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Modellierung von Knautschprozessen


Ein Blatt Papier wird zerknüllt, eine leere Getränkedose plattgetreten, ein Kotflügel beim Auffahrunfall zerknittert: In allen drei Fällen geht es um die Deformation von Materialien, die im Vergleich zu ihrer flächigen Ausdehnung dünn sind. Obwohl solche Knautschprozesse zur alltäglichen Erfahrung gehören, ist das theoretische Verständnis davon noch sehr lückenhaft. Zwar hatten der deutsche Ingenieur August Föppl (1854 bis 1924) und der ungarisch-amerikanische Aerodynamiker Theodore von Kármán (1881 bis 1963) schon Anfang dieses Jahrhunderts die Elastizitätstheorie stark gekrümmter dünner Platten entwickelt; aber die daraus herzuleitenden Gleichungen für das Verhalten des Materials sind hochgradig nichtlinear und erlauben – wie fast alle nichtlinearen partiellen Differentialgleichungen – kaum detaillierte Aussagen über die Eigenschaften ihrer Lösungen.

In den letzten Jahren gab es indes wesentliche Fortschritte – einerseits durch Computersimulationen (Spektrum der Wissenschaft, März 1997, Seite 99), andererseits durch Skalierungsüberlegungen, die von der Theorie der Phasenübergänge inspiriert sind: Man konzentriert sich auf die Frage, wie die Kräfteverhältnisse und damit der Knautschvorgang sich ändern, wenn man zu immer großflächigeren Materialien übergeht. Typischerweise lassen sich bei einem solchen Grenzwertprozeß gewisse Dinge vernachlässigen, wodurch das Problem behandelbar wird.


Die Fullerene als Modellfall

Thomas Witten und Hao Li von der Universität Chicago, die seit vier Jahren auf diesem Gebiet forschen, hatten allerdings ursprünglich ganz bestimmte chemische Strukturen im Sinn, die aus zahlreichen, netzartig verknüpften Kohlenstoffatomen bestehen. Im einfachsten Falle handelt es sich um eine beliebig große, bienenwabenförmige Anordnung von Sechsringen in der Ebene, wie sie im Graphit realisiert und schon lange bekannt ist. Kompliziertere, zu konvexen Hohlkörpern geschlossene Kohlenstoffnetze haben dagegen als Fullerene vor zehn Jahren Furore gemacht (Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1991, Seite 88, und Dezember 1996, Seite 18). Prototyp ist das kugelförmige C60, in dem 60 Kohlenstoffatome wie bei einem Fußball in 12 Fünf- und 20 Sechsringen miteinander verbunden sind, wobei jedes Atom zu drei Ringen zugleich gehört. Zu einem Zylinder aufgewickelte Graphitschichten bilden schließlich die sogenannten Nanoröhren (nanotubes), deren Länge und Dicke über weite Bereiche variieren kann.

In all diesen Verbindungen ist jedes Kohlenstoffatom direkt mit seinen drei nächsten Nachbarn verbunden, während sich das vierte Valenzelektron mit seinesgleichen den Platz im ganzen Ring teilt: Es ist delokalisiert, wie die Chemiker sagen. Man darf sich – mit aller gebotenen Vorsicht – zwischen zwei Bindungspartnern eine Schraubenfeder vorstellen, die sowohl auf Druck als auch auf Zug reagiert: Die Atome bevorzugen einen gewissen gegenseitigen Abstand und reagieren auf jede Abweichung davon mit einer rücktreibenden Kraft.

Zusätzlich hat jedes Atom gleichsam den Wunsch, mit seinen drei Nachbarn in einer Ebene zu liegen, weil diese planare Anordnung für die energetisch günstige Delokalisation des vierten Valenzelektrons optimal ist. Man stelle sich zwei benachbarte Sechsringe durch ein Scharnier verbunden vor und dazu eine Spiralfeder, die bestrebt ist, den Scharnierwinkel auf 180 Grad zu halten. (Allerdings hinkt dieser Vergleich noch mehr, weil ein Sechsring nicht in einer Ebene liegen muß, sondern gewellt sein kann.)

Eine Graphitschicht ist also eine dünne Platte besonderer Art: Die Schraubenfedern zwischen den Atomen sind verantwortlich für die Schersteifigkeit, das heißt für den Widerstand gegen Kräfte, die in Richtung der Fläche wirken; die Federn zu den Scharnieren bedingen dagegen die Biegesteifigkeit, also den Widerstand gegen Kräfte senkrecht zur Fläche. Man kann nun die an (echten oder simulierten) Graphitschichten oder Fulleren-Molekülen gewonnenen Erkenntnisse auf makroskopische dünne Platten – Papierblätter, Getränkedosen und so weiter – übertragen und umgekehrt: Skalenüberlegungen aus der Elastizitätstheorie helfen, die Form großer Kohlenstoffnetze zu verstehen, und Computersimulationen für makroskopische Platten verwenden imaginäre Netze aus Massenpunkten und dazwischen gespannten Federn, die den Vorbildern aus Kohlenstoff zumindest nachempfunden sind. Mit diesem Modell haben Witten und seine Mitarbeiter interessante Ergebnisse erzielt ("Science", Band 270, Heft 5241, Seiten 1482 bis 1485).

Man stelle sich ein sehr großes Fulleren vor. Aus topologischen Gründen muß es genau zwölf Fünf- und im übrigen lauter Sechsringe enthalten. Wenn man es sich selbst überläßt, nimmt es eine Form mit minimaler Gesamtenergie an, bei der alle Kräfte im Gleichgewicht sind. Gäbe es keine Biegesteifigkeit, wäre dies ein reguläres Ikosaeder mit flachen Seiten, scharfen Kanten und einem Fünfring an jeder der zwölf Ecken. Gäbe es andererseits keine Scherelastizität, dann wäre der Zustand niedrigster Energie eine perfekte Kugel. Was geschieht nun, wenn beide Kräfte wirken? Die wesentliche Erkenntnis der Gruppe um Witten ist, daß bei der energetisch günstigsten Form die Seiten des Ikosaeders weitgehend flach bleiben und die Kanten nur ein wenig abgerundet sind.

Wenn man nun zu immer größeren Fullerenen übergeht, wächst die abgerundete Kante mit, und ihre Krümmung wird dadurch flacher – aber nicht maßstäblich: Der Krümmungsradius – das ist der Radius des Zylinders, der sich am besten an die abgerundete Kante anschmiegt – wächst nicht proportional zur Kantenlänge R, sondern nur zum Quadrat ihrer Kubikwurzel, also zu R2/3. Daraus folgt, daß das Verhältnis des Krümmungsradius zum Gesamtdurchmesser des Moleküls wie R1/3 abnimmt. Gemessen an der Gesamtgröße werden die Kanten somit schärfer: Die Krümmung konzentriert sich auf einen immer kleineren Bruchteil der Oberfläche. Entsprechend wächst die elastische Energie proportional zu R1/3. Das ist langsamer als bei einer maßstäblichen Vergrößerung und langsamer als in dem ebenfalls denkbaren Fall, daß der Krümmungsradius unabhängig von der Molekülgröße konstant bleibt. Allerdings beruhen diese Aussagen auf groben Abschätzungen, deren Gültigkeit schwer zu beurteilen ist: Es wurden Terme vernachlässigt, die im Grenzfall großer Radien vermutlich keine Rolle spielen, ohne daß dies jedoch exakt nachweisbar wäre.

Um zu überprüfen, ob die abgeleitete relative Kantenverschärfung tatsächlich gilt und auch bei anderen geometrischen Gebilden als (annähernd) ikosaederförmigen Fullerenen auftritt, führten die Gruppe in Chicago sowie unabhängig davon ein Team unter Leitung von Dani-el Kroll an der Universität von Minneso-ta in Minneapolis Computersimulationen durch. Dazu überzogen die Wissenschaftler die Oberfläche regulärer Polyeder (platonischer Körper) mit gedachten Netzen aus dreieckigen Maschen und überließen diese dem Spiel der simulierten Kräfte, bis sie in einem Energieminimum zur Ruhe kamen (Bild 1 zeigt das Ergebnis für den Tetraeder). Indem die Forscher für Netze verschiedener Größe den Krümmungsradius der Kanten sowie die elastische Energie bestimmten, konnten sie die theoretischen Vorhersagen im Grenzfall großer Radien bestätigen sowie die minimale Größe des Netzwerks bestimmen, ab der die angegebenen asymptotischen Potenzgesetze gültig sind.


Zerknüllen von Papier im Computer

Was bringt das nun für das Verständnis von Knautschprozessen? Auf einer gestauchten oder gekrumpelten elastischen Folie bildet sich ein Muster von Linien hoher Energiedichte aus, ähnlich denen, die man auf einem zerknüllten und wieder glattgezogenen Stück Papier sieht. Haben diese Linien ähnliche Eigenschaften wie die Kanten von Fullerenen? Eric Kramer und Witten überprüften – wiederum an der Universität Chicago – diese Vermutung Anfang des Jahres mit Hilfe des erwähnten Computer-Modells ("Physical Review Letters", Band 78, Seiten 1303 bis 1306). Dazu schlossen sie ein ebenes Netzwerk mit Durchmesser L in eine hinreichend große Kugel ein und verminderten langsam deren Radius R, was einem sehr geregelten Zerknüllen entspricht. In der Tat bildet sich dabei ein charakteristisches Linienmuster aus Knicken (Bild 2). Das computersimulierte Material ist allerdings perfekt elastisch, so daß es nach dem Verschwinden der äußeren Kraft seine alte Form wieder annehmen würde, wogegen sich Papier und andere reale Materialien irreversibel deformieren, wenn die Energiedichte eine gewisse Schranke überschreitet; deswegen kann man bei einem zerknüllten Blatt die Linien hoher Energiedichte nach dem Glattstreichen immer noch sehen.

Wie die Simulationen unter anderem ergaben, verringert sich die Länge l der Knicklinien proportional zum sich verkleinernden Radius R der einschließenden Kugel. Da die Linien die zerknüllte Fläche in lauter Einzelflächen der Größenordnung l2 zerlegen, nimmt ihre Anzahl wie (L/l)2, also auch wie (L/R)2 mit abnehmendem Kugelradius zu. Mit der oben angegebenen Abhängigkeit der Energie einer Kante von der Kantenlänge ergibt sich dann, daß die gesamte elastische Energie mit abnehmendem Kugelradius wie 1/R5/3 steigt. Diese theoretisch abgeleitete Beziehung wird ihrerseits durch die Simulationsergebnisse auch direkt bestätigt.

Ein interessantes Anwendungsgebiet für die Theorie dünner Flächen sind die Lipid-Doppelschichten, die den Grundbestandteil aller tierischen Zellmembranen bilden. Ihre Eigenschaften wurden sehr detalliert an roten Blutkörperchen untersucht, die besonders einfach aufgebaut sind, weil sie keinen Kern und nur wenige Organellen enthalten. Außerdem fehlt diesen Sauerstofftransporteuren die Extrazellulärmatrix, welche bei normalen Zellen als dichte Polymerschicht die Außenseite der Membran überzieht und eine extrem hohe Schersteifigkeit bedingt. Statt dessen haben sie ein lockeres Polymernetz an der Innenseite der Membran, das einem Fischernetz ähnelt. Es erlaubt starke Verformungen und sichert zugleich den Zusammenhalt der Blutzelle, wenn sie sich durch enge Kapillaren zwängt.

Bei derart elastischen mikroskopischen Filmen sind Fluktuationen durch die zufällige thermische Bewegung der Atome für das Knautschverhalten von wesentlicher Bedeutung. In Computer-Simulationen werden sie berücksichtigt, indem in jedem Zeitschritt die Knotenpunkte des Netzwerks nicht nur in Richtung der wirkenden Kraft verschoben werden, sondern gelegentlich – zufallsabhängig – auch in andere Richtungen, und zwar um so häufiger, je höher die Temperatur ist (Bild 3). Wegen dieser Zufallsabhängigkeit bezeichnet man derartige Verfahren als Monte-Carlo-Methoden. Für thermisch fluktuierende Membranen werden sie bereits seit 1986 eingesetzt.

Thermische Schwankungen machen die Fläche gewissermaßen rauher und reduzieren dadurch die Schersteifigkeit. Diesen Effekt kann man an einem Blatt Papier leicht nachvollziehen: Wenn es glatt auf dem Tisch aufliegt, kann man zwei gegenüberliegende Kanten nicht gegeneinander parallelverschieben. Das ist jedoch leicht möglich, wenn man das Blatt zuvor rauh macht, indem man es zerknüllt und wieder glattstreicht. Je größer die Membranfläche ist, desto mehr reduziert diese Behandlung die Schersteifigkeit.

Erfreulicherweise bleiben trotz Fluktuationen die Skaleneigenschaften einer Kante erhalten; nur sind die asymptotischen Potenzgesetze erst bei größeren Kantenlängen anwendbar. Damit behalten die genannten theoretischen Ableitungen über Knautschprozesse auch auf mikroskopischer Skala ihre Gültigkeit. Tatsächlich hat man vor einigen Jahren experimentell beobachtet, daß ein rotes Blutkörperchen, wenn es sich durch Kapillaren quetscht, die nur halb so weit sind wie sein Durchmesser, sich sehr ähnlich eindellt wie eine Getränkedose beim Zusammendrücken.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1997, Seite 29
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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