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Psychologie: Mythos Unverwundbarkeit

Stimmt die These, dass Sicherheitssysteme weniger die Sicherheit erhöhen, sondern eher die Risikobereitschaft steigern? Ein Gespräch mit dem ADAC-Sicherheitsexperten und Diplom-Psychologen Franz Schibalski.


Spektrum: Die Zahl der Unfalltoten ist in den letzten zwanzig Jahren um die Hälfte zurückgegangen. Die Automobilindustrie schreibt sich das zum Großteil zugute. Zu Recht?

Schibalski: Hauptgrund dafür sind in der Tat – neben dem sehr wirksamen Rettungswesen – Sicherheitsfahrgastzelle, Gurtsystem und Airbag, die den Fahrer vor der Wucht des Aufpralls schützen. Doch diese Systeme haben mittlerweile einen hohen Grad an Perfektion erreicht. Nun suchen die Fahrzeughersteller nach neuen Möglichkeiten, die Sicherheit weiter zu verbessern, aber nicht alle dieser Neuentwicklungen erfüllen die Erwartungen. Sicherlich auch, weil offenbar die Risikobereitschaft mancher Fahrer zunimmt.

Spektrum: Gibt es Studien, die das belegen?

Schibalski: Als Ende der 70er Jahre das Antiblockiersystem eingeführt wurde, untersuchten Wissenschaftler dessen Einfluss auf das Fahrverhalten. Dabei zeigte sich, dass Berufskraftfahrer mit ABS häufiger in Unfälle verwickelt waren als eine Kontrollgruppe ohne ABS. Sie hatten den Sicherheitsgewinn durch dichteres Auffahren, höhere Geschwindigkeit und häufigeren Spurwechsel aufgebraucht. Die Verkehrspsychologen sprechen hier von einer Kompensation oder gar Überkompensation der wachsenden Sicherheit durch ein risikobereiteres Fahrverhalten.

Spektrum: Welche Systeme fördern diesen Effekt in besonderem Maße?

Schibalski: Zum Beispiel das Antischlupfsystem. Es sorgt für optimale Kraftübertragung und ermöglicht zügiges Beschleunigen auch bei schlechten Straßenverhältnissen wie Schnee oder Eis. Dem Fahrer fehlen aber dadurch Rückmeldungen über die unterschiedliche Haftung der Räder, und er ist verleitet, stärker zu beschleunigen, als ratsam ist. Auch die künftigen Assistenzsysteme bergen Gefahren. Wenn der Computer den Abstand zum Vordermann kontrolliert – ist er dann nicht schuld, wenn ich im Nebel zu dicht auffahre?

Spektrum: Lässt sich dem entgegen-wirken?

Schibalski: Zunächst sollten Hersteller aufhören, die Kompensation noch aktiv zu fördern. Werbekampagnen suggerieren doch oft Unverwundbarkeit dank Technik. Der Verband der Automobilindustrie hat deshalb den "Beobachterkreis Automobilwerbung" eingerichtet. Der interveniert, wenn in der Auto- oder Zubehörreklame die Sicherheit auf der Strecke bleibt oder fragwürdiges Verhalten dargestellt wird.

Spektrum: Müssen Sicherheitssysteme denn zwangsläufig solche negativen Effekte haben?

Schibalski: Keineswegs, wenn sie dem Fahrer frühzeitig melden, dass er nahe dran ist, sich in kritische Bereiche hinsichtlich Tempo, Abstand und so weiter zu manövrieren. Aus psychologischer Sicht sind jene Systeme die besten, die ihre Aufgaben fast unbemerkt verrichten.

Spektrum: Muss der Autofahrer den Umgang mit neuen Sicherheitssystemen nicht vielleicht erst erlernen?

Schibalski: Unbedingt, und Fahrzeughersteller sollten den Käufern Schulungen anbieten. Es gibt zwar solche Angebote, die sollen aber vor allem den Fahrspaß vergrößern. Schulungsprogramme zum richtigen Umgang mit der Sicherheitstechnik könnten vielleicht den Eindruck erwecken, das Fahrzeug sei nur schwer zu beherrschen.

Spektrum: Der ADAC bietet seit über 25 Jahren Sicherheitstrainings an. Besteht nicht auch da die Gefahr einer Überkompensation des Sicherheitsgewinns?

Schibalski: Das Risiko ist da, wenn der Fahrer meint, sein Auto besser zu beherrschen und nun schneller fahren zu können. Um dem vorzubeugen, sind die Trainer des ADAC besonders geschult und qualifiziert. Übrigens gehören solche Themen eigentlich auch in die Fahrschule. Die wenigsten üben zum Beispiel Notbremsungen.

Spektrum: Könnte der Fahrer nicht sogar den Bezug zu Fahrzeug, Straße und Geschwindigkeit ganz verlieren?

Schibalski: Auch diese Gefahr besteht. Immer bessere und teilweise aktive Sicherheitsfahrwerke, Antischlupfsysteme oder perfekte Sensorik, Elektronik, die unbemerkt wirkt – mancher Fahrer einer Limousine würde vermutlich sofort das Tempo drosseln, wenn er Fahrzeug und Straße so wahrnehmen würde, wie ein Kollege im Kleinwagen. Zu dieser Entfremdung gesellt sich dann mehr und mehr eine Überflutung des Fahrers mit ablenkenden Informationen etwa vom Navigationssystem oder Handy. Zu 95 Prozent nehmen wir das Verkehrsgeschehen mit dem Auge wahr. Dieses Sinnesorgan darf nicht mit visuellen Reizen überlastet werden.

Spektrum: Was würden Sie Fahrzeugherstellern raten?

Schibalski: Mehr nach den Auswirkungen neuer Techniken auf das Fahrverhalten zu fragen. Menschen machen Fehler und haben Schwächen. Die technische Machbarkeit darf nicht zum Maßstab werden.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 2002, Seite 90
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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