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Molekulares Modellieren in der Polymerforschung


Die Beschaffenheit eines Materials sollte eigentlich vorhersagbar sein, sobald seine molekularen Bausteine bekannt sind. In der Praxis freilich bedarf es oft langwieriger und teurer Versuchsreihen im Labor, um zu verstehen, wie bestimmte Produkteigenschaften durch gezielte Veränderungen der Ausgangsstoffe zu erreichen sind. Deshalb suchen mittlerweile fast alle größeren Unternehmen der chemischen oder pharmazeutischen Industrie auch virtuell neue Verbindungen zu entwickeln und bekannte zu verbessern. Der Rechnereinsatz reicht dabei von der Kombination und Auswertung von Informationen umfangreicher chemischer Datenbanken bis zur Simulation chemisch-physikalischer Prozesse auf der Basis einzelner Moleküle.

Diese Computerchemie basiert auf der Quantentheorie, die schon seit mehreren Jahrzehnten das methodische Rüstzeug zur exakten Berechnung molekularer Strukturen und der Dynamik chemischer Reaktionen liefert. Aber obwohl die Rechnerleistung bislang etwa alle sechs Jahre verzehnfacht worden ist, lassen sich gegenwärtig erst relativ kleine Moleküle derart behandeln, und fast immer müssen vereinfachende Modelle des interessierenden Systems konstruiert werden. Dabei gibt es eine Hierarchie der Detaillierung, auf deren unterster Stufe man nur noch die äußere molekulare Form nutzt (Bild 1). Ein Beispiel dafür ist das Modellieren von flüssigkristallinen Lösungen durch stäbchenförmige Moleküle, die sich aufgrund ihrer gestreckten Form parallel zueinander anordnen. Die verschiedenen Stufen der Vergröberung sind allerdings nicht scharf voneinander abgegrenzt, sondern durch hybride Methoden vielfältig verwoben.


Modellieren mit Kraftfeldern

In der Polymerforschung hat man es zwar mit Makromolekülen zu tun, aber oft bestimmt die molekulare Struktur auf dem Niveau einzelner Atome das spezifische Verhalten eines Werkstoffs. Entsprechende Computersimulationen sind darum häufig auf der zweiten Stufe der Hierarchie angesiedelt – die chemische Struktur ist zwar noch erkennbar, doch schon stark vereinfacht. An die Stelle der exakten Quantentheorie atomarer Wechselwirkungen treten dann leichter zu berechnende phänomenologische Felder der wirkenden Kräfte.

Ein einfaches Makromolekül wie Polyethylen besteht beispielsweise aus einer langen Kette von gewöhnlich einigen zehntausend Kohlenstoffatomen, an die jeweils zwei Wasserstoffatome gebunden sind (in komplizierteren Molekülen auch komplexere Seitengruppen). Zwischen benachbarten Atomen wirken chemische Bindungskräfte, auf weitere Entfernungen hin auch elektrostatische Wechselwirkungen. Zudem werden noch abstoßende zwischenmolekulare Kräfte wirksam, die daher rühren, daß jedes Atom Raum für sich beansprucht, weil sich die Elektronenhüllen aufgrund des von Wolfgang Pauli (1900 bis 1958; Physik-Nobelpreis 1945) erkannten Ausschließungsprinzips nicht durchdringen können.

Aber bis auf elektrostatische Wechselwirkungen zwischen ionischen Gruppen nehmen diese Kräfte mit zunehmenden Abständen schnell ab, und weit voneinander entfernte Atome wirken kaum noch aufeinander. Um Rechenaufwand einzusparen, der quadratisch mit der Anzahl der berücksichtigten Atome steigt, definiert man eine Abschneidedistanz. Für die nicht-ionischen zwischenmolekularen Wechselwirkungen entsteht dabei nur ein geringer Fehler; die ionischen sind mit speziellen Methoden zu berechnen.

Phänomenologische Kraftfelder bauen sich additiv aus den Wechselwirkungen innerhalb kleiner Gruppen von meist nur zwei bis vier Atomen auf. Die darin wirkenden Kräfte modelliert man durch möglichst einfache mathematische Funktionen. Deren Parameter erlauben, das Kraftfeld an Meßergebnisse anzupassen (was um so besser gelingt, je mehr Eigenschaften in diese Eichung mit einbezogen werden). Man verwendet dazu sogenannte Trainingssysteme, etwa den Monomerbaustein, aus dem das zu modellierende Polymer aufgebaut ist (Bild 2): Dessen physikalisch-chemische Eigenschaften werden berechnet und die Ergebnisse mit genauen experimentellen Meßdaten verglichen. Weichen Theorie und Experiment voneinander ab, korrigiert man die Kraftfeldparameter und rechnet erneut. Dieser Prozeß wird so lange wiederholt, bis die gewünschte Genauigkeit erreicht ist.

So vermag man alle molekularen Systeme zu modellieren, die sich aus den Trainingsmolekülen oder ähnlichen Verbindungen aufbauen. Derzeit gibt es etwa ein Dutzend Kraftfelder für die breitere Anwendung, vor allem für Biomoleküle. Dank wachsender Rechnerleistung kann man nun auch dazu übergehen, zunächst die Kraftfeldparameter anhand quantentheoretischer Untersuchungen kleiner Trainingsmoleküle zu berechnen und anschließend große Systeme zu simulieren.

Beim Arbeiten mit phänomenologischen Kraftfeldern ist zwischen zwei Vorgehensweisen zu unterscheiden. Unter molekularer Mechanik versteht man die Suche nach der energetisch günstigsten räumlichen Anordnung miteinander verbundener Atome, das heißt nach der wahrscheinlichsten Konformation (letzteres bezeichnet eine durch bloßes Verdrehen zu erreichende räumliche Anordnung eines Moleküls). Dies ist wichtig, weil davon die physikalisch-chemischen Eigenschaften eines Makromoleküls entscheidend mitbestimmt werden.

Für diese Aufgabe gibt es jedoch derzeit bis auf wenige Ausnahmen lediglich Suchstrategien, aber keinen systematischen Algorithmus, der die energetisch günstigste Konformation in akzeptabler Zeit fände. Bereits ein lineares Makromolekül mit nur zehn verschiedenen Bindungen, von denen jede drei verschiedene Orientierungen haben kann, hat nämlich 310, also 59049 potentielle Konformationen. Entsprechend groß ist die Zahl lokaler Energieminima, von denen die meisten nur theoretisch möglich, aber nicht realisiert sind. Die Kunst besteht also darin, einen Suchalgorithmus zu ertüchtigen, zwischen wichtigen und unwichtigen Minima zu unterscheiden und letztere auch wieder verlassen zu können. Dieses Problem betrifft nicht nur phänomenologische Kraftfelder, sondern tritt gleichermaßen bei der quantentheoretischen Bechnung der optimalen Molekülkonformation auf.

Die zweite Vorgehensweise ist die Betrachtung der molekularen Dynamik (Spektrum der Wissenschaft, Juni 1986, Seite 108). Darunter versteht man im einfachsten Falle die numerische Lösung der von dem englischen Mathematiker, Physiker und Astronom Sir Isaac Newton (1643 bis 1727) aufgestellten Bewegungsgleichungen. In kleinen, meist festen Zeitschritten ermittelt der Computer aus einwirkenden Kräften, aktuellen Geschwindigkeiten und Koordinaten die jeweils neue Position jedes Atoms sowie die dann herrschenden Kraftverhältnisse und Geschwindigkeiten.

Je kleiner die Intervalle sind, desto genauer wird die Realität reproduziert; jedoch wächst damit die Zahl der Schritte, wenn man einen vorgegebenen Zeitraum simuliert. Wählt man die Intervalle aber zu groß, erhält man nur eine grobe Näherung, und die Modellatome verhalten sich unphysikalisch. Typische Schrittweiten liegen deshalb im Bereich von einer Femtosekunde (einer billiardstel Sekunde). Um ein Molekül aus einigen hundert Atomen auf einer Workstation für einen aussagekräftigen Zeitraum zu bewegen, bedarf es mehrerer Stunden bis zu einem Tag.

Im Gegensatz zur molekularen Mechanik durchsucht die Dynamikmethode die mathematische Darstellung aller Möglichkeiten – den Konformationsraum – selbständig und folgt dabei direkt den tatsächlichen Bewegungen und Verformungen der realen Moleküle, etwa bei der Diffusion durch das Polymernetzwerk einer Lebensmittelverpackung.

Eine häufig verwandte Alternative zur molekularen Dynamik ist die Monte-Carlo-Methode. Sie basiert auf dem zufälligen Erzeugen neuer Atomkoordinaten und damit neuer Konformationen, die dann gemäß einem vorgegebenen Kriterium angenommen oder verworfen werden.

Allerdings erlauben derzeitige Workstation-Computer mit den drei Methoden lediglich Berechnungen mit bis zu zehntausend Atomen und für kurze Zeiten von wenigen Nanosekunden (milliardstel Sekunden). Zum Vergleich: Das Verhältnis dieser Anzahl von Atomen zu denen in einem kleinen Weinglas entspricht schätzungsweise dem Verhältnis der im Glas enthaltenen Wassermenge zu der aller Weltmeere; und wenn eine Sekunde das Alter der Erde wäre, entspräche eine Simulationszeit von zehn Nanosekunden etwa einem Menschenalter. Trotzdem vermag man das Verhalten vieler molekularer Prozesse auf dem Computer nachzuvollziehen.

Zur Beschreibung chemisch-physikalischer Phänomene, an denen sehr viele Atome beteiligt sind oder die beträchtlich länger dauern, muß man allerdings drastische Vergröberungen der Modelle hinnehmen. Eventuell ist man sogar gezwungen, zu gänzlich anderen Simulationsmethoden aus der Hydrodynamik oder der Elastizitätstheorie überzugehen. Große Fortschritte erwartet man dabei von parallelen Computerarchitekturen, in denen zahlreiche Prozessoren mit jeweils der Leistung einer Workstation gleichzeitig Teile eines großen Systems bearbeiten.


Anwendungen in der Grundlagenforschung

Die folgenden Beispiele verdeutlichen den Einsatz der angesprochenen Verfahren und deren Kombination. So eignet sich beispielsweise die Dynamiksimulation, um das Verhalten von Polymethylmethacrylat in Benzol zu untersuchen. Dazu konstruiert man virtuell – also im Computer – ein kurzes Polymersegment aus 16 Monomeren, das dann in ein Simulationsvolumen mit Molekülen des Lösungsmittels eingesetzt wird (Bilder 2 a bis c). Anschließend wird die sogenannte Trajektorie ermittelt, das heißt, man bestimmt die Positionen und Geschwindigkeiten aller Atome in Abhängigkeit von Temperatur und Druck (Bild 2 d). Daraus lassen sich theoretische Konformationen des eigentlichen Polymers ermitteln (Bild 2 e).

Um sie experimentell zu überprüfen beziehungsweise zu korrigieren, untersucht man die von Art und Anordnung der Moleküle abhängigen Röntgenstreuintensitäten. Aus den gemessenen Werten ist eine mittlere Polymerform berechenbar (Bild 2 f); aus dem Computermodell ergeben sich theoretische Streubilder zum Vergleich. Einerseits helfen solche Simulationen, das benutzte Kraftfeld zu verbessern; andererseits vermitteln sie den Zusammenhang zwischen dem Verhalten des Polymers in einem bestimmten Lösungsmittel und dem molekularen Aufbau.

Das nächste Beispiel illustriert die Kombination von Experiment und theoretischen Methoden auf den ersten beiden Hierarchiestufen. Es betrifft die Aufklärung der lokalen molekularen Struktur eines amorphen Polymerfestkörpers, etwa eines Joghurtbechers. Dabei entspricht die Eingrenzung "lokal" einem Bereich von nur wenigen Monomereinheiten. Die experimentelle Methode der Kernspinresonanz liefert Informationen über die molekulare Struktur in der Umgebung bestimmter Polymeratome. Durch Kombination quantenchemischer Rechnungen mit molekularer Mechanik erhält man ein lokales Strukturmodell des Festkörpers. Dazu werden zuerst energetisch günstige lokale Konformationen mit einem geeigneten Kraftfeld und deren Häufigkeit mit Hilfe einer statistischen Methode berechnet. Für die wahrscheinlichsten lassen sich quantentheoretisch die gemessenen Größen ebenfalls bestimmen und mit dem Experiment vergleichen (Bild 3).

Auch Wechselwirkungen einer Flüssigkeit oder eines Gases mit einer Festkörperoberfläche lassen sich modellieren. Beispielsweise können sich aus einer Lösung flexible, kurzkettige Moleküle an eine Oberfläche anlagern und eine Einfachschicht aus parallelen, hochgeordneten Lamellen ausbilden. Solche und andere Grenzflächen zwischen fester und flüssiger Phase sind bei vielen Phänomenen von der Reibungsreduktion bis zur molekularen Erkennung wichtig.

Auch wenn die Oberfläche nicht glatt und geschlossen ist, vermag man molekulare Prozesse zu modellieren, etwa das Eindringen von Gasmolekülen in einen porösen Festkörper. Das im Bild 4 dargestellte Modell erlaubt, die Dynamik von Gasmolekülen in einem Medium zu verfolgen, das gleichzeitig Moleküle mit dem umgebenden Gas austauschen kann.

Aus der Computersimulation lassen sich schließlich auch mechanische Kenngrößen ableiten. So sucht das Deutsche Kunststoff-Institut in Darmstadt das Dehnungsverhalten von Polymeren zu modellieren. Dazu nutzt es ein Prinzip, das an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich vorgeschlagen wurde: Man simuliert einige Kettenstränge in einem Testvolumen, das man verformt; dabei verändert sich der Energiegehalt je nach Elastizität.

Allerdings stößt man schnell an die Grenzen des Machbaren. Die große Kettenlänge der einzelnen Polymerstränge bestimmt wesentlich das Verhalten von Kunststoffen. Wird ein festes Polymer bei der Verarbeitung aufgeschmolzen, geht es nicht abrupt in den flüssigen Zustand über, sondern über ein gummielastisches Zwischenstadium, weil sich Ketten zunächst ineinander verhaken. Simulationen der Schlängelbewegung (Reptation) langer Polymerketten in diesem Zustand wurden zwar bereits durchgeführt (vergleiche auch Spektrum der Wissenschaft, Januar 1994, Seite 23); würde man dabei aber lange Kettenmodelle mit realistischen Wechselwirkungspotentialen verwenden, erhielte man selbst bei Einsatz leistungsstarker Großrechner erst nach vielen Wochen die Ergebnisse. Darum beschränken sich die meisten Forscher derzeit auf amorphe Polymerfestkörper.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1996, Seite 106
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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