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Nachgehakt: Weltverbessern ist schwer



Kein Zweifel: Das viele Geld, das wir für unsere Gesundheit ausgeben, wird nicht sehr effizient eingesetzt. Und wenn, wie jüngst, der Zank um dieses Geld überhandnimmt, packt mich zuweilen das dringende Bedürfnis, die Welt zu verbessern. Anstelle der vielen widerstreitenden Interessen will ich nur noch ein einziges gelten lassen: das der Kunden. Genauer: der potentiellen Kunden – der Medizinbetrieb ist ja immer am schönsten, wenn man ihn nicht in Anspruch nehmen muß.

Kundeninteresse kann, wohlgemerkt, nicht heißen, daß jeder jede denkbare Behandlung bekommt. Die Medizin hat längst mehr Leistungen anzubieten, als die Gesellschaft bezahlen kann (und will); und diese Diskrepanz, Folge einer eigentlich erfreulichen Entwicklung, wird sich noch weiter verschärfen. Was also ist das wohlverstandene Interesse des Kunden? Nach welchen Kriterien sollte man eine teure Behandlung dem einen gewähren und dem anderen verweigern? Die Antwort scheint einfach und einer wissenschaftlichen Optimierung zugänglich: Man suche das größte Glück der größten Zahl.

Das ist durchaus quantitativ zu verstehen. Jeder Lebenssituation wird ein gewisser Wert beigemessen – je angenehmer die Situation, desto höher; und dann sorge ich dafür, daß die Summe über diese individuellen Glückswerte aller Menschen maximal wird. Man kann Glück nicht in Zahlen ausdrücken? Doch. Nicht für den einzelnen, aber für die ganze Gesellschaft schon. Ein paar unumstrittene Grundsätze – alle Menschen sind gleich, jeder soll nach seiner Façon selig werden – genügen für eine pragmatische Definition: Das Glück der großen Zahl ist proportional der Zeit, die jeder einzelne hat, seine persönliche Vorstellung von Glück zu verwirklichen, summiert über alle diese Individuen. Zu maximieren wäre also die Summe der Lebenszeiten – mit einem Abschlag für die Zeiten, in denen man nicht so kann, wie man will, weil es einem schlecht geht: die Summe der "qualitätsadjustierten Lebensjahre" (quality-adjusted life years, QALY).

Das ist das Maß, mit dem man heute die Kosteneffizienz medizinischer Maßnahmen einzuschätzen pflegt. Wenn man von den üblichen empirischen Unschärfen – wie hoch ist der Qualitätsabschlag anzusetzen, wieviel QALYs bringt eine bestimmte medizinische Maßnahme ein? – absieht, klingt diese Maxime sehr einleuchtend. Bei näherem Hinschauen stellt sich allerdings heraus: Das ist gar nicht das, was die Leute wollen! In der Zeitschrift "Gesundheitsökonomie und Qualitätsmanagement" (4. Jg., Heft 5, 10/1999, S. 143) stellen die Mediziner Konrad Obermann und Gisela C. Mautner mehrere Überlegungen und empirische Untersuchungen zu dieser Frage vor. So halten die meisten Menschen großen Aufwand für gerechtfertigt, um ein Kind zu retten, das in einen Brunnen gefallen ist, oder verschüttete Bergleute und Höhlenforscher. Dieselben Menschen sind aber nicht bereit, dasselbe Geld für Deckel auf Brunnen aufzuwenden, also Maßnahmen zu befürworten, die sehr viel mehr Lebensjahre sichern würden, weil sie die teure Notsituation gar nicht erst eintreten lassen.

In entsprechenden Studien blieben die Befragten auch dann bei ihrer Haltung, wenn ihnen eindringlich klargemacht wurde, daß sie damit den Tod einer unbestimmten Zahl zukünftiger Unfallopfer in Kauf nehmen würden. Das Schicksal eines konkreten Menschen liegt uns offenbar mehr am Herzen als das mehrerer namenloser Menschen, die allenfalls als statistische Größe erscheinen. Das gilt sogar, wenn wir uns selbst als Betroffene sehen: Der Gedanke, sterben zu müssen, weil die lebensrettende Operation zu wenig Lebenszeit pro DM einbringt, läßt die meisten Leute erschaudern, auch wenn sie selbst kaum je in eine solche Situation geraten dürften. Also akzeptieren die Leute, daß für dramatische Maßnahmen viel Geld ausgegeben wird, und nehmen in Kauf, mit erheblich höherer Wahrscheinlichkeit an einem Unfall oder einer Krankheit zu sterben, zu deren Verhütung das Geld dann nicht mehr gereicht hat.

Wie schwer die Abwägung von konkretem gegen statistisches Leben ist, zeigten in dramatischer Weise die Ereignisse des Herbstes 1977. Damals entschied sich die Bundesregierung, den Tod des konkreten Menschen Hanns-Martin Schleyer in Kauf zu nehmen zugunsten des Lebens unbestimmter Menschen, die sonst einem vermutlich weiter grassierenden Terrorismus zum Opfer gefallen wären – eine Entscheidung, die bitter blieb, obgleich sie weitgehend als richtig akzeptiert wurde. Andererseits: Dem konkreten Einzelfall bedingungslos Vorrang vor dem nur statistischen Schicksal zu geben führt zu absurden Konsequenzen. Niemand wird die Intensivbehandlung Schwerstkranker so ausweiten wollen, daß man die Schluckimpfung gegen Kinderlähmung nicht mehr bezahlen kann. Eine Abwägung ist geboten, und die QALYs allein können der Maßstab nicht sein. Aber was dann?

Wenn man – sich selbst und andere – genauer fragt, stellt sich eine Art von Chancengleichheit als Leitmaxime heraus. Das Leben ist ein großes Glücksspiel; ich bin bereit zu akzeptieren, daß ich schlechte Karten ziehe, aber es soll vorher wenigstens richtig gemischt werden. Ein gewisser Rest von Hoffnung soll mir bleiben. Vielleicht trifft mich ja eine Krankheit, die so teuer ist, daß jeder andere von dem Behandlungsaufwand weitaus mehr profitieren würde als ich. Mich dann einfach sterben zu lassen würden die meisten Menschen nicht übers Herz bringen, und ich bin auch ganz dankbar dafür.

Mich und alle meine Leidensgenossen zu kurieren wäre unbezahlbar. Also würde man nur einem Teil der Betroffenen die Behandlung gewähren. Aber nach welchen Kriterien trifft man die Auswahl? Wer bezahlt, wird operiert? Man behandelt alle, bis ein gewisses Jahreskontingent erschöpft ist, und wer im Oktober kommt, hat Pech gehabt? Der behandelnde Arzt entscheidet und schweigt darüber? Es wird gewürfelt, und je nach dem Ausgang des Wurfs werde ich in den Operationssaal oder ins Sterbezimmer geschoben? Diese Horrorvorstellungen können offenkundig nicht die Lösung sein. Aber bessere gibt es anscheinend auch nicht. An dieser heiklen Stelle, über die bislang noch mehr geschwiegen als geredet wird, muß sich die Gesellschaft überlegen, was sie eigentlich will. Und was das sein könnte, ist noch nicht einmal in Ansätzen sichtbar.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 2000, Seite 15
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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