehnung der Blasenwand die Kontraktion des Schließmuskels noch verstärkt – sozusagen ein Sicherheitsschaltkreis, der verhindert, daß eine kurzfristige Druckerhöhung etwa infolge einfachen Hustens bereits die Blase entleeren läßt.

Beide Reflexbögen stehen unter der Kontrolle höherer Instanzen. Insbesondere wird der erste beim Gesunden durch hemmende Impulse eines Miktionszentrums in der "Pons" beziehungsweise "Brücke" des Hirnstammes vorübergehend außer Kraft gesetzt. Das wiederum untersteht insbesondere der Steuerung durch das Großhirn, das über sensorische Nervenfasern ebenfalls Informationen über die Dehnung der Blasenwand empfängt und den Harndrang bewußt macht. Beim Toilettengang gibt diese oberste Kontrollinstanz sozusagen grünes Licht: Die Hemmung der Blasenmuskulatur wird blockiert, der Sphinkter erschlafft, und der Harn wird durch Druckerhöhung ausgetrieben.

Angesichts des komplexen Zusammenspiels aus Erregung und Hemmung von Muskelkontraktionen verwundert es nicht, daß angeborene Mißbildungen, Operationen im kleinen Becken, neurologische Erkrankungen bis hin zu Querschnittlähmungen diese Abläufe stören, ja völlig außer Kraft setzen können.

Bei einer Verletzung des Rückenmarks oberhalb des sakralen Miktionszentrums entfällt die übergeordnete, vom Großhirn ausgehende Steuerung. Ab einem bestimmten Harnvolumen löst dann der zuerst beschiebene Reflexbogen die Kontraktion der Blase automatisch aus. Unfreiwilliger Urinverlust ist aber noch das geringere Problem: Ohne die Kontrolle steht der Schließmuskel unter dauernder Anspannung; diese Spastik kann ohne Hemmung durch übergeordnete Zentren sogar noch stärker werden. Die Folge: Der wachsende Druck vermag Harnblase, Harnleiter und Nieren zu schädigen, ja sogar zu zerstören.

Medikamente dagegen gibt es kaum, mechanische Hilfsmittel wie Katheter und Windeln können helfen, den Urin abzuleiten oder zumindest kontrolliert aufzufangen. Operative Eingriffe zur Ableitung oder Umleitung der Flüssigkeit über ein vom Darm abgetrenntes und quasi "zweckentfremdetes" Segment sind zwar erfolgreich, doch aufwendig, und meist fällt ihnen die Harnblase teilweise oder gänzlich zum Opfer.

Einen organerhaltenden Therapieansatz offeriert die Mikroelektronik durch den Eingriff in die Steuerungssysteme der Harnblase. Folgende Forderungen müßte ein optimales Implantat erfüllen:
‰ Es aktiviert beziehungsweise blockiert die verschiedenen vom Rückenmark zur Blase ziehenden Nervenfasern;
‰ um die Speicherfunktion wiederherzustellen, erkennt und unterdrückt es solche Nervensignale, die eine unkontrollierte Anspannung, eine Spastik, der Blasenmuskulatur auslösen würden;
‰ ein Patient kann per Knopfdruck über ein externes Steuergerät die Entleerung einleiten – das Implantat bewirkt durch Nervenerregung die Kontraktion der Blase und hemmt die Spastik des Schließmuskels.
‰ Ein optimaler Blasenstimulator registriert zudem das Füllvolumen der Harnblase und meldet kritische Zustände.

Wie sieht die Praxis aus? Bei der sogenannten sakralen Vorderwurzelstimulation wird die schützende harte Rückenmarkshaut (Dura mater) im Übergang von Lenden- und Kreuzbeinbereich geöffnet und Stimulationselektroden jeweils an den Vorderwurzeln bestimmter Rückenmarksnerven plaziert, die zwischen den Wirbeln aus der Kreuzbeinregion austreten und von dort aus zur Blase ziehen. Die Steuerelektronik setzt der Arzt unter die Bauchdecke; der Patient bedient sie von außen, wobei die Signale durch elektromagnetische Induktion übertragen werden. Um die Spastik der Blase auszuschalten, durchtrennt der Chirurg zudem die Hinterwurzeln, das heißt die von der Blase kommenden sensorischen Fasern, und unterbricht damit den betreffenden Reflexbogen. Die Anspannung des Schließmuskels vermag die Methode nicht zu beeinflussen.

Das Verfahren wurde Mitte der siebziger Jahre von Charles Brindley an der University College Medical School in London entwickelt und wird mittlerweile in der urologischen Routine eingesetzt. Es hat jedoch zwei große Nachteile: Zum einen durchtrennt der chirurgische Eingriff zugleich auch die Reflexbögen, die eine Erektion steuern, da auch sie im Kreuzbeinsegment liegen. Der Patient erfährt durch diese Maßnahme also drastische Einbußen an Lebensqualität und muß mit erheblichen persönlichen Belastungen zurecht kommen. Zum zweiten ist eine vollständige Blasenentleerung keineswegs garantiert, im Gegenteil.

Sowohl das Brindley-System als auch eine von Emil Tanagho von der Universität San Francisco (Kalifornien), sozusagen dem Vater der Neuro-Urologie entwickelte Stimulationseinheit verwenden nämlich zur Reizung ein Rechtecksignal, also einen Spannungspuls, der von einem Grundwert Null auf einen Maximalwert sprungartig ansteigt und nach 200 Mikrosekunden ebenso wieder abfällt. Nun ziehen aber die Nervenfasern, welche die Muskulatur der Blasenwand kontrahieren lassen, gemeinsam mit anderen, die den Schließmuskel zur Kontraktion anregen, in einem Nerven vom Rückenmark zu ihren Zielorganen (siehe Glossar "Nervenbündel", Seite 90). Beide Arten erfordern unterschiedlich hohe Reizspannungen, um eine künstliche Erregung zu erzeugen und weiterzuleiten, doch unglücklicherweise ist diese Schwelle bei den zum Schließmuskel führenden Nervenfasern deutlich niedriger. Deshalb wird die Stimulation mit einem Rechtecksignal immer auf Blase und Schließmuskel wirken, und es verbleibt ein Restharn.

Als Alternative scheint die sogenannte Anodenblocktechnik geeignet: Mit einer tripolaren Elektrodenanordnung Anode-Kathode-Anode lassen sich die Nervenfasern unterhalb der Anode hyperpolarisieren (siehe Glossar "Mechanismen der Reizweiterleitung", Seite 90). Zwar werden dabei von der Kathode auch Aktionspotentiale ausgelöst, doch ihre Weiterleitung ist in diesem Bereich in beide Richtungen gehemmt. Aufgrund ihrer elektrischen Eigenschaften sprechen die zum Schließmuskel ziehenden Fasern auch auf die Hemmung wieder als erste an – dessen Kontraktion kann so gezielt verhindert werden. Überdies ermöglicht ein quasi trapezoidaler Stimulationspuls die erforderliche Stromstärke auf etwa ein Zehntel der eines Rechtecksignals zu reduzieren. Nervenschäden dürften selbst bei lebenslanger Anwendung der Vorderwurzelstimulation unseres Erachtens kaum auftreten.

Diese Grundbedingungen menschlicher Physiologie allein zu beachten, reicht aber noch nicht aus – individuelle Besonderheiten des jeweiligen Patienten sind unbedingt zu berücksichtigen. Beispielsweise verändert Narbengewebe im Bereich der Elektroden die Qualität der elektrischen Übertragung, und ein Nachjustieren der Stimulationsparameter ist erforderlich; dazu wollen wir das Implantat mit einer Messung des elektrischen Widerstandes am Kontakt ausstatten. Darüber hinaus haben unsere Untersuchungen gezeigt, daß die Harnblase auf die Erregung nicht immer gleich reagiert, sondern je nach ihrer Füllung anders anspricht.

Es war deshalb erforderlich, ein flexibles Stimulationsprotokoll zu entwickeln, das Anpassungsmöglichkeiten bietet. Das System befindet sich noch in der experimentellen Erprobung. Je nach Übertragungsqualität zwischen Elektrode und Nerv modifiziert es einzelne Stimulationsparameter, einschließlich der Impulsform. Ein implantierbares Sensorsystem mißt zudem das Volumen des Harns in der Blase über eine Ultraschallsonde: Die Laufzeit des durch die Blasenwand gesandten Signals variiert je nach Füllung.

Als Ärzte können wir ein solch komplexes technisches System nicht allein entwickeln und kooperieren deshalb mit der Fachhochschule für Technik in Mannheim (Hardware) und dem Fraunhofer-Institut für Biomedizinische Technik in St. Ingbert (Elektroden und Steuerungssoftware). Wir wollen bald mit der klinischen Erprobung beginnen, um querschnittgelähmten Patienten die verloren gegangene Blasensensorik, die einem gesunden Menschen die Notwendigkeit des Toilettenganges ankündigt, zu ersetzen. Durch Integration des Sensors in die Stimulationseinheit und durch die geschilderte Anpassungsfähigkeit an die jeweilige Situation kommen wir einem intelligenten, autoadaptiven Blasenstimulator schon recht nahe. Es fehlt lediglich noch eine Möglichkeit, die Spastik der Blasenwand zu unterdrücken. Statt die Informationen über den Dehnungszustand wie bislang üblich durch eine Durchtrennung der Hinterwurzeln auszublenden und so den Reflexbogen zu unterbrechen, hoffen wir, sie mit unserer Technik vorübergehend blockieren zu können.

Derartige Anwendungen der Mikroelektronik in der Neuro-Urologie werden in den kommenden Jahren mehr und mehr Verwendung finden, denn nicht allein Querschnittgelähmten, sondern einem weiteren Patientenkreis ließe sich damit helfen. Ein Beispiel dafür zum Schluß. Nach Operationen im kleinen Becken etwa zur Entfernung von Gebärmutter- oder Darmkarzinomen kann die Harnblasenfunktion gestört sein – sie entleert zu häufig oder zu selten; darüber hinaus entsteht eine solche Symptomatik nicht selten scheinbar grundlos oder nach Eingriffen, die keinen direkten Zusammenhang mit dem Urogenitaltrakt erkennen lassen wie beispielsweise einer Eierstockoperation. Mittels Stimulation der sensorischen Nervenfasern an der Hinterwurzel ist der Arzt in der Lage, die intakten, jedoch beeinträchtigten Reflexbögen zu beeinflussen, also beispielsweise die Harnblase während der Speicherphase ruhigzustellen oder danach zur Entleerung anzuregen


Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1999, Seite 91
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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