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Keith Devlin:: Muster der Mathematik.Ordnungsgesetze des Geistes und der Natur.

Aus dem Amerikanischen von Immo Diener. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1998. 248 Seiten, DM 68,–.


Was ist Mathematik? Die Frage erweckt bei manchem in erster Linie unangenehme Erinnerungen an vergangene Schulzeiten. Weit verbreitet ist auch die Vorstellung, Mathematik handle von Zahlen und vom Rechnen und sei eine abgeschlossene Disziplin vom Charakter einer Hilfswissenschaft.

Keith Devlins anspruchsvolles Anliegen ist es, sowohl das Unbehagen ihr gegenüber auszuräumen als auch die oben gestellte Frage umfassend zu beantworten. Der Dekan der School of Sciences des Saint Mary College in Moraga (Kalifornien) hat mehrere Lehrbücher verfaßt und sich auch als Publizist einen Namen gemacht (vergleiche die Besprechung seines Werkes "Infos und Infone", Spektrum der Wissenschaft, November 1995, Seite 123).

Wie er im einführenden Kapitel darlegt, unterliegen die Gegenstände und Methoden der Mathematik ebenso historischer Veränderung wie die der Naturwissenschaften. Während sie in den ägyptischen und babylonischen Hochkulturen in der Tat mit Zahlenrechnen identisch war, beschäftigten sich die griechischen Mathematiker zwischen circa 500 vor und 300 nach Christus überwiegend mit Geometrie. Im weiteren Verlauf der Geschichte, vor allem ab dem 17. Jahrhundert, erschloß sich die Wissenschaft eine Reihe neuer Felder, insbesondere mit Anwendung in der sich rasch entwickelnden Physik.

Dieses Buch gibt – aus der Sicht des 20. Jahrhunderts – eine Definition des Fachs, die es Außenstehenden sicherlich näherbringen kann: "Mathematik als Wissenschaft von den Mustern". Dabei ist "Muster" eine etwas unglückliche und unter den Fachleuten keineswegs übliche Übersetzung des englischen pattern. Gemeint ist eher "Struktur", und der Übersetzer hätte gut daran getan, anstelle von Formulierungen wie "Muster einfangen" die weniger lyrische, aber klarere Übersetzung "Strukturen erfassen oder erkennen" zu wählen.

Die Kapitelüberschriften können als kurzgefaßtes Programm des Buches dienen: Zählen, Logisches Schließen und Kommunikation, Bewegung und Veränderung, Gestalt, Symmetrie und Regularität, Lage. Devlin will vermitteln, daß Mathematik sich mit Abstraktionen beschäftigt, die ihre Vorbilder in der realen und der Ideenwelt haben. Es geht darum, in verschiedenen Objekten gemeinsame patterns zu erkennen. Die Formelsprache, die so häufig mit Mathematik identifiziert wird, dient in erster Linie als Instrument, um die abstrahierten Strukturen klar beschreiben und mit ihnen umgehen zu können.

Devlin erweckt den Eindruck, die hier dargelegte Beschreibung seiner Disziplin sei die einzig mögliche, und die Fachkollegen seien sich, ebenso wie die Philosophen, einig darüber. Tatsächlich gibt es spätestens seit dem 19. Jahrhundert eine Reihe konkurrierender Ansätze zur ontologischen und epistemischen Einordnung von Mathematik als Wissenschaft. Hingegen hebt sich das Buch wohltuend von vergleichbaren Werken ab, die bei der Themenauswahl häufig den Nützlichkeitsaspekt in den Vordergrund stellen, und es gelingt dem Autor, eine ganze Menge interessanter Mathematik vorzustellen, die sonst zu kurz kommt.

Die Stärke der Darstellung liegt zum einen in der von Formalismen freien Beschreibung von Strukturen. Vorbildlich dargestellt sind beispielsweise nichteuklidische Geometrien und topologische Mannigfaltigkeiten, gut nachvollziehbar die Beziehungen zwischen mathematischen und realen Knoten sowie zwischen Symmetrien in der Natur und symmetrischen Strukturen der Mathematik, einleuchtend erläutert die Approximations- und Grenzprozesse im Zusammenhang mit dem physikalischen Begriff der Bewegung. Zum anderen ist die Auswahl der Themen gut durchdacht und vermittelt ein umfassendes Bild.

Gelegentlich tut der Autor zuviel des Guten und opfert die Verständlichkeit dem Ehrgeiz nach ohnehin unerreichbarer Vollständigkeit. Das Kapitel "Logisches Schließen und Kommunikation" ist eine tour de force durch nahezu zwei Jahrtausende, von den Aristotelischen Syllogismen über Boolesche Aussagenlogik, Russells Paradoxon und dem Satz von Gödel bis zu modernen Untersuchungen der mathematischen Linguistik.

Man muß das Buch keineswegs von der ersten bis zur letzten Seite durchlesen. Die sehr schöne graphische Gestaltung mit Abbildungen und Exkursen, die zum großen Teil auch unabhängig vom laufenden Text gelesen werden können, lädt zum Schmökern ein, und wer nach einem speziellen Thema sucht, konsultiere statt des sehr allgemein gehaltenen Inhaltsverzeichnisses das ausführliche Register.

Bisweilen vermißt man zwischen all dem faktischen Material einige persön- liche Informationen und Äußerungen zu den Menschen, die sich hauptberuflich mit der Materie beschäftigen. Auch die historischen Anmerkungen beschränken sich auf das Notwendigste und erwecken oft den Eindruck, der Autor sehe historische Begriffe lediglich als Übergangsstadien zu einem optimalen Begriffsapparat der Gegenwart.

Der Grundansatz Devlins, vor allem seine Befreiung vom Diktat der Nützlichkeit, ist neu, interessant und liefert eine überzeugende Darstellung. Das Ziel, den von ihm selbst konstatierten "Graben zwischen den Mathematikern und dem Rest der Welt" etwas zuzuschütten, ist allerdings sehr hochgesteckt, und ich fürchte, er erreicht es nur unvollkommen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1998, Seite 110
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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