Physiologie: Molekulare Muskelmaschinen
Gewichte heben, Lasten halten und Bälle werfen – ohne unterschiedliche Fasertypen in unseren Muskeln wären die vielfältigen Anforderungen nicht zu bewältigen.
Drei Milliarden Herzschläge in einem Menschenleben, Höchstleistungen im Laufen, Gewichtheben und Springen, daneben die kontinuierliche Arbeit des Darmes und der Atmung: All das ist nur möglich, wenn Muskel nicht gleich Muskel ist. Und in der Tat: Schon ein kurzer Blick durchs Mikroskop genügt dem Fachmann, um das Muskelgewebe des Bewegungsapparates, der so genannten Skelettmuskeln, von dem der inneren Organe zu unterscheiden.
Das Instrument verrät jedoch nicht bis ins Letzte, woher die offensichtliche funktionelle Vielfalt der rund 400 Skelettmuskeln unseres Körpers rührt. Wie jedermann schon am eigenen Leib erfahren hat, arbeiten bestimmte Muskeln von vornherein schneller, präziser, ausdauernder oder kraftvoller als andere – wobei das eine aber das andere nicht völlig ausschließt. So sind für die Feinmotorik beim Klavierspiel die gleichen Muskeln zuständig wie für den festen Griff beim Tragen einer Einkaufstasche.
Die Ursachen für die funktionelle Vielfalt verbergen sich vor allem in feinen Nuancen der molekularen Bausteine: Von Muskelfaser zu Muskelfaser weichen viele der darin enthaltenen Proteine geringfügig, aber doch entscheidend voneinander ab. Der Fachmann spricht von Strukturvarianten oder Isoformen.
Einige wesentliche neue Erkenntnisse hierzu haben unsere Forschungen und die anderer Wissenschaftler in den letzten Jahren erbracht. Hand in Hand damit wurde die bewährte, aber vereinzelt noch bezweifelte Theorie zum molekularen Mechanismus der Kraftentwicklung auf eine noch solidere Grundlage gestellt. Lohn der Mühe unter anderem: die Entdeckung eines Fasertyps mit einer bislang unbekannten Variante des wichtigsten Muskelproteins. Es macht den Muskeln noch effizienter. Um zu verstehen, wie das geschieht, ist es zweckmäßig, sich die Funktionsprinzipien der Muskelkontraktion zu vergegenwärtigen.
Tausende von Muskelfasern bauen einen Skelettmuskel auf. Dies sind aber keine "Fäden", sondern riesige Zellen, allerdings ausgesprochen schlauchförmige. Bei einer Dicke von etwa dreißig bis gut hundert Mikrometer (tausendstel Millimeter) werden sie immerhin mehrere Zentimeter lang. Als Besonderheit enthalten Muskelfasern neben zahlreichen Zellkernen vor allem "Myofibrillen". Das sind verkürzungsfähige, etwa ein Mikrometer dicke Stränge, genauso lang wie die Fasern selbst. Dicht gebündelt, füllen sie einen beträchtlichen Teil des Zellinneren aus.
Wer beispielsweise die Hand zur Faust ballt, hat Nervensignale vom Gehirn zu bestimmten Muskeln geschickt. Sie wirken wie ein zündender Funke: Ein Zisternensystem, das die Myofibrillen jeder Muskelfaser umspinnt, schüttet schlagartig Calcium-Ionen aus; die wiederum besetzen sogleich spezielle Empfängermoleküle, worauf die Myofibrillen ihre Kraftakte beginnen.
Tausende von Myofibrillen in einer Muskelfaser und wiederum Tausende von Fasern in einem Muskel werden über die Calcium-Konzentration präzise aktiviert und bei Bedarf wieder ruhig gestellt – Grundvoraussetzung für eine koordinierte Bewegung. Die parallele Anordnung der Myofibrillen wie auch der Fasern in Skelettmuskeln bündelt die winzigen Kräfte der einzelnen Komponenten zur geballten Kraft etwa einer Faust.
Das Motto "Viel Wenig gibt auch ein Viel" setzt sich innerhalb der Myofibrillen fort. Wie die Muskelzelle selbst sehen auch sie wie prall gefüllte Schläuche aus, aber mit Querwänden in regelmäßigen Abständen. Diese abgeteilten kleinen Gefache – Fachleute sprechen von Sarkomeren – sind die "Kraftkammern" der Muskeln. Von ihren beiden scheibenförmigen Abgrenzungen aus ragen dünne parallele Proteinfäden, die Aktinfilamente, zur Mitte der Kammer. In ihrer Anordnung erinnern sie ein wenig an die Borsten einer Bürste. An ihnen "klebt" in regelmäßigen Abständen der erwähnte Calcium-Rezeptor. In der Mitte der Kammer erstrecken sich – wiederum parallel – dickere seilartige Proteinstränge: die "Myosinfilamente". Sie ragen ein Stück weit zwischen die "Borsten" und sehen ein wenig nach Stacheldraht aus. Ihnen entspringen nämlich in regelmäßigen Abständen kleine Stacheln, genauer: Greifarme in Form eines abgeknickten birnenförmigen Köpfchens. Jedes sitzt mit seinem Hals auf einem langen Schaft, der mit anderen den "Draht" selbst bildet. In diesen Myosinköpfchen sehen die meisten Muskelforscher, auch wir, die eigentlichen bewegenden Elemente, die molekularen Motoren.
Da wir Forscher das molekulare Treiben in den Kraftkammern der Muskeln nicht direkt beobachten können, sind wir auf Schlussfolgerungen angewiesen, die sich aus indirekten Ansätzen ergeben. Wahrscheinlich aber interagieren die Myosinköpfchen fortwährend – auch wenn der Muskel ruht – mit den umliegenden "Aktin-Borsten" ihrer Kammerhälfte, indem sie sich im raschen Takt mit einem "Kopfnicken" anklinken und sofort wieder loslassen. Sobald auf ein Nervensignal hin aber Calcium die dünnen Fäden indirekt griffiger macht, können die Köpfchen fester und beständiger andocken, ehe sie wieder loslassen. So ziehen sie bei jedem "Nicken" die ergriffenen Borsten um mehrere millionstel Millimeter in Richtung Kammermitte.
Offenbar beugt sich nicht der gesamte birnenförmige Greifarm, sondern nur sein sich verjüngender Halsteil. Darauf lassen Ergebnisse der letzten Jahre schließen. Wie auch immer: Da die Köpfchen jedes Mal weiter vorn zupacken, rücken die Bürstengriffe – sprich die Querwände – sukzessive aufeinander zu: Die Kraftkammer verkürzt sich teleskopartig um insgesamt mehrere zehntel Mikrometer. Wegen der riesigen Zahl aneinander gereihter Gefache in jeder Myofibrille summiert sich dies letztlich zu einer sichtbaren Verkürzung der Fasern und insgesamt des Muskels.
Aber nicht nur Bewegung, sondern auch zum Beispiel das bloße Halten einer Last kostet Energie. Man lese das Heft einmal mit horizontal vorgestreckten Armen weiter. Die Myosinköpfchen in den haltenden Muskeln setzen dann die ergriffenen dünnen Fäden bloß unter Spannung, ohne sie zu verschieben. Sie rudern sozusagen auf der Stelle, können nur immer wieder am selben Punkt zu ziehen versuchen.
Diese Rudertätigkeit erscheint hier auf den ersten Blick widersinnig; denn halten ließe sich eine Last auch, wenn die Myosinköpfchen einfach währenddessen stur an den dünnen Fäden angeklinkt blieben. Beispielsweise halten die Schließmuskeln von Muscheln auf diese Weise die Schalen ohne Energieaufwand geschlossen. Warum ist dieser ökonomische Mechanismus nicht auch in unseren Skelettmuskeln verwirklicht? Ganz einfach: Sie würden erstarren und sich nicht sogleich bei Bedarf weiter verkürzen können. Für den Schließmuskel der Muscheln ist das kein Problem; er kann sich ohnehin nicht weiter verkürzen, wenn die Schotten dicht sind. Wir hingegen wären sicherlich nicht erfreut, wenn unser horizontal ausgestreckter Arm in seiner Position erstarrte und sich erst nach Zeit raubenden Vorgängen wieder bewegen ließe.
Genau wie die Myosinköpfchen anderer Säugetiere rudern auch unsere also fortwährend, sodass unsere Skelettmuskeln –außerin der Totenstarre – flexibel bleiben. Die Myosinköpfchen arbeiten allerdings nie im Gleichtakt. Würden sie das tun, käme es im regelmäßigen Rhythmus zu "haltlosen Zuständen". Da sie aber zeitlich unkoordiniert arbeiten, summiert sich das Ganze zu einer konstant anhaltenden Zugkraft, die es erlaubt, Lasten dauerhaft zu halten und gleichförmige Bewegungen auszuführen.
Wie schon angedeutet, unterscheiden sich die einzelnen Muskelzellen, die Muskelfasern, in ihren Eigenschaften. Je heterogener ein Muskel in dieser Hinsicht zusammengesetzt ist, desto breiter sind seine Einsatzmöglichkeiten.
Wie kommen nun Unterschiede im Verhalten einzelner Muskelfasern zu Stande? Eine Vielzahl von möglichen Einflussfaktoren kann variieren: sei es die Kontrolle durch die Nervenfasern, das Weiterleiten ihrer Befehle ins Zellinnere, die Energieversorgung oder das molekulare Geschehen in den Myofibrillen. Auf Letzteres werde ich mich hier beschränken.
Voraussetzung für Variationen in der Funktion sind immer Modifikationen in den beteiligten Strukturen. Die meisten Proteine der Myofibrillen treten in mindestens zwei Strukturvarianten auf. Mehrere solche "Isoformen" gibt es vor allem bei der so genannten schweren Myosinkette. Sie ist die Hauptkomponente jenes Proteins, das die Myosinfilamente aufbaut und in einem Greifarm endet.
Wenn nun Muskelfasern mit unterschiedlichen Varianten der schweren Myosinkette sich jeweils unterschiedlich schnell verkürzen, dann darf man mit einiger Gewissheit schließen, dass das Protein allgemein für den molekularen Mechanismus der Verkürzung verantwortlich ist. Je enger die festgestellte Korrelation, desto gesicherter die Schlussfolgerung.
Forscher haben bereits mehrfach untersucht, wie gut die maximale Kontraktionsgeschwindigkeit einzelner Muskelfasern mit den jeweils darin vorhandenen Varianten der schweren Myosinkette korreliert. Die ermittelten Bezüge waren aber nur teilweise überzeugend. Auch mein Labor hatte zunächst diesen Weg beschritten. Viel aufschlussreicher erwiesen sich dann unsere Studien, die statt der Verkürzungsgeschwindigkeit die so genannte Dehnungsaktivierung verglichen.
Die Dehnungsaktivierung ist ein verblüffendes, im Prinzip aber einfach messbares Phänomen. Man spannt eine hüllenlose Muskelfaser wie eine Wäscheleine zwischen zwei Pfosten und regt sie an, Zugkraft zu erzeugen. Dann rückt man den einen "Pfosten" blitzschnell ein Stückchen weiter fort und verfolgt am anderen, wie sich die darauf ausgeübte Zugkraft ändert. Zunächst steigt der Wert abrupt, kehrt aber, wenn die neue Länge erreicht ist, zum Ausgangswert zurück. Doch noch während des Abfalls oder kurz danach, steigt er merkwürdigerweise nochmals vorübergehend an.
Für eben diesen unerwarteten Kraftanstieg, der verzögert nach einer Dehnung auftritt, hat sich der Name "Dehnungsaktivierung" eingebürgert. Worauf könnte er beruhen? Werfen wir einen Blick in die molekularen Kraftkammern und überlegen uns, was geschieht, wenn eine Muskelfaser plötzlich etwas gestreckt wird. In jeder Kraftkammer ihrer zahlreichen Myofibrillen zieht man dadurch die dünnen Molekülfäden – die Borsten – etwas weiter aus dem Bereich der dicken Stränge heraus. Da deren Greifarme alle asynchron rudern, halten in jedem Augenblick stets viele "Hände" die Borsten fest. Das ruckartige Wegziehen ihres Halts dehnt sie jäh. Den Widerstand, den sie dabei leisten, messen wir als ersten, abrupten Kraftanstieg.
Etliche Greifarme werden wahrscheinlich so sehr gedehnt, dass sie sich eher als vorgesehen lösen. Dies äußert sich in dem markanten Kraftabfall nach dem Ruck. Nach kurzer Zeit heften sich die losgelösten Arme wieder an und üben nun vorübergehend ziemlich taktgleich Zugkräfte aus. Die Dehnungsaktivierung repräsentiert somit vermutlich einen gemeinsamen molekularen Kraftakt von Greifarmen, die infolge der abrupten Dehnung vorübergehend zeitlich synchronisiert wurden.
Fasern auf der Streckbank
Das alles klingt plausibel, ist aber reine Theorie. Was in den Kraftkammern tatsächlich im Detail passiert, entzieht sich unserer Kenntnis. Doch alle Forscher – auch die wenigen, die das Konzept der Myosinköpfchen als Verursacher der Muskelkraft ablehnen – dürften sich in einem Punkt einig sein: Der unerwartete Kraftanstieg bei der Dehnungsaktivierung kann nur durch molekulare Motoren bewirkt sein, wer immer diese auch sein mögen. Fände sich nun ein klarer Zusammenhang zwischen dem jeweiligen Verlauf der Dehnungsaktivierung und den Varianten der Greifarme, dann könnte sich die Fachwelt sehr viel sicherer sein, dass diese tatsächlich die krafterzeugenden Elemente darstellen.
Zusammen mit meinem Mitarbeiter Karlheinz Hilber prüfte ich deshalb in meinem Labor an der Universität Salzburg einige hundert "enthäutete" Fasern aus Beinmuskeln von Ratten und Kaninchen auf ihr Verhalten. Das geschah in einer eigens entwickelten Apparatur, um exakte Messungen unter konstanten Bedingungen zu ermöglichen. Die anschließende diffizile Proteinanalyse übernahm das biochemische Labor von Dirk Pette an der Universität Konstanz. Bestimmt wurden vor allem die Strukturvarianten der schweren Myosinkette. Aus den Muskeln der Gliedmaßen erwachsener Säugetiere waren bis dahin vier solcher Varianten bekannt: 1, 2a, 2b und 2d. Muskelfasern, die ausschließlich eine dieser Sorten enthalten, tragen analog die Bezeichnung Typ 1, Typ 2A, Typ 2B und Typ 2D. Neben diesen "reinrassigen" Fasertypen gibt es auch Mischfasern mit zwei Varianten.
Analysiert wurden die Proteine mit Hilfe der Gel-Elektrophorese. Dabei wandern die Eiweißstoffe, angetrieben von einem elektrischen Feld, durch das molekulare Maschennetz eines Polyacrylamid-Gels und trennen sich entsprechend ihrer Größe und Ladung. Das Ergebnis ist schließlich ein Muster von Streifen, von denen jeder ein Protein repräsentiert.
Als wir die gewonnenen biochemischen Daten mit den physiologischen Eigenschaften der Muskelfasern verglichen, zeigte sich ein verblüffend enger Zusammenhang zwischen der Zeit bis zur maximalen Dehnungsaktivierung und der Art der schweren Myosinkette: Am schnellsten reagierten Fasern vom Typ 2B, gefolgt von Typ 2D und dann Typ 2A. Weit abgeschlagen rangierte Typ 1; diese Fasern waren im Mittel etwa 30-mal langsamer als die schnellsten. Die jeweiligen Mischfasern lagen mit ihren Werten zwischen den reinen Fasertypen, ohne sich damit zu überschneiden. Selbst das genaue Mischungsverhältnis ihrer beiden Ketten-Varianten wirkte sich aus: Ein höherer Anteil der Variante 2d beispielsweise verlangsamte die Reaktion stärker als ein geringer An-teil. Wir durften daher berechtigt annehmen, dass die Geschwindigkeit der Dehnungsaktivierung im Wesentlichen durch die Varianten der schweren Myosinkette bestimmt wird.
Natürlich haben wir mit Pettes Labor auch noch die Strukturvarianten anderer Proteine der Kraftkammern analysiert. Doch nie ergab sich ein entsprechender Zusammenhang bei den getesteten Fasern.
Alles in allem scheint nun jener Baustein im Puzzle der Muskelforschung gefunden, der eine ursächliche Verknüpfung zwischen Greifarmvarianten und Dehnungsaktivierung herstellt. Die vereinzelt immer noch bezweifelte Theorie, dass die Muskelkraft letztlich auf der "Handarbeit" der dicken Molekülfäden in den Kraftkammern beruht, steht damit auf einer solideren Grundlage.
Rudern im Schneckentempo
Unser Befund untermauerte zugleich die Annahme, die Dehnungsaktivierung selbst rühre von einem gemeinsamen molekularen Kraftakt zeitlich synchronisierter Greifarme her. Somit konnten wir auch deren relatives Rudertempo ableiten. Im Vergleich zur Kettenvariante 2b rudern Greifarme der Variante 1 etwa 30-mal langsamer; 2a ist etwa sechsmal und 2d etwa zweimal langsamer. Diese Unterschiede im Rudertakt sind höchstwahrscheinlich eine der wichtigsten Ursachen für die Vielfalt der funktionellen Leistungen von Skelettmuskeln. Je langsamer der Takt, desto sparsamer der Energieverbrauch bei bloßer Haltearbeit. Das macht solche Fasern ausdauernder.
Erweitert werden diese Möglichkeiten noch durch die überraschende Entdeckung einer bis dahin unbekannten Variante der schweren Myosinkette. Darauf gestoßen sind wir, als wir aus bestimmten Muskeln am Hinterlauf eines Kaninchens vermeintlich reine Typ 1-Fasern untersuchten. "Enthäutet" arbeiteten diese Zellen vereinzelt bis zu 100-mal langsamer als die schnellsten. Bei der Gel-Elektrophorese erschien unterhalb des üblichen Proteinstreifens gewöhnlicher Typ-1-Fasern noch ein weiterer: Je mächtiger dieser ausgeprägt war, desto langsamer die Dehnungsaktivierung der Muskelfasern. Der zusätzliche Proteinstreifen musste eine neue Strukturvariante der schweren Myosinkette im Skelettmuskel repräsentieren – eine mit einem viel langsamer rudernden Greifarm.
Wir gaben ihr das Kürzel "1a" und tauften zugleich die alte in "1b" um, weil sie offenbar der Beta-Variante des Herzmuskels entspricht. Das Herz enthält im Übrigen noch eine als Alpha-Variante bezeichnete Sorte. Diese tritt vor allem in der Muskulatur der Vorhöfe auf und rudert – unseren Experimenten der Dehnungsaktivierung zufolge – etwa dreimal schneller als die Beta-Variante. Die neue Form im Skelettmuskel war also etwas anderes; deswegen bekam sie von uns nicht den Zusatz "Alpha", sondern "a"
Doch zurück zum Kaninchenlauf. In seinen Skelettmuskeln gibt es also neben den bekannten reinen Typ-1b-Fasern auch Mischfasern, die noch langsamer sind: durch eine Beimischung der Variante 1a. Einen reinen Typ 1a haben wir allerdings bisher noch nicht entdeckt.
Doch wie steht es mit menschlichen Skelettmuskeln? Auch hier umfassen die langsamen Zuckungsfasern höchstwahrscheinlich mehr als einen Typ. Dies lassen zumindest die Ergebnisse unserer jüngsten Studien an zahlreichen solchen Fasern vermuten. Die Geschwindigkeitswerte ihrer Dehnungsaktivierung zeigen nämlich eine Häufigkeitsverteilung, die mehr als eine Sorte langsamer schwerer Ketten nahe legt. Gegenwärtig versuchen wir, die vermuteten molekularen Varianten mittels biochemischer Analysen aufzutrennen. Da diese Proteine sehr groß und in ihrem Aufbau wahrscheinlich nur minimal verschieden sind, gestaltet sich das allerdings äußerst schwierig.
In den Skelettmuskeln unserer Gliedmaßen kommen langsame Zuckungsfasern insgesamt viel häufiger vor als bei Maus, Ratte und Kaninchen. Daher erwarten wir auch eine differenziertere Aufgabenteilung: Halteleistungen und langsame Bewegungen würden sich auf jeweils eigene langsame Fasertypen verteilen. Dies erscheint umso zweckmäßiger, wenn man bedenkt, dass die schnellen Zuckungsfasern beim Menschen und bei einigen anderen großen Säugetieren wie Pferden und Rindern nur zwei Typen umfassen: 2A und 2X. Unsere Untersuchungen legen nahe, dass diese beiden jeweils den Typen 2A und 2D von Kaninchen und Ratte entsprechen. Lediglich kleinere Säugetiere scheinen daneben noch den dritten flotteren Fasertyp, nämlich 2B, zu besitzen. Warum gerade sie den schnellsten aller Typen brauchen und warum ihre Beinmuskulatur insgesamt einen hohen Anteil an diversen Sorten schneller Zuckungsfasern aufweist, erklärt sich von selbst, wenn man gedanklich Mensch und Maus zum Wettlauf antreten lässt: Für einen einzigen raumgreifenden Schritt eines Läufers muss eine Maus eben unzählige Male ihre Beinchen flitzen lassen.
Die Entdeckung einer neuen Variante der schweren Myosinkette zeigt, dass Differenzierung und Spezialisierung in Skelettmuskeln viel ausgeprägter sind als bisher angenommen. Arbeitsteilung spielt eben offensichtlich auch bei den Leistungen langsamer Zuckungsmuskeln eine wesentliche Rolle; sie ermöglicht es, Tätigkeiten ökonomischer zu bewältigen.
Mehr über den molekularen Feinbau der Muskeln und die Möglichkeiten seiner Umgestaltung zu wissen, ist vor allem für die angewandten Wissenschaften der Bewegungs- und Sportphysiologie, aber auch für die Humanmedizin bedeutsam. In Skelettmuskeln bleibt die Zusammensetzung der Fasertypen nicht konstant, sondern stellt sich innerhalb weniger Wochen auf den jeweiligen Bedarf ein. Für diese Umwandlung ist das elektrische Muster der einlaufenden Nervenimpulse entscheidend. Dies weiß man aus Experimenten mit eingepflanzten Elektroden, mit denen Forscher einzelne Muskeln im lebenden Tier über die zuführenden Nerven gereizt haben. Anhaltende Reizung mit nur geringer Impuls-Frequenz – das entspricht einem Ausdauertraining – führt zu einer Umwandlung von schnellen in langsame Fasern. Kurze intensive Reizung mit langen Ruhepausen hingegen – das entspricht einem Sprinttraining – bewirkt das Umgekehrte, allerdings nur innerhalb gewisser Grenzen.
Sich umwandelnde Muskelzellen tauschen die Varianten ihrer schweren Myosinkette aus, zusätzlich aber noch viele andere Proteine, darunter Enzyme, welche die Zellen mit der universellen biochemischen Energiewährung ATP versorgen. Anders gesagt: Die Muskelzellen lesen andere Proteingene ab als zuvor. Hat sich nach effektivem Ausdauertraining der Energiestoffwechsel weitgehend bis vollständig auf die ergiebigste Form der ATP-Produktion umgestellt, ermüden die Muskeln kaum noch. Dies geht so weit, dass umtrainierte verpflanzte Rückenmuskeln einen geschwächten Herzmuskel zumindest entlasten können.
Die Wandlungsfähigkeit der Muskeln bleibt übrigens auch im Alter erhalten. Das haben Experimente mit implantierten Reizelektroden zumindest an alten Ratten gezeigt. "Alter Muskel rostet nicht" mag also der Slogan lauten.
Literaturhinweise
Alter Muskel rostet nicht. Von Dirk Pette. In: Konstanzer Universitätsreden, Universitätsverlag Konstanz, 1998.
Skelettmuskel als Herzersatz. Von Dirk Pette. In: Konstanzer Universitätsreden, Universitätsverlag Konstanz, 1990.
Two functionally distinct myosin heavy chain isoforms in slow skeletal muscle fibres. Von S. Galler et al. in: FEBS Letters, Bd. 410, S. 150, 1997.
Skelettmuskeln als Herzmuskelersatz
Vor 15 Jahren berichteten die Pariser Herzchirurgen Alain Carpentier und Juan Carlos Chachques über eine neuartige Operation, mit der sie eine besondere Form schwerer Herzinsuffizienz lindern konnten. Sie hatten einen bestimmten Rückenmuskel von seinen Ansatzstellen gelöst und wie ein Korsett um die Herzkammern gelegt. Ein speziell entwickelter Stimulator registrierte den Herzschlag und regte den verpflanzten Muskel im gleichen Takt zur Kontraktion an.
Normalerweise kann ein Skelettmuskel nicht rund um die Uhr arbeiten; er braucht Erholungspausen. Ein Herzmuskel hingegen schlägt unermüdlich bis zum Lebensende. Das Entscheidende für den Erfolg der neuen Operation war daher das nachfolgende Spezialtraining des früheren Rückenmuskels. Sein Nerv wurde nach einem sorgfältig angelegten Plan gereizt, unterbrochen von immer kürzeren Ruhepausen, bis der Muskel nach einigen Wochen nicht mehr ermüdete. Danach unterstützte der Skelettmuskel den Herzschlag – ein eindrucksvolles Beispiel für die Anpassungsfähigkeit diese Gewebes. Seit der Pionierarbeit der beiden Pariser Herzchirurgen wurden inzwischen weltweit zahlreiche solcher Operationen erfolgreich durchgeführt.
Muskelfasern auf der Folterbank
Für bestimmte Messungen ist es zweck mäßig, eine einzelne Muskelzelle – eine Muskelfaser – von ihren Membranen zu befreien und in einer künstlichen Lösung zu untersuchen. Das Ergebnis ist eine so genannte "enthäutete" Muskelfaser – im Wesentlichen nur noch ein Bündel von voll funktionstüchtigen Myofibrillen.
Das künstliche Badewasser ist dem inneren Milieu der Muskelzellen nachempfunden; vor allem stellt es den Energieträger ATP bereit. Die Enden der Faser befestigen wir an den Spitzen zweier aufrechter Nadeln. Eine davon dient als Messfühler für die Zugkraft der Muskelfaser. An der anderen sitzt ein Schrittmotor, der die Länge der Muskelfasern schnell und präzise ändern kann. Erhöhen wir in der Lösung die Konzentration des Botenstoffes Calcium auf geeignete Werte, dann versucht die enthäutete Faser, sich zusammenzuziehen. Da die Nadeln starr sind, kann sie sich nur anspannen, aber nicht verkürzen. In diesem Zustand strecken wir die Muskelfaser durch eine blitzschnelle Bewegung des Schrittmotors um wenige Promille ihrer Ausgangslänge und halten sie in ihrer neuen Lage fest.
Was nimmt der Kraftfühler am anderen Ende der Faser wahr? Während der schnellen Dehnung steigt die Zugkraft abrupt an und kehrt nach Erreichen der neuen Faserlänge wieder zum Ausgangswert zurück. Doch noch während dieses Kraftabfalls oder kurz danach steigt die Zugkraft von selbst erneut an, ehe sie endgültig langsam verebbt. Für diesen unerwarteten spontanen Kraftanstieg, der einer Dehnung verzögert nachfolgt, hat sich der Name "Dehnungsaktivierung" eingebürgert.
Bei unserer Untersuchung an hunderten enthäuteten Muskelzellen zeigte jeder Fasertyp ein etwas anderes Verhalten bei der Dehnungsaktivierung, und zwar in enger Korrelation mit den jeweils enthaltenen bekannten Varianten der so genannten schweren Kette des Myosinproteins. Das abweichende Verhalten einiger Zellen führte uns schließlich auf die Spur einer bis dahin unbekannten Variante.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 2001, Seite 36
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