Trends in der wissenschaftlichen Kommunikation: Mißachtete Forschung in der Dritten Welt
Wissenschaftler in den Entwicklungsländern arbeiten auf verlorenem Posten: Publizieren sie im eigenen Lande, so findet dies außerhalb kaum Beachtung; und von international renommierten Fachzeitschriften werden ihre Artikel besonders häufig abgelehnt.
Chefredakteur Luis Benítez-Bribiesca erinnert sich mit Wehmut an die Anfänge der mexikanischen Medizin-Zeitschrift "Archivos de Investigación Médica" (Bild 2). Schon bald nach ihrer Gründung im Jahre 1970 wurde sie vom privaten Institut für Wissenschaftsinformation (Institute for Scientific Information, ISI) in Philadelphia (US-Bundesstaat Pennsylvania) in dessen Science Citation Index (SCI) aufgenommen, der die Artikel aus rund 3300 Wissenschaftszeitschriften (von weltweit mehr als 70000) verzeichnet. Nur wer im SCI und einigen anderen bedeutenden Datenbanken vorkommt, ist der wissenschaftlichen Recherche leicht zugänglich und kann damit rechnen, international beachtet und zitiert zu werden (Bild 1).
Das hatte seinen Preis: Um im SCI zu bleiben, mußten die "Archivos" regelmäßig erscheinen und englische Zusammenfassungen (Abstracts) der spanischsprachigen Artikel liefern; außerdem ist die SCI-Abonnementgebühr ziemlich hoch (sie liegt heute bei rund 10000 Dollar). Bis 1982 ging alles gut. "Aber dann machte unser Land eine schwere Wirtschaftskrise durch, und sechs Monate lang erschien die Zeitschrift nicht", erinnert sich Benítez. Obwohl die Redaktion den ISI-Managern die Situation erklärte und um Geduld bat, "war denen alles egal. Wir flogen aus der Datenbank."
Seither kämpft die Zeitschrift mühsam um wissenschaftliche Anerkennung. Zunächst bot man zu jedem spanischen Artikel eine englische Übersetzung, dann wurde die spanische Version gar nicht mehr veröffentlicht. Schließlich stellte man einen US-amerikanischen Redakteur ein, verlangte von allen Autoren, gleich auf englisch zu schreiben, und benannte die Zeitschrift in "Archives of Medical Research" um. Unterdessen gewann man führende mexikanische Forscher als Herausgeber sowie einen internationalen Beirat aus 15 US-amerikanischen, kanadischen und europäischen Wissenschaftlern. Im Dezember 1994 gab der mexikanische Wissenschaftsrat der Zeitschrift die beste Bewertung. Und trotz einer Peso-Abwertung mit Kostensteigerungen um 40 Prozent erschienen die "Archives" im Jahre 1995 geradezu überpünktlich.
"Aber dem ISI reicht das alles nicht", klagt Benítez. Man beschied ihm, die als Herausgeber fungierenden Wissenschaftler würden zu selten in anderen Artikeln zitiert – und danach wird nun einmal, seit es Datenbanken wie den SCI gibt, der wissenschaftliche Rang fast ausschließlich bewertet. "Unsere Herausgeber sind die 13 meistzitierten Forscher Mexikos im biologisch-medizinischen Bereich. Warum legt man an uns derart hohe Standards an, während neue US-amerikanische Journale schon sechs Monate vor dem ersten Erscheinen in ,Science' oder ,Nature' [zwei der renommiertesten Publikationsorgane für Arbeiten aus dem naturwissenschaftlichen Bereich] annoncieren können, daß sie im SCI erfaßt sein werden?"
Benítez steht mit seiner Beschwerde nicht allein. Von mehr als 100 für diesen Artikel befragten Forschern und Redakteuren aus Drittweltländern wiesen die meisten auf strukturelle Hemmnisse und subtile Vorurteile hin, die den wissenschaftlichen Ideenaustausch untereinander und mit den Industrieländern verhindern. Obwohl 24,1 Prozent aller Wissenschaftler in ärmeren Ländern leben und obwohl dort 5,3 Prozent der weltweiten Forschungsausgaben getätigt werden, veröffentlichen die meisten führenden Fachzeitschriften prozentual viel weniger Artikel solcher Autoren (siehe Kasten auf Seite 86).
Nicht nur ist dies letztlich den Bemühungen um qualitätvolle Forschung gerade in den Regionen abträglich, die diese am dringendsten brauchen – auch den Industrieländern entgeht möglicherweise entscheidendes Wissen, wie Richard Horton, Redakteur der Medizin-Zeitschrift "Lancet", meint. Ein Grund für das Auftauchen neuer Erreger "wie des Ebola-Virus ist der wirtschaftliche Wandel in der Dritten Welt; er bringt den Menschen in Kontakt mit bisher isolierten Ökosystemen", welche die tierischen Wirtsorganismen beherbergen. "Dieser Vorgang und seine Folgen lassen sich nur verstehen, wenn man die Arbeiten örtlicher Forscher publiziert."
In den vergangenen zwanzig Jahren hat der Beitrag unterentwickelter Länder zur gängigen naturwissenschaftlichen Forschung anteilig kaum zugenommen, doch gibt es Versuche, das zu ändern. Die Vereinten Nationen fördern drei kommerziell vertriebene Artikelverzeichnisse von Zeitschriften aus der Dritten Welt. Einige Entwicklungsländer belohnen ihre Wissenschaftler für Publikationen sowie Fachzeitschriften, die hohes Niveau halten.
Teufelskreise
Benítez will sich jedenfalls weiter beim ISI um Zugang zum Klub der sogenannten internationalen – aber vornehmlich in den USA und Westeuropa erscheinenden – Zeitschriften bemühen. Er weiß, daß seine Chancen gering sind: Die Anzahl der im SCI geführten Periodika aus ärmeren Ländern sank von 80 im Jahr 1981 auf 50 im Jahr 1993.
Ohne Mitgliedschaft erscheinen die Artikel praktisch unter Ausschluß der internationalen Öffentlichkeit. Rogerio A. Meneghini von der Universität São Paulo (Brasilien) untersuchte die Resonanz auf Publikationen von 487 brasilianischen Biochemikern aus einem Zeitraum von 15 Jahren. Die in internationalen Zeitschriften veröffentlichten Arbeiten wurden im Mittel jeweils 7,2mal zitiert. Artikel in brasilianischen Periodika hingegen – nur drei davon sind im SCI erfaßt – kamen durchschnittlich auf fast nur ein Zehntel davon. Dieses Mißverhältnis ist typisch: Einer Studie von Virginia Cano vom Queen-Margaret-College in Edinburgh (Schottland) zufolge tauchen 70 Prozent der lateinamerikanischen Periodika in keinem Index auf und sind somit, wie sie schreibt, "zu einer geisterhaften Existenz verdammt".
Benítez erkennt darin einen Teufelskreis: Einerseits werden Zeitschriften nur ab einer gewissen Zitier-Häufigkeit in die Datenbanken aufgenommen; andererseits "werden wir nicht oft zitiert, weil die Zeitschrift kaum bekannt ist, da sie nicht in den internationalen Listen vorkommt". Der direkte Weg in die Regale der Bibliotheken ist keine Alternative, meint Christopher T. Zielinski, Direktor für biomedizinische Information im Regionalbüro Östliches Mittelmeer der Weltgesundheitsorganisation (WHO): "Die westlichen Forschungsbibliotheken erwerben nur einflußreiche Zeitschriften, vernachlässigen alles außerhalb des magischen Kreises der Zitat-Analysen. Offensichtlich handelt es sich hier um ein selbsterhaltendes geschlossenes System von Begutachtung und Zitierweise."
Auch David A. Pendlebury, der als Analytiker am ISI arbeitet, gibt zu, daß es ein großes Handikap ist, nicht im SCI oder anderen Datenbanken wie MEDLINE und INSPEC vertreten zu sein. Eugene Garfield, der frühere Vorsitzende von ISI, erinnert sich an eine verpaßte Chance vor zehn Jahren: "Wir unterstützten ein Treffen, bei dem die Rockefeller-Stiftung und die National Science Foundation (NSF) vorschlugen, 250000 Dollar aufzubringen, um etwa 300 Zeitschriften aus der Dritten Welt in den SCI aufzunehmen. Ich hielt das für eine großartige Idee. Aber niemand stellte die erforderlichen Mittel zur Verfügung. Allerdings", fügt er rasch hinzu, "wenn etwas wirklich Wichtiges entdeckt wird, gelangt es ohnedies in die renommierten Zeitschriften, die wir mit unserem Index erfassen."
Benítez bezweifelt das: "sNehmen wir zum Beispiel die Cholera. In Mexiko steigt derzeit die Zahl der Fälle, und unsere Wissenschaftler haben interessante Befunde über einige neue Erregerstämme. Internationale Zeitschriften lehnen unsere Artikel ab, weil für sie die Cholera kein heißes Thema ist. Aber was ist, wenn die neuen Stämme sich über die Grenze nach Texas oder Kalifornien ausbreiten? Dann wird es auf einmal wichtig. Bis dahin geht vorhandenes Wissen über die Krankheit unter. Bei der Literatursuche wird man nicht auf die in Mexiko veröffentlichten Artikel stoßen, weil sie nicht im Index stehen."
Genauso wichtig wäre Horton zufolge, daß die Entwicklungsländer ihre Forschungsergebnisse intern und untereinander austauschen. Er hält es für einen Verstoß gegen die medizinische Ethik, wenn die Forscher der Dritten Welt keine Möglichkeit haben, ihre Ideen Angehörigen des landeseigenen Gesundheitswesens mitzuteilen.
Gewiß sind nicht alle regionalen Zeitschriften dafür kompetent genug. "Viele verdienen aus wissenschaftlicher Sicht nicht, zu erscheinen", meint Manuel Krauskopf, Biochemiker an der Universität von Chile in Santiago, der die Wissenschaftspublikationen Lateinamerikas seit Jahren beobachtet.
Ähnliches gilt für jene anderer Staaten. K.C. Garg vom indischen Nationalen Institut für Wissenschafts-, Technologie- und Entwicklungsforschung in Neu Delhi zufolge erscheinen nur 20 Prozent der mehr als 1500 Periodika des Landes regelmäßig und arbeiten mit wissenschaftlichen Publikationsgutachten (reviews). In Brasilien hat, so Meneghini, fast jede der rund 400 Wissenschaftszeitschriften entweder nur sehr lasche Kriterien oder gar keine. Und Flor Lacanilao, der frühere Kanzler der Universität der Visayas (einer Inselgruppe der Philippinen), klagt: "Oft wird weder die methodische Korrektheit noch die Literaturkenntnis der Autoren überprüft, weil es unserem Land an qualifizierten Gutachtern mangelt und ausländische Experten sich wegen der begrenzten Zugänglichkeit der Zeitschriften nicht zur Verfügung stellen. Philippinische Periodika schaden sogar manchmal, indem sie falsche Forschungspraktiken unkritisch weitergeben. Leider müssen wir zugeben, daß dadurch viel von unseren Forschungsmitteln verschwendet wird."
Allzu oft bleibt auf diese Weise auch gute Wissenschaft unbemerkt. "Was man in Senegal und Gambia über die Wirksamkeit von oral verabreichten und injizierten Impfstoffen gegen Kinderlähmung – unter Feldbedingungen – gelernt hat, kann vielleicht auch in Südostasien nützlich sein", meint Esther K. Hicks, Generalsekretärin des niederländischen Beirats für die wissenschaftliche Erforschung von Entwicklungsproblemen. Doch wenn solche Erfahrungen überhaupt publiziert werden, passieren sie kaum je die Landesgrenzen.
Inzwischen fördern verschiedene Institutionen das Veröffentlichen in solchen Zeitschriften, welche jedes eingesandte Manuskript per sogenanntem peer-review von anerkannten Fachkollegen prüfen lassen. So machte Lacanilao beim Südostasiatischen Fischerei-Entwicklungszentrum (SEAFDEC) ab 1986 eine Veröffentlichung in einer von ISI erfaßten Zeitschrift zur Bedingung für jeden Aufstieg in der Karriereleiter und belohnte ab 1989 jeden solchen Artikel mit einem halben Jahreslohn. Bis 1993 hat sich dadurch die mittlere Anzahl der Veröffentlichungen pro Forscher versiebenfacht. Ähnliches berichtet Manuel Velasco, Leiter des Wissenschaftsförderungsprogramms von Venezuela: Seit dessen Einführung im Jahre 1990 sei die Anzahl der im SCI verzeichneten Artikel aus seinem Land um 57 Prozent gestiegen. Und dank der brasilianischen Forschungsförderung, die das Publizieren in internationalen Zeitschriften mit lukrativen Stipendien belohnt, erscheinen heute gegenüber 1980 viermal soviel Artikel von Brasilianern mit US-amerikanischen oder europäischen Koautoren.
Solche Aufputschmittel sind freilich nicht ohne Nebenwirkungen. Die hohen Anreize könnten dazu verlocken, fadenscheinige Forschung zu betreiben, eine Arbeit auf mehrere Kleinstpublikationen zu strecken oder dasselbe in grün nochmals zu publizieren, warnt Teodora Bagarinao vom SEAFDEC. Auf den Philippinen sind bereits zwei Wissenschaftler dabei ertappt worden, in einer Zeitschrift einen mehr oder weniger identischen Artikel zu veröffentlichen. Oder man gießt alten Wein in neue Schläuche: Enrique M. Avila, Meeresbiologe an der Universität der Philippinen in Cebu City, weiß von mehreren Fällen, in denen alte Daten aus den siebziger Jahren ausgegraben und erneut veröffentlicht wurden, um dafür eine Belohnung zu kassieren.
Außerdem verurteilt man, wenn in Brasilien, Südafrika und den Philippinen Publikation in internationalen Organen bevorzugt und doppelt so hoch bewertet wird wie in heimischen, letztere erst recht zu einem Schattendasein. Der Wissenschaftssoziologe Hebe Vessuri vom Venezolanischen Institut für Wissenschaftsforschung erinnert sich an eine UNESCO-Tagung zu Problemen der lateinamerikanischen Zeitschriften. Schon damals (im Jahre 1964) fand man heraus, daß "die Publikationen in einem typischen Teufelskreis steckten: Heimische Periodika blieben ohne Prestige und internationale Verbreitung, weil die Forscher ihre besten Resultate im Ausland veröffentlichten; und das wiederum taten sie, weil die einheimischen Zeitschriften ihren Resultaten in der wissenschaftlichen Welt kaum Gehör verschafften".
In den mehr als 30 Jahren seither hat sich das Problem eher noch verschärft. Benítez räumt ein, daß sogar die mexikanischen Forscher, welche die "Archives" herausgeben, rund 70 Prozent ihrer eigenen Artikel bei einer der im SCI aufgeführten Zeitschriften aus den USA oder Europa einreichen.
In Brasilien und Mexiko suchen die nationalen Wissenschaftsräte den Teufelskreis aufzubrechen, indem sie ihre Periodika benoten und nur die besten fördern. In Brasilien wurden in einer ersten Bewertung 83 Prozent der heimischen Titel als unbedeutend eingestuft. Dabei traf es einige Gebiete besonders hart: Kaum 7 Prozent der landwirtschaftlichen Fachblätter fanden Gnade. Mexiko bewertete 1994 zwar zwanzig heimische Fachblätter als hervorragend – aber nur zwei davon sind im SCI erfaßt.
Daß die westlichen Indexdienste den Periodika aus Entwicklungsländern nur zwei Prozent Teilhabe am internationalen Diskurs zugestehen, werde der wissenschaftlichen Leistung von 80 Prozent der Welt einfach nicht gerecht, betont Zielinski in einem Editorial des "British Medical Journal" Mitte letzten Jahres und fährt fort: "Das gilt vor allem für die Medizin, denn Krankheiten respektieren keine Grenzen, schon gar nicht angesichts des zunehmenden Flugreiseverkehrs, wie man an der Wiederkehr von Infektionskrankheiten wie Masern und Tuberkulose sieht. Diese sowie einzigartige Informationen über AIDS, tropische Artenvielfalt und traditionelle Heilkunde werden in den regionalen Zeitschriften besonders breit behandelt."
Unter Zielinskis Leitung bildete die WHO ein Konsortium aus den Herausgebern von 223 Medizin-Zeitschriften – fast alle aus weniger entwickelten Ländern. Seit Juli 1994 gibt das Gremium zusammen mit der britischen Firma Informania einen monatlichen Index auf CD-ROM namens ExtraMED heraus; er enthält mehr als 8000 komplett gescannte Seiten jüngst erschienener Hefte. Mit einem Preis von 750 Dollar für Abonnenten aus der Dritten Welt (solche aus reicheren Ländern zahlen das Doppelte) ist diese Datenbank viel billiger als der SCI, der mit 10990 Dollar für fast alle Bibliotheken in unterentwickelten Regionen unerschwinglich bleibt. (Manchmal gewährt das ISI allerdings Beziehern aus armen Ländern Ermäßigungen.)
Der Gewinn wird unter den beteiligten Blättern aufgeteilt, und die Wissenschaftler müssen für Artikel, die sie von der CD kopieren, keine Urhebergebühren zahlen. Davon erhofft sich Zielinski bitter nötige Anreize, auch finanzieller Art, zur Qualitätssteigerung der Zeitschriften – und zwar nicht nur aus dem Medizinbereich: Informania hat zudem mit der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO vereinbart, 500 einschlägige Fachblätter per CD-ROM zu erfassen; und mit der UNESCO soll ExtraSCI produziert werden, das 500 Periodika aus allen Bereichen von Wissenschaft und Technik enthalten wird.
Zielinski gibt zu, daß der Markt in den Entwicklungsländern vorläufig begrenzt bleiben dürfte, denn nicht einmal jede zehnte Bibliothek besitzt einen Computer, geschweige denn ein CD-ROM-Laufwerk. Doch der Index könnte die Aufmerksamkeit der Forscher in den USA und Europa auf die Arbeit ihrer Kollegen in den Entwicklungsländern lenken; außerdem verzeichnet das Suchprogramm der CD automatisch, welche Artikel gelesen werden, und mit dieser Nutzer-Statistik könnte das Konsortium, so Zielinski, vielleicht die herrschende Ungerechtigkeit bei der Zitat-Analyse teilweise abbauen.
Der Matthäus-Effekt
Dieser Optimismus mag voreilig sein. Viele Drittwelt-Wissenschaftler – immerhin auch die Hälfte der für diesen Artikel interviewten, die sich dazu äußern wollten – sind überzeugt, daß die Gutachter und Redakteure der bedeutenden Wissenschaftszeitschriften einen Artikel aus einem Entwicklungsland eher zurückweisen als einen gleich guten aus einer Industrienation. Und selbst wenn er erscheine, würden ihn die US-amerikanischen oder europäischen Kollegen ignorieren und lieber spätere Artikel zum Thema von ihresgleichen zitieren (siehe Kasten auf dieser Doppelseite).
"In Afrika und Asien finden die meisten, es gebe massive Vorurteile gegen sie; die meisten Amerikaner und Europäer streiten das ab", sagt der Inder Subbiah Arunachalam, der am Zentralen elektrochemischen Forschungsinstitut den Publikationserfolg heimischer Wissenschaftler untersucht. "Ich höre diese Unterstellung ungern", kontert Floyd E. Bloom, Chefredakteur der US-amerikanischen Zeitschrift "Science". In den anspruchsvollen Zeitschriften, für die er als Redakteur oder Gutachter tätig gewesen sei, habe man sich stets allergrößte Mühe gegeben, Wissenschaft aus Entwicklungsländern vorzustellen.
Statistische Indizien für spezifische Vorurteile sind schwer zu beschaffen: Man müßte dafür sämtliche von einer Zeitschrift abgelehnten Artikel verfolgen und prüfen, wieviele von einer anderen mit gleich hohem Anspruch angenommen werden. Dennoch ist es für C.N.R. Rao, den Präsidenten des Jawaharlal Nehru Center for Advanced Scientific Research in Bangalore (Indien), gar keine Frage, daß einige Gutachter im Westen tief verwurzelte Vorurteile gegen Autoren aus der Dritten Welt hegen: "Ich publiziere seit 40 Jahren in führenden Zeitschriften der Welt, aber noch immer begegne ich bei den Gutachtern gewissen Vorurteilen – und zwar gar nicht selten."
Bereits eine Adressenänderung macht einen Unterschied. "Als ich in Boston wohnte, konnte ich im ‰American Journal of Pathology' zusammen mit anerkannten amerikanischen Pathologen völlig problemlos publizieren", erzählt Benítez. "Dann ging ich an die Universität Bonn und veröffentlichte zwei Beiträge in ‰Nature' [der renommierten britischen Zeitschrift]. Schließlich kehrte ich – reifer und erfahrener – nach Mexiko zurück. Doch nun wurden meine Arbeiten von denselben Blättern postwendend abgelehnt."
"Es ist eine Schande, wie uns die Gutachter der wichtigsten biologisch-medizinischen Fachzeitschriften behandeln", meint der Biochemiker Wieland Gevers von der Universität Kapstadt (Südafrika). Mehrfach sei dadurch die Veröffentlichung wichtiger Resultate verzögert worden: "Ich war an drei wichtigen Entdeckungen beteiligt, die von solchen Zeitschriften nicht ernst genommen wurden." Gevers und seine Kollegen stellten erstens fest, daß der Anti-Krebs-Wirkstoff 5-Azacytidin bestimmte embryonale Zellen je nach den Umständen veranlaßt, sich entweder zu Muskel- oder zu Fettgewebe zu entwickeln; die beiden anderen Forschungserfolge betrafen den Stoffwechsel von Lipoprotein-Partikeln geringer Dichte (dem sogenannten schlechten Cholesterin) im Körper. "Unsere Arbeiten wanderten monatelang von Pontius zu Pilatus, bis sie endlich angenommen wurden – obwohl die Redakteure immer voll des Lobes für die Ausführung waren."
Vor allem Beiträge aus der angewandten Forschung – auf sie konzentrieren die Entwicklungsländer ihre Wissenschaftsförderung – finden wenig Interesse. "Das Vorurteil der meisten Akademiker gegenüber Anwendungsfragen finde ich langfristig gefährlich", sagt George F.R. Ellis, ein angesehener Kosmologe an der Universität Kapstadt. "Nach der gängigen Hackordnung steht die theoretische Physik ganz oben und die angewandte ganz unten. Aber in der Dritten Welt sieht man das mit Recht anders. Die internationale Wissenschaftsgemeinde muß hochwertige Resultate anerkennen, auch wenn sie praxisnah sind."
Zur Anerkennung gehört, daß man fair zitiert wird. Doch als Jacques Gaillard von ORSTOM, der internationalen Hilfsorganisation Frankreichs, die Publikationen von 207 Wissenschaftlern aus Asien, Lateinamerika und Afrika untersuchte, stellte er fest, daß sie "in einem besonders schlimmen Teufelskreis gefangen sind: Selbst wenn ihre Erkenntnisse in den besten Zeitschriften stehen, werden sie insgesamt viel weniger zitiert als die Kollegen aus Industrienationen".
Meneghini zufolge werden Artikel brasilianischer Autoren um rund 60 Prozent seltener zitiert als die US-amerikanischer in demselben Fachjournal – und ähnliches gilt für andere Entwicklungsländer. Schon 1968 bemerkte der Soziologe Robert K. Merton von der Columbia-Universität in New York, daß eine Entdeckung eher dem berühmtesten daran beteiligten Wissenschaftler zugeschrieben wird als demjenigen, der das meiste dafür geleistet hat. In einem klassischen Artikel in "Science" prägte Merton für dieses Phänomen den Begriff Matthäus-Effekt – nach Matthäus 13, Vers 12: "Denn wer da hat, dem wird gegeben, daß er die Fülle habe; wer aber nicht hat, von dem wird auch genommen, was er hat."
Wie Rao einräumt, sei dieser Effekt auch in reicheren Ländern nicht unüblich, doch treffe er Wissenschaftler aus Entwicklungsländern viel härter, weil sie meist besonders mühselig und lange forschen müssen – nur um dann keine Anerkennung zu finden.
Einige Wissenschaftler der Dritten Welt mußten sogar eine gewisse Boshaftigkeit erfahren. Der Gründer und Direktor des Zentrums für Zell- und Molekularbiologie in Hyderabad (Indien), Pushpa Mittra Bhargava, erinnert sich an eine Arbeit, die er vor einiger Zeit im "Indian Journal of Biochemistry and Biophysics" veröffentlichte. "Eines schönen Tages erhielt ich aus Europa einen Artikel als Sonderdruck. Er beschrieb meine Arbeit – nur mit einer anderen Mikrobe –, ohne mich zu zitieren. Daran hing ein Zettel: ‰Habe Ihre Arbeit mit Genuß gelesen.' Das verschlug mir die Sprache."
Um den Matthäus-Effekt zu dämpfen, geben manche Redaktionen den Gutachtern nicht mehr die Namen und Institute der Autoren an. Gevers hält viel davon. Ob sich daraufhin die Akzeptanz von Artikeln aus weniger entwickelten Ländern verbessert hat, ist noch nicht untersucht; die Qualität eines Journals insgesamt kann jedoch kontrollierten Vergleichen zufolge etwas steigen.
Arunachalam schlägt vor, einfach mehr Wissenschaftler aus der Dritten Welt als Gutachter einzuladen. Hinderlich dabei sind allerdings lange Postwege und unzuverlässige Fax-Leitungen. Damit begründet "Science"-Chefredakteur Bloom auch, warum seine Gutachter nur in den USA, Europa und Japan sitzen.
Die zunehmende Nutzung des Internet könnte einige Forscher der Dritten Welt aus ihrer Isolation befreien. Angesichts der verzögerten oder gar nicht vorhandenen Verbreitung wissenschaftlicher Zeitschriften ermögliche die elektronische Kommunikation raschen Gedankenaustausch und Zugang zu weit entfernten Computern, meint Michael Jensen von der International Telecommunication Union.
Eine von Federico Mayor, dem Generalsekretär der UNESCO, veranlaßte Befragung eines dreizehnköpfigen Expertengremiums kam zu demselben Ergebnis; es empfahl, das Internet zu einem möglichst geringen Preis den Wissenschaftlern in allen Ländern zu öffnen – wenn nötig, indem die UNESCO selbst entsprechende Dienste anbiete. Außerdem solle sie "einen raschen weltweiten Wechsel zur elektronischen Veröffentlichung wissenschaftlicher Forschung" fördern.
Doch manche bezweifeln, ob die UNESCO dazu fähig und erforderlich ist. Die wissenschaftliche Kommunikation verlagert sich ohnedies bereits in atemberaubendem Tempo in das Internet, denn es ist billig und ermöglicht die Ansicht von Daten und Simulationen, die wegen ihrer Fülle und Dynamik auf keine Papierseite passen (siehe Spektrum der Wissenschaft, März 1995, Seite 34).
Die UNESCO hat hingegen vielen wissenschaftlichen Bibliotheken der Dritten Welt bislang noch nicht einmal die nötigsten Periodika und Datenbanken verschafft. Internet-Anschlüsse für einzelne Forscher dürften weit jenseits ihrer Möglichkeiten liegen – und wohl auch jenseits der vieler Regierungen, speziell in Afrika und den ärmsten Gebieten Asiens.
Datennetze als Fangstricke
In diesen Regionen sind die Telefonnetze zu grobmaschig, unzuverlässig und teuer, um den Internet-Anforderungen zu genügen. Auf dem gesamten afrikanischen Kontinent gibt es Jensen zufolge weniger Telefone als in Manhattan; 3,6 Millionen Anträge auf Anschluß liegen vor, aber gegenwärtig beträgt die Wartezeit in Schwarzafrika beispielsweise neun Jahre.
Derart knappe Ressourcen sind entsprechend teuer: Ein Auslandsgespräch kostet nach einer stichprobenartigen Erhebung um die 5 Dollar pro Minute – und eine Fax-Seite bis zu 30 Dollar. Zum Vergleich: Das Durchschnittsgehalt eines Hochschullehrers liegt bei 100 Dollar pro Monat.
Zwar kann heute jeder zweite afrikanische Staat zumindest einigen Wissenschaftlern einen täglichen e-mail-Dienst bieten, aber gemietete Internet-Leitungen – mit ohnehin minimalen Übertragungsgeschwindigkeiten und Preisen bis zu 65000 Dollar im Jahr – sind bis auf weiteres rar (Bild 3). "Die große Gefahr ist, daß das Internet eine globale Armenklasse ohne Zugang zu Informationssystemen schafft," befürchtet der Archäologe Martin Hall von der Universität Kapstadt, der oft mit Forschern aus anderen Teilen Afrikas zusammenarbeitet. "In fünf Jahren werden wir hauptsächlich papierlose Zeitschriften haben. Schon heute sind viele afrikanische Wissenschaftler bei Druckschriften auf Almosen angewiesen; papierlose Medien werden ihnen völlig unzugänglich sein."
Es sei denn, die wachsende Informationskluft wird doch noch überwunden. Die Firmen AT&T Submarine Systems, Alcatel und FLAG haben unabhängig voneinander vorgeschlagen, rings um Afrika ein Unterwasser-Glasfaserkabel zu legen und damit sämtlichen Küstenstaaten den Zugang zum Internet zu ermöglichen. Noch ist unklar, ob und wann die Nachfrage groß genug sein wird, die Kosten von 2 bis 6 Milliarden Dollar zu decken. Doch wenn dieser Ring gelegt würde, könnte er den Wissenschaftlern eines ganzen Kontinents neuen Auftrieb verleihen.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1996, Seite 82
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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