Fluiddynamik: Minimixer im Wassertropfen
Physiker konnten nun erstmals das Strömungsmuster in einem fallenden Tropfen sichtbar machen. Dazu mussten sie ihn einige zehntausendmal identisch reproduzieren - ein kleines Kunststück für sich.
Wassertropfen sind allgegenwärtig. Man kennt sie von leidigen, tropfenden Wasserhähnen und von nicht minder leidigem Regenwetter. Dennoch ist dieses alltägliche Phänomen weder trivial noch etwa wissenschaftlich lückenlos aufgeklärt. Beispielsweise zeigt ein fallender Tropfen eine komplexe Strömungsdynamik, die Physiker bis heute nicht völlig verstehen: Seine Grenzfläche wird durch ein vertracktes Zusammenspiel von Gravitations-, Auftriebs-, Reibungs- und Trägheitskraft ständig umgewälzt und erneuert. Zudem hängt die innere Dynamik eines frei fallenden Tropfens empfindlich davon ab, unter welchen Bedingungen er sich gebildet hat. All dies macht seine Physik zu einem analytisch nicht lösbaren Problem. Selbst moderne Hochleistungsrechner erlauben keine zufrieden stellende Simulation der internen Zirkulationsmuster.
Doch gilt der inneren Dynamik bewegter Tropfen keineswegs nur die Neugier der Grundlagenforscher – auch Ingenieure interessieren sich brennend dafür. So überführt man bei einer gängigen Methode der chemischen Stofftrennung eine gewünschte Substanz aus einer Lösung (zum Beispiel Wasser) in eine zweite, damit nicht mischbare Flüssigkeit (etwa Chloroform), indem man beide kräftig miteinander schüttelt. Die Effizienz dieser Flüssig-Flüssig-Extraktion hängt entscheidend von der Strömung innerhalb der vielen kleinen Tropfen ab, die sich beim Schütteln vorübergehend bilden.
Die Kenntnis der Tropfendynamik ist aber auch von großer Bedeutung bei der Herstellung von Tintenstrahldruckern, Sprays oder Emulsionen sowie beim Auswaschen von Schadstoffen wie Schwefeldioxid aus den Abgasen von Kraftwerken. Ebenso interessieren sich Atmosphärenforscher für die Physik des frei fallenden Regentropfens; denn dieser nimmt auf seinem Weg durch die Luft gleichfalls Schadstoffe auf, was zum berüchtigten sauren Regen führen kann.
Gewöhnlich untersuchen Wissenschaftler die Strömung in einem Tropfen mit eingebrachten winzigen Flittern, oder sie beleuchten ihn bei der stroboskopischen Fotografie mit einer Serie von Lichtblitzen. Die Ergebnisse solcher Messungen müssen jedoch mit Modellrechnungen kombiniert werden, um quantitative Aussagen zu liefern. Außerdem können eingebrachte Partikel das Bild verfälschen, indem sie gerade den oberflächensensitiven Stofftransport im Tropfen drastisch verändern.
Tatsächlich gibt es jedoch eine Methode, mit der sich selbst in undurchsichtigen Medien Strömungsfelder direkt abbilden lassen – und das berührungs- und zerstörungsfrei. Es handelt sich um die so genannte kernmagnetische Resonanz oder NMR (nach englisch nuclear magnetic resonance). Sie ist bisher vor allem aus der Medizin bekannt – als bildgebendes Verfahren, das im Gegensatz zum Röntgen keine Strahlenbelastung mit sich bringt.
Mit NMR-Methoden kann man aber nicht nur in einen Körper "hineinschauen", sondern auch Geschwindigkeiten und Beschleunigungen abbilden. Dazu muss man einem starken, gleichförmigen Magnetfeld nur schwächere, variable Zusatzfelder überlagern und deren Stärke und Dauer geschickt variieren. Allerdings brauchen solche Messungen Zeit. In einem horizontalen Querschnitt eines Wassertropfens an jeder Stelle die vertikale Geschwindigkeitskomponente zu bestimmen, würde rund fünf Stunden dauern. Wenn der Tropfen mit einer Geschwindigkeit von zwei Metern pro Sekunde fällt, bleibt er aber nur etwa zehn Millisekunden innerhalb des Messbereichs von vielleicht zwanzig Millimetern.
Dennoch ist es uns jetzt erstmals gelungen, per NMR-Technik die internen Zirkulations- und Konvektionsmuster in einem Wassertropfen während des freien Falls quantitativ zu ermitteln und direkt sichtbar zu machen. Wir umgingen das Zeitproblem mit einem verwegenen Trick: Da eine Messung allein noch kein Bild liefert, machten wir eben viele nacheinander.
Dazu mussten wir freilich dafür sorgen, dass jeder Tropfen seinem Vorgänger aufs Haar gleicht und jeweils genau in derselben Fallhöhe vermessen wird. Die verschiedenen Tropfen erscheinen dann für das Gerät wie ein einziger, der quasi beim Fallen in der Luft angehalten wurde. Wegen der identischen Fallhöhe ist auch das interne Strömungsmuster im Moment der Messung jeweils praktisch dasselbe. Bei unseren Experimenten betrug die Abweichung zwischen den Einzeltropfen innerhalb einer Serie von Messungen weniger als 0,1 Prozent. Dies erfüllte in hohem Maße die Forderung nach genauer Reproduzierbarkeit.
Verschieden und doch gleich
Die Tropfen erzeugten wir mit einer Glaspipette. Damit sich jeweils ein gleich großes Exemplar in identischen Abständen (einmal pro Sekunde) von der Spitze ablöste, regelten wir mit einer Hochpräzisionspumpe eine konstante Füllhöhe der Pipette ein. Um den Tropfen vor Luftströmungen zu schützen, ließen wir ihn nach dem Abreißen durch ein Glasrohr fallen, das exakt vertikal in einem supraleitenden Magneten angebracht war. An einer bestimmten Stelle löste ein Paar Infrarot-Fotosensoren die Messung mit dem NMR-Spektrometer aus.
Diese Stelle galt es günstig zu wählen: Einerseits befindet sich der Tropfen nach einer längeren Fallstrecke näher an einem Zustand, in dem er nicht mehr beschleunigt wird und eine stabile Form sowie ein stationäres Strömungsmuster erreicht hat. Andererseits ist seine Geschwindigkeit dann vielleicht schon zu hoch für die NMR-Messung. Als Kompromiss wählten wir eine Fallgeschwindigkeit von etwa zwei Metern pro Sekunde, was einer Verweilzeit von zehn Millisekunden im Messbereich entspricht. Als Flüssigkeit verwendeten wir sowohl reines Wasser als auch eine Seifenlösung (mit 2,8 Prozent Betain).
Für eine einzige Aufnahme maßen wir eine Serie von knapp 34000 Einzeltropfen. Bei einem Teil dieser Messungen bestimmten wir einfach die Anzahl der Wassermoleküle pro Volumenelement. Daraus ergab sich ein normales dreidimensionales NMR-Bild, das wie ein gewöhnlicher Kameraschnappschuss die äußere Gestalt des aus den tausenden Einzelmessungen rekonstruierten Tropfens zeigte. Für ein so schnell fallendes Objekt ist die Qualität der Aufnahmen beeindruckend.
Schon bei diesen einfachen Bildern zeigte sich ein interessanter Unterschied zwischen Tropfen aus reinem Wasser und solchen aus Seifenlösung. Erstere hatten, wenn wir zwischen zwei Messreihen die Pipette entnahmen, reinigten und frisch einjustierten, anschließend meist eine etwas andere Form und damit auch eine andere innere Dynamik. Der Grund dafür ist offensichtlich die sehr hohe Oberflächenspannung von reinem Wasser gegenüber Glas. Dadurch reagiert der Tropfen empfindlich auf kleinste Schwankungen der Bedingungen im Moment seines Abschnürens von der Pipettenspitze, zumal diese nicht "unendlich" spitz und absolut gerade und die Pipette selbst nicht perfekt oberflächenrein ist. Bei Seifenlösungen mit ihrer viel geringeren Oberflächenspannung dagegen hatten diese Faktoren so gut wie keinen Einfluss.
Unser Hauptinteresse aber galt natürlich NMR-Bildern, die Informationen über die Geschwindigkeit enthalten. Um sie zu gewinnen, maßen wir in einem zweiten Datensatz innerhalb einer Aufnahmenserie statt der Wasserdichte die Geschwindigkeitskomponente in einer Richtung – beispielsweise in der Vertikalen (pro Messung lässt sich jeweils nur ein Parameter bestimmen). Von der vertikalen Komponente wurde dabei die Fallgeschwindigkeit subtrahiert, um nur die interne Bewegung zu erhalten.
Diese Bilder lieferten erste interessante Aufschlüsse über die Tropfendynamik. So machten sie deutlich, dass Tropfen aus reinem Wasser in Fallrichtung um eine Größenordnung intensiver durchmischt werden als durch die allgegenwärtige brownsche Molekularbewegung. Der vertikale Stofftransport ist somit rund zehnmal so schnell wie im ruhenden Zustand. Das gilt allerdings nicht für Seifentropfen. Sie verhalten sich nahezu starr und werden durch das Fallen auch in vertikaler Richtung nur unwesentlich stärker durchmischt als auf Grund der brownschen Bewegung.
Schließlich gelang es uns in einer dritten Stufe, das Strömungsmuster im Tropfeninneren auch zweidimensional abzubilden. Dazu addierten wir in einem zweidimensionalen Längsschnitt durch den fallenden Tropfen (entlang der z- und der x-Achse) Punkt für Punkt die vertikale z- und die horizontale x-Komponente des Geschwindigkeitsvektors, die wir in gesonderten Messungen erhalten hatten. Aus diesen Daten konstruierten wir dann ein Bild, das die interne Dynamik im Wassertropfen anhand von Pfeilen veranschaulicht. Deutlich ist darin ein stabiles Paar von Wirbeln (so genannte Konvektionsrollen) mit intensiver Strömung und jeweils einem "Auge" zu erkennen.
Durch das Fallen bildet sich im Tropfen also ein Zirkulationssystem, das wie eine Art Miniaturmixer wirkt. Damit bestätigt sich die alte Vermutung, dass die Fallbewegung den Stoffübergang an der Oberfläche erheblich beschleunigt. Regen "reinigt" die Luft demnach sehr viel besser, als es die schwebenden Wassertropfen in einer Wolke tun.
Erstmals haben wir mit unseren Experimenten demonstriert, welche Möglichkeiten die NMR-Technik bietet, um die komplizierten, dreidimensionalen Strömungsmuster im Inneren eines fallenden Tropfens zu erforschen. Mit dem NMR-Verfahren lassen sich aber noch viele andere Parameter ermitteln. So wäre es denkbar, in einer zusätzlichen Dimension eine chemische Kenngröße abzufragen. Letztlich könnte es so gelingen, auch das räumliche Fortschreiten von (relativ langsamen) Reaktionen abzubilden, ohne in das System einzugreifen. Die Methode eröffnet also ein weites Spektrum von Möglichkeiten.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 2002, Seite 12
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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