Mit den Augen erkennen, ohne zu sehen
Hirnverletzte Patienten mit einem Balint-Syndrom sehen nur ein einziges Objekt in ihrem zentralen Gesichtsfeld. Jetzt wurde an einer Patientin mit dieser Störung festgestellt, daß sie zwei Objekte, von denen sie lediglich eines bewußt wahrnahm, dennoch in sinnvollen Handlungen miteinander verknüpfen konnte, wenn zwischen ihnen ein Bedeutungs- oder Funktionszusammenhang bestand.
Häufig machen Hirnverletzungen, die überraschende und manchmal geradezu paradox anmutende Störungen der Wahrnehmungs- oder Reaktionsfähigkeit verursachen, die verborgenene Komplexität hinter scheinbar einfachen und selbstverständlichen geistigen Leistungen deutlich. Wie trivial scheint zum Beispiel die Fähigkeit, mehrere Objekte im Gesichtsfeld gleichzeitig bewußt wahrzunehmen. Dennoch sind Menschen mit bestimmten Schädigungen am Hinterhauptslappen dazu nicht imstande: Sie sehen immer nur den einen Gegenstand, auf den sich ihre Aufmerksamkeit gerade richtet – gleich, ob er groß wie ein Elefant oder klein wie eine Fliege ist.
Der ungarische Arzt Rudolph Balint hat diese Störung bereits im Jahre 1909 als erster beschrieben. Ein Patient, dem er ein Dreieck mit einem Buchstaben darin auf eine Schultafel gemalt hatte, nahm entweder das Dreieck oder den Buchstaben wahr, nie aber beides zugleich. Später untersuchte auch der russische Neuropsychologe Alexander R. Lurija (1902 bis 1977) diese Balint-Störung, wie man sie nach ihrem Entdecker heute nennt. Unter anderem stellte er fest, daß davon betroffene Personen das Zentrum eines Kreises nicht fixieren konnten, weil sie entweder nur den Kreis oder den mit einem Bleistift markierten Mittelpunkt bemerkten. Ebensowenig vermochten sie zwischen zwei vorgegebene Kreise einen dritten einzuzeichnen: Sie verloren die Linie aus den Augen, wenn sie die Bleistiftspitze beachteten und umgekehrt. Durch den visuellen Defekt waren also auch ihre motorischen Fähigkeiten eingeschränkt.
Kürzlich nun haben Umberto Castiello, Marina Scarpa und Keree Bennett von den Universitäten Bologna und Modena eine weitere Seltsamkeit bei dieser an sich schon bizarren Störung entdeckt ("Nature", Band 374, Seite 805). Versuchsperson war eine 66jährige pensionierte Gymnasiallehrerin mit Verletzungen beider Hinterhauptslappen, deren allgemeine Sehfähigkeit davon jedoch nicht beeinträchtigt war: Sie hatte kei-ne Gesichtsfeldausfälle, war in normaler Weise zu willkürlichen Augenbewegungen fähig und verfügte über eine ausreichende Sehschärfe.
Erstaunlicherweise vermochte diese Patientin unter bestimmten Umständen mit mehr als einem Gegenstand im zentralen Gesichtsfeld koordinierte Handlungen und Bewegungen durchzuführen, obwohl sie nur einen davon sah. Die entscheidende Bedingung war, daß die Objekte in einer funktionalen (wie Füller und Kappe) oder semantischen (wie Birne und Orange) Beziehung zueinander standen. Dabei verrieten die präzisen Vorstellungen von räumlicher Lage und Art des nicht gesehenen Gegenstandes, daß er unbewußt sehr wohl wahrgenommen und auch erkannt wurde.
Bei den Versuchen legten die Wissenschaftler der Patientin unter anderem Paare von Karten vor, auf denen jeweils ein bestimmtes Objekt abgebildet war. Sie sollte die Karten mit den Zeigefingern berühren und sie auseinander- oder zusammenschieben. Gehörten die abgebildeten Gegenstände zu einer gemeinsamen semantischen Kategorie, waren also zum Beispiel beides Früchte, so legte die Patientin tatsächlich je einen Zeigefinger auf jede Karte und bewegte beide in der verlangten Weise. Wurde ihr dagegen ein Kartenpaar mit unzusammenhängenden Bildbedeutungen präsentiert – zum Beispiel mit der Zeichnung eines Bären und einer Birne –, so deutete sie mit beiden Zeigefingern auf ein und dieselbe Karte. Welche sie dabei auswählte, variierte in zufälliger Weise von Durchgang zu Durchgang. Legten ihr die Wissenschaftler die Zeigefinger auf unterschiedliche Karten, so bewegte sie bei der Aufforderung, die Objekte voneinander wegzubewegen oder zusammenzuschieben, nur eine von beiden in eine willkürliche Richtung.
Das gleiche Ergebnis erbrachten Versuche mit realen Gegenständen. So konnte die Patientin zwar auf einen Füllfederhalter die zugehörige Kappe stecken, sie aber nicht in ein Tablettenschälchen legen.
Um mehr über den Hintergrund dieses Phänomens zu erfahren, steigerten Castiello, Scarpa und Bennett die Komplexität der Aufgabe noch. In weiteren Durchgängen legten sie die Kartenpaare mit der Bildfläche nach unten, so daß sie äußerlich gleich aussahen. Was darauf abgebildet war, teilten sie der Patienten jeweils mündlich mit. Das Ergebnis war dasselbe wie zuvor: Gehörten die genannten Bildinhalte derselben Kategorie an, vermochte die Patientin die Karten, wie gewünscht, zusammenzubringen oder voneinander zu trennen; anderenfalls bewegte sie nur eine in zufälliger Weise.
Im übrigen bezog sich die Störung nur auf das zentrale Sehen. Die Patientin konnte Zahl und Identität von Gegenständen am Rande ihres Gesichtsfeldes richtig angeben und die Objekte auch gezielt relativ zueinander verschieben – unabhängig davon, welche kategorische oder funktionelle Beziehung zwischen ihnen bestand.
Diese Untersuchungsergebnisse sind nicht leicht zu interpretieren – zumal die natürlichsprachliche Schilderung kognitiver Prozesse grundsätzlich problematisch ist. Ausdrücke wie "sehen", "wahrnehmen", "erkennen", "bewußt" oder "unbewußt" spiegeln ein subjektives Erleben wider und sind deshalb schlecht geeignet, die Beobachtungen in einem Experiment objektiv zu beschreiben. Ihr Gebrauch bringt deshalb ein gewisses Maß an Ungenauigkeit und Willkür mit sich. Dennoch kommt man in Ermangelung einer geeigneten Metasprache nicht ganz ohne sie aus.
Trotz dieses Vorbehalts lassen die geschilderten Untersuchungen gewisse Rückschlüsse auf Eigenarten der neuronalen Verarbeitung von Informationen im Gehirn zu. So bestätigen sie das Vorliegen funktionell getrennter visueller Systeme. Zudem machen sie deutlich, daß Sehen kein Vorgang ist, der immer zu einem optisch wahrnehmbaren Bild führt; Informationen, welche die Netzhaut des Auges erreichen, können unsichtbar bleiben und trotzdem Neuronenverbänden zugänglich werden, die sie zum Beispiel kategorisieren und für die Steuerung und Koordination von Bewegungen verwenden. Offenbar spielt es auf diesen Stufen der neuronalen Verarbeitung auch keine Rolle mehr, wie die entsprechende Kategorie repräsentiert ist – ob also die Birne zum Beispiel als Bild oder als akustischer Worteindruck dargeboten wird.
Die Befunde widersprechen zugleich einer Grundannahme der älteren Neurologie, wonach jede Hirnverletzung das abstrakte und kategorielle Vermögen schwächt oder auslöscht und das Individuum auf das Emotionale und Konkrete reduziert. Hier trifft das Gegenteil zu: Die Patientin ist unfähig, konkret und real einen zweiten Gegenstand in ihrem zentralen Gesichtsfeld zu sehen, ordnet ihn aber dennoch kategorial richtig zu.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1996, Seite 22
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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